In früheren Zeiten griffen Historiker gerne zu Vergleichen aus der Biologie.
Dies tat auch der damals schon weltberühmte Arnold Toynbee, als er den erstaunlichen Aufstieg der Sowjetunion und der Türkei aus den Nachkriegswirren des Ersten Weltkriegs mit deren robuster organischer Natur erklärte: »Es war kein Zufall, daß von allen besiegten Mächten die Türkei und Rußland, die während des Krieges am schändlichsten zusammenbrachen, beide fast unmittelbar nach dem Krieg imstande waren, wiederum einen Krieg zu führen. Ein niederer Organismus ist untüchtiger, aber man kann ihn nicht so leicht wie einen höheren überwältigen oder töten.«
Über den analytischen Wert solcher Analogien, deren bekanntester Ausdruck Oswald Spenglers biologisch inspirierte Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte geworden sind, läßt sich streiten. Sie sind dann ja in späteren Jahrzehnten auch aus der Mode gekommen. Unbestreitbar tat sich jedoch in beiden genannten Staatsgebilden nach 1918 jeweils eine völlig neue Welt auf, mit deren Widerstandskraft das im Weltkrieg gegen filigranere Organismen gerade siegreich gewesene westliche Lager überhaupt nicht gerechnet hatte.
Sowohl das revolutionäre Rußland als auch das zusammengebrochene türkisch-osmanische Reich waren eigentlich zur Übernahme, Verteilung und Ausbeutung durch westliche Staaten und Firmen vorgesehen. Diese Pläne zerschlugen sich.
»Schändlich« oder nicht, in der Tat schied die Türkei als erster bedeutender deutscher Verbündeter aus dem Weltkrieg aus. Sie bekam einen Waffenstillstandsvertrag mit den Alliierten bereits am 30. Oktober 1918 aufgenötigt und zog den entsprechenden deutschen und österreichischen Schritt also einige Tage vor. Die Bedingungen gerieten auch hier dramatisch. Schließlich hatten die Alliierten das osmanische Staatsgebiet bereits während des Krieges umfassend unter sich aufgeteilt und teils mehrfach auch anderen versprochen.
Der bekannteste Fall ist sicher Palästina, das man sowohl als »jüdische Heimstatt« als auch als Teil eines arabischen Staates vergeben hatte. Der heutige Irak ging im wesentlichen an Großbritannien, Syrien an Frankreich, die osmanischen Teile der arabischen Halbinsel nebst den heiligen Stätten in Mekka an das heutige Saudi-Arabien. Auch Italien wurde nicht vergessen, dessen Kriegseintritt 1915 nicht nur mit dem Versprechen auf Südtirol und die kroatische Küste, sondern auch auf einen nicht näher präzisierten, aber »gerechten Anteil an dem Mittelmeergebiet, das an Antalya grenzt«, gekauft worden war. Die Hauptstadt Konstantinopel/Istanbul hatte eigentlich das zaristische Rußland für sich reklamiert, nun zogen westliche Truppen dort ein. Zur Durchsetzung dieser Forderungen wurde die Türkei umfassend besetzt.
Niederlage wie Aufteilung und Demütigung lösten zusammen in der Türkei einen rasant verlaufenden Prozeß der Nationsbildung aus. Das alte Osmanische Reich hatte sich als islamischer Vielvölkerstaat und Wächter von Mekka verstanden, dessen Staatsoberhaupt beim Kriegseintritt 1914 noch die islamische Welt zum »Djihad« gegen den Westen aufgerufen hatte. Die erhoffte islamische Bindewirkung fiel jedoch schwach aus.
Am Ende beteiligten sich die jahrhundertelang von Konstantinopel aus beherrschten Araber in großer Zahl am Aufstand gegen die Türken. Daher schienen sich der Islam und die Herrschaft über die damals wirtschaftlich rückständigen arabischen Gebiete als anachronistisch erwiesen zu haben. Es brach sich Bahn, was als »Jungtürkentum« bereits seit Jahren politisch aktiv gewesen war: ein säkularer und türkischer Nationalismus.
Auf die Besetzung Istanbuls und die Auflösung des dortigen osmanischen Parlaments durch die Westmächte reagierte Mustafa Kemal, die Leitfigur dieses türkischen Nationalismus, mit der Eröffnung eines eigenen Parlaments in Ankara im April 1920. Als dessen Parlamentspräsident und Regierungschef tat er Anfang Juni 1920 den entscheidenden Schritt: Er erklärte alle Verträge des Osmanischen Reiches mit dem Westen für ungültig. Diesen Schritt hatten in der Tat auch die Sowjets nach der Oktoberrevolution vollzogen, und aus Moskau nun kamen 1920 wichtige Waffenlieferungen, um die neuformierte türkische Armee auszustatten.
Da andere Verbündete vorläufig nicht in Sicht waren, erklärte sich Kemal Pascha zum Gefolgsmann Lenins und schrieb ihm im April 1920: »Wir verpflichten uns, unsere ganze Arbeit und alle unsere militärischen Operationen mit den russischen Bolschewiki zu verbinden, deren Ziel es ist, die imperialistischen Regierungen zu bekämpfen und alle Unterdrückten von ihrer Herrschaft zu befreien.«
Allerdings dauerte dieser Flirt mit dem Bolschewismus nicht lange und blieb oberflächlich. Kemal Paschas türkische Revolution richtete sich auf nationale und säkulare Ziele, nicht auf kommunistische. Im November 1922 schaffte er das Sultanat offiziell ab, ab September 1923 gab es in der Türkei eine Einheitspartei, im Oktober 1923 wurde die türkische Republik ausgerufen und im März 1924 dem Kalifat auch formell entsagt, also dem türkischen Anspruch auf Führung der islamischen Welt.
Dies ging einher mit wenig schmeichelhaften Äußerungen Mustafa Kemals über den Islam und dessen Rückständigkeit im allgemeinen. Jene wurde in der türkischen Republik auf allen Ebenen bekämpft, mit gegen die Scharia gerichteten Justizreformen ebenso wie mit Maßnahmen zur Erweiterung der Frauenrechte, der Einführung der christlich-westlichen Zeitrechnung und der lateinischen Schrift. Ab 1925 belegte eine Bekleidungsreform traditionell islamische Kleidung und Kopfbedeckungen umfassend mit Verboten.
Unterdessen konnten die Konflikte mit den westlichen Eroberungsansprüchen weitergeführt werden. Die Folgen trafen vor allem die griechischen und armenischen Nachbarvölker, die sich mit westlicher Hilfe größere Teile von Kleinasien sichern wollten. Sie wurden zum Spielball von internationalen Kompromissen, die sich nach und nach abzeichneten. Auch die Westmächte wollten keine größeren Kriege mehr führen, um Ansprüche in der Türkei durchzusetzen. Die kleinasiatischen Griechen wurden Opfer einer auch von Großbritannien ausgehandelten ethnischen Säuberung, bei der andererseits etwa eine halbe Million Türken von den griechischen Inseln vertrieben wurde. In diesem Zusammenhang soll Kemal den vielzitierten Spruch »Türkiye Türklerindir« geprägt haben, »die Türkei den Türken«.
Im politischen Rom erkannte man, daß der »gerechte Anteil« an Antalya nicht durchzusetzen sein würde, und fühlte sich noch ein Stück mehr um die Früchte des Kriegseintritts von 1915 betrogen. Andererseits begrenzte der antiimperialistisch-nationalistische Grundzug der neuen Türkei auch deren Gebietsansprüche, was nun wiederum einem Kompromiß mit Frankreich und Großbritannien zugute kam.
Deren frisch erworbenen Rechte über jene Gebiete, aus denen sie damals »Mandate« des Völkerbundes herausschnitten, die zuerst faktisch Kolonien waren und später die heutigen Staaten des Nahen Ostens wie Syrien und der Irak wurden, erkannte die türkische Seite schließlich an. Man hatte sich in Ankara zur Aufgabe der arabischen Ländereien entschlossen und hielt daran fest, verzichtete zugleich auf jedwede Rechte in Afrika und auf den Mittelmeerinseln.
An einem Punkt kam es noch einmal zu Konflikten, denn die Türkei verstand sich auch damals weiterhin als der Souverän über die »Bergtürken«, wie die Kurden in Ankara bezeichnet wurden. Konsequenterweise versuchte man die Herrschaft über den nördlichen Teil des heutigen Irak und die sonstigen, südlich der heutigen türkischen Grenze liegenden Kurdengebiete durchzusetzen. Das mißlang, wurde aber erst nach weiteren militärischen Auseinandersetzungen im Jahr 1926 durch einen Dreivertrag zwischen dem britischen Mandatsgebiet Irak, Großbritannien selbst und eben der Türkei geregelt, der die heutigen Grenzen festschrieb.
Überhaupt erwiesen sich die mit der Türkei nach deren national-säkularer Wiedergeburt schließlich getroffenen Regelungen mit als die dauerhaftesten der Nachkriegszeit. Der Grund: Sie waren aus einem Verhandlungsprozeß auf Augenhöhe entstanden, was sie von den Pariser Friedensverträgen des Jahres 1919 in Versailles oder St. Germain unterschied. Dort zerlegten die Sieger Deutschland und Österreich-Ungarn per Diktat. Besonders die Berliner Regierung beging mit der anerkennenden Unterschrift in Versailles einen nie wieder zu korrigierenden Fehler, der auch gleich das Schicksal der »Weimarer« Republik entschied.
Die neue deutsche Republik hatte in der entscheidenden Stunde versagt, die neue türkische Republik stellte die Nation in dieser Stunde wieder her. Vor hundert Jahren wurde sie im Oktober 1923 ausgerufen. Ob der Unterschied in der Hochentwicklung des deutschen Organismus begründet lag, soll an dieser Stelle nicht entschieden werden.