Lesen I
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich erst in diesem Jahr ein Buch von Fritz Reuter (1810–1874) gelesen habe. Warum ist das eine Schande? Weil zu meinen Vorfahren Mecklenburger gehören, deren Plattdeutsch Reuter in seinen Büchern verschriftlicht hat, und die außerdem ganz in der Nähe der Festung Dömitz wohnten, wo Reuter einige Jahre seiner Haft absaß. Diese Festungshaft stellte einen Gnadenerweis dar, denn ursprünglich war Reuter als Mitglied einer Burschenschaft wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden.
Nach seiner Haftentlassung begann Reuter Mitte der 1840er Jahre zu schreiben, wurde Mitbegründer der niederdeutschen Literatur und einer der erfolgreichsten Autoren seiner Zeit. Im Niederdeutschen liegt die größte Hürde, Fritz Reuter zu lesen, da es für Unkundige nur schwer verständlich ist. Es gab zwar schon vor über 100 Jahren Übersetzungen seiner Werke ins Hochdeutsche, die mich aber, als mir eins in die Hände fiel, eher von der Lektüre abschreckten.
Vor ca. 50 Jahren hat aber ein Enthusiast, Friedrich Minssen, gemeinsam mit seiner Frau die Hauptwerke von Reuter so übersetzt, daß sie ein Lesevergnügen sind. Glücklicherweise hat der Manusciptum-Verlag die Übersetzung von Reuters Hauptwerk, erstmals 1862 erschienen, in neuer Auflage herausgebracht, die zumindest bei mir dazu geführt hat, daß ich dieses Werk mit großem Vergnügen gelesen habe.
Reuter gilt zwar heute lediglich als Humorist, und er verfügt auch über einen menschenfreundlichen Humor, aber er kann ebenso als Vorläufer der großen Realisten wie Fontane oder Raabe gelten. Der hochdeutsche Titel, Das Leben auf dem Lande, paßt daher auch viel besser zu dem Buch als der originale, Ut mine Stromtid, was übersetzt soviel wie „aus meiner Zeit als landwirtschaftlicher Eleve“ bedeutet. Reuter kannte das mecklenburgische Landleben der 1840er Jahre aus eigener Anschauung und kann die in dem Roman versammelten Typen daher mit einer Lebensnähe ausstatten, die selten sein dürfte. Die Hauptfigur ist der „Entspekter“ Bräsig, der als guter Geist die Handlung des Buches begleitet und mit allen Wassern gewaschen ist. Es geht um drei kleine Güter und die Lebensschicksale der dort lebendenden Menschen, die Reuter zu einem großartigen Roman verwebt.
Fritz Reuter: Das Leben auf dem Lande. Aus dem Plattdeutschen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Friedrich und Barbara Minssen, Lüdinghausen: Manuscriptum 2022, 875 Seiten, 24 Euro – hier bestellen.
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Lesen II
Dystopien haben oft etwas Bemühtes, weil durch Brave new world und 1984 die Latte so hoch gelegt wurde, daß es kaum jemandem gelingt, sie zu überspringen. Das gelingt auch Thomas Eisinger mit seinem Roman Hinter der Zukunft nicht ganz. Es handelt sich nicht um ganz große Literatur, aber eine unbedingt lesenswerte und unterhaltsame Anwendung des Genres auf die gegenwärtig grassierende Klimareligion.
Spätestens seit es „Klimaleugner“ gibt, wissen wir, daß wir es dabei mit einer ernsthaften Sache zu tun haben, und daß ihre Protagonisten so ziemlich alles tun, um ihren Glauben an den menschengemachten Klimawandel in den Stand einer unhinterfragbaren Wahrheit zu heben. Und natürlich gehört dazu, Ungläubige aus der Gemeinschaft auszustoßen und sie für irre oder kriminell zu erklären.
Eisinger siedelt seinen Roman in einer Zeit an, in der die Klimareligion zum verbindlichen Glauben geworden ist, der sich mit Mitteln zu schützen weiß, die jedem totalitären System eigen sind. Strom ist reglementiert, eine Art freiwilliger Bürgerwehr überwacht der Einhaltung der Klimaregeln, es gibt ein Schuldministerium, in das man bei Verfehlungen zur Buße vorgeladen wird, jeden Morgen und Abend gibt es eine Andacht, an der alle teilnehmen müssen, jeder hat ein Armband, das ihn jederzeit ortbar macht. Jeder hat ein CO2-Konto, das mit jedem Tag abnimmt. Diejenigen, die ihr Guthaben aufgebraucht haben, werden abgeholt und in Lager verbracht.
Als sein Opa eines Tages abgeholt wird, beginnen sich bei der Hauptfigur des Romans, Robin Hochwaldt, erste Zweifel zu rühren. Es handelt sich um einen „Gamer“, dessen Spiele Millionen Zuschauer im Internet verfolgen und der dadurch in die Gelegenheit kommt, auf Listenplatz eins einer neuen Partei zu landen und schließlich selbst Kanzler zu werden. Daß diese Liste die Wahlen gewinnt, ist ein Betriebsunfall, den das System möglichst rasch und subtil wieder rückgängig machen will. Aber es regt sich Widerstand auf verschiedenen Ebenen, weil die Menschen das freudlose Leben im klimaneutralen Deutschland satt haben.
Thomas Eisinger: Hinter der Zukunft. Roman, Augsburg: Thomas Eisinger 2021, 548 Seiten, 16,90 Euro (liegt mittlerweile in der 5. Auflage vor, obwohl es im Selbstverlag erschienen ist) – hier bestellen.
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Lernen
Die Lebenserinnerungen des hierzulande weitgehend unbekannten US-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss (geb. 1946) sind eine Variation des Themas der „zweiten Geburt“, die Mohler ja als Grundvoraussetzung der Rechtswerdung in einer linksdominierten Welt sah.
Geuss wundert sich, wie es ihm gelingen konnte, in einer Welt, die völlig vom Liberalismus dominiert wird, selbst nicht liberal zu werden, und macht dafür seine Schulzeit in einem katholischen Internat, seine philosophischen Lehrer und einige Lektüreerfahrungen verantwortlich. Der Grundstein wurde aber zweifellos in der Schule gelegt, einer von aus Ungarn geflohenen Priestern geleiteten Anstalt, die ihren Zöglingen nicht zuletzt aufgrund ihres Glaubens eine Distanz zum Liberalismus anerziehen wollte.
Der Plan ist bei Geuss insofern nicht aufgegangen, weil er dem Liberalismus nicht aus religiösen Gründen ablehnend gegenübersteht, sondern sich selbst als Atheisten bezeichnet. Aber dennoch ist es natürlich die Skepsis gegenüber innerweltlichen Letzterklärungen, zu denen der Liberalismus gehört, wenn er das autonome Subjekt als das Maß aller Dinge propagiert, die Geuss‘ Leben in diese Bahnen lenkte. Diese Skepsis ließ sich nur durch Lehrer erreichen, die dem Liberalismus nicht einfach ihre Wahrheit entgegensetzten, sondern die großen Wert darauf legten, die Schüler zum eigenen Denken anzuleiten. Skepsis bedeutet immer dann auch Demut, wenn sie nicht zum Selbstzweck wird, sondern als Denkanstoß fungiert.
Das Buch mag für diejenigen, der sich ein Gegenentwurf zum Liberalismus davon erhoffen, etwas enttäuschend sein. Geuss ist kein Ideologe, und auch kein Rechter. Aber er ist ein redlicher Denker, der sich auf die Kritik beschränkt, weil er die Heilslehre Liberalismus nicht durch eine neue ersetzen will. Das Buch ist damit eher eine Einladung zum Gespräch, da Geuss den argumentativen Schlagabtausch grundsätzlich ablehnt. Ein halbwegs intelligenter Mensch wird für jede Weltanschauung die passenden Argumente finden. Darum geht es aber bei der „zweiten Geburt“ nicht, sondern um die Immunität gegen innerweltliche Erlösungen.
Raymond Geuss: Nicht wie ein Liberaler denken, Berlin: Suhrkamp 2023, 267 Seiten, 28 Euro – hier bestellen.
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Schauen
Schließlich noch ein Hinweis auf ein Buch, das Geschichte anhand von Karten darstellt. Zwar hat vermutlich fast jeder den dtv-Atlas zur Weltgeschichte zu Hause oder vielleicht auch eine Ausgabe des Putzgers.
Die Geschichte der Welt von Christian Grataloup ist aber gerade dann eine sinnvolle Ergänzung. Wer also Freude an solchen Kartenwerken hat, wird hier auf seine Kosten kommen. Das Buch, das innerhalb eines Jahres sieben Auflagen erlebte, umgreift die ganze Menschheitsgeschichte, von den Vormenschenfunden und Ausbreitung des Menschen auf der Erde bis zu Chinas neuem Seidenstraßenprojekt und dem Bürgerkrieg in Syrien. Auch Zeitgeistiges ist dem Buch nicht fremd, es gibt beispielsweise eine Karte, die weltweite „Klimatische Veränderungen“ der letzten 150 Jahre zusammenfaßt.
Es liegt in der Natur des Zeitgeistes, daß dieser Darstellung keine der letzten Warmzeit gegenübergestellt wird (Hannibal scheint ja trockenen Fußes über die Alpen gekommen zu sein). Das Buch ist eine gute Mischung aus Übersichtskarten, die man schon einmal gesehen hat, wie z.B. „Europa nach dem Ersten Weltkrieg“, die der Autor aber noch durch Dinge ergänzt hat, die man auf vielen Karten nicht findet.
In dem Fall hat er auf der Karte Gebiete markiert, in denen durch „Friedensverträge“ neue Konflikte ausgebrochen waren. Neben den Übersichtskarten gibt es aber auch Detailpläne einzelner Schlachten oder von Städten, in denen sich Entscheidendes ereignete. Die Karten sind groß genug, übersichtlich gestaltet und mit kurzen Erläuterungen versehen. Wer also schon immer wissen wollte, wie die „geopolitische Lage“ im Mittelmeer des 3. Jahrhunderts vor Christus aussah, wann dort im Mittelalter die Erde bebte oder was dort im Zweiten Weltkrieg geschah, wird hier fündig.
Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, München: C.H. Beck 2022, 639 Seiten, 38 Euro – hier bestellen.