Diesseits der Mauer

PDF der Druckfassung aus Sezession 115/ August 2023

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Der Osten bleibt nicht nur im Gespräch, er bestimmt die Poli­tik – gera­de dar­über, daß die AfD dort in aktu­el­ler Wäh­ler­um­fra­ge auf 32 Pro­zent kommt, eine mehr als dop­pelt so hohe Zustim­mung wie im Westen.

Mit­tel­bar hat das Ursa­chen, die in der Ver­gan­gen­heit und mit­hin im Selbst­bild der Ost­deut­schen lie­gen. Ganz offen­bar ist man hier nicht nur weni­ger zufrie­den damit, wie es ins­be­son­de­re migra­ti­ons­po­li­tisch läuft, man wird über­haupt selbst­be­wuß­ter, indem man die eige­ne Iden­ti­tät offen­si­ver ver­tritt. Daher die Reso­nanz auf die neu­en Geschichtsbestseller.

Nach Dirk Osch­manns pole­misch dis­ku­tier­tem Der Osten: eine west­deut­sche Erfin­dung (Ber­lin: Ull­stein 2023) nun das Werk der jun­gen, in Thü­rin­gen gebo­re­nen und in Eng­land leh­ren­den His­to­ri­ke­rin Kat­ja Hoyer, rück­über­setzt aus dem Eng­li­schen: Dies­seits der Mau­er. Eine neue Geschich­te der DDR (Ham­burg: Hoff­mann und Cam­pe 2023).

Die DDR-frus­trier­te Ines Gei­pel for­mu­lier­te gegen­über bei­den den Vor­wurf, »ein ost­deut­scher Kriegs­en­kel und eine ost­deut­sche Kriegs­urenkelin, mit glo­ba­lem Bil­dungs­pro­gramm und ent­spre­chend welt­läu­fi­gem Voka­bu­lar aus­ge­stat­tet, set­zen auf Umschrei­bung, Mythen­bil­dung und Selb­stau­ra­ti­sie­rung, um der im Osten ver­blie­be­nen Groß­el­tern- und Eltern­ge­nera­ti­on ein Dreh­buch zu offe­rie­ren, das die schmerz­haf­te Erin­ne­rung der Nie­der­la­ge über­win­den hilft«.

Mat­thi­as Jüg­ler, der Kat­ja Hoyer unter­stellt, sie wol­le »die dunk­len Sei­ten der DDR zuguns­ten von Grill­fei­ern und aus­ge­las­se­nen Urlaubs­rei­sen ver­de­cken«, zog nach und attes­tier­te all­ge­mein »den Wunsch nach Selbst­er­mäch­ti­gung, nach Befrei­ung aus dem west­deutsch gepräg­ten Nar­ra­tiv«, ver­är­gert dar­über, »daß ein beschö­ni­gen­des Buch wie das von Kat­ja Hoyer gera­de so gefragt ist.«

Kat­ja Hoyer beschö­nigt gar nichts. Im Gegen­teil, sie beschreibt ein­drucks­voll, aus wel­chem his­to­ri­schen Hor­ror die DDR ent­stand – im Ergeb­nis einer »Befrei­ung«, die nicht zuerst als Chan­ce, son­dern viel­mehr als Rache, Raub und Ver­ge­wal­ti­gung wahr­ge­nom­men wur­de. Den Neu­be­ginn präg­te die von den Sowjets ein­ge­flo­ge­ne »Grup­pe Ulb­richt«, kom­mu­nis­ti­sche Exi­lan­ten, die den Alp­traum sta­li­nis­ti­scher Säu­be­run­gen über­stan­den, weil sie sich als ange­paßt stal­in­hö­rig erwie­sen hatten.

Hoyer ver­mag zu zei­gen, wie sich das geschun­de­ne und an Res­sour­cen knap­pe Ost­deutsch­land, aus­ge­plün­dert von Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen an die sowje­ti­schen Sie­ger, kraft der Leis­tung sei­ner Men­schen zu behaup­ten ver­moch­te. Fünf­und­zwan­zig Pro­zent die­ser Ost­deut­schen waren Flücht­lin­ge aus den Ost­ge­bie­ten, star­te­ten also mit nichts. Man darf dar­über stau­nen, daß in der SBZ und der dar­aus erwach­sen­den DDR über­haupt etwas ent­stand – trotz der neu­er­li­chen Ideo­lo­gi­sie­rung und der Enge der Plan­wirt­schaft. Das wird eine Kon­stan­te der DDR-Geschich­te blei­ben: Was über­haupt glück­te, das gelang nicht wegen, son­dern trotz des Sys­tems. Aber viel­fach mit Enthusiasmus.

Und wenn am Ende die Kräf­te nicht reich­ten und das Land unter­ging, nicht nur im revo­lu­tio­nä­ren Akt der Wen­de, son­dern auch resi­gnie­rend, dann darf man das tra­gisch fin­den, weil sich nicht weni­ge für die­ses schwie­ri­ge Land auf­ge­op­fert hat­ten. Wäh­rend sich die Bun­des­re­pu­blik nie der Häme dem sozia­lis­ti­schen Expe­ri­ment gegen­über zu ent­hal­ten ver­moch­te und damit am Ende fata­ler­wei­se von der Geschich­te recht bekam.

Es schmerzt nun mal, wenn sich das geschaf­fe­ne Eige­ne trotz aller Mühe als geschei­ter­tes Pro­vi­so­ri­um erweist, und es ist legi­tim, der Nie­der­ge­schla­gen­heit Aus­druck zu geben – nicht sen­ti­men­tal und ost­al­gisch, son­dern indem umfas­sen­de­re Zusam­men­hän­ge auf­ge­zeigt wer­den, als es eine Sie­ger­ge­schichts­schrei­bung nach dem Bei­tritt 1990 zuge­las­sen hatte.

All­zu pau­schal bestand eine offi­zi­el­le Grund­wahr­neh­mung dar­in, im Wes­ten leb­ten die genui­nen Demo­kra­ten, die sich ihren Wohl­stand mit der Malo­che in den Fünf­zi­gern und Sech­zi­gern erar­bei­tet hat­ten, im Osten aber wurs­tel­te eine dege­ne­rier­te Abart davon, zur Demo­kra­tie eben­so unbe­fä­higt wie zur Wirt­schafts­leis­tung. Nur war die­ser »Ossi« eben nicht non­kau­sal ent­stan­den; er hat­te sei­ne Geschich­te und leb­te in Umstän­den, deren Grün­de his­to­risch genau auf­ge­zeigt wer­den müs­sen, damit qua­li­fi­ziert geur­teilt wer­den kann.

Das gelingt Kat­ja Hoyer mit hoher Genau­ig­keit: Sie schreibt kennt­nis­reich, spart Ver­bre­chen und Schuld nicht aus, ver­steht aber, auf Stär­ken und Erfol­ge auf­merk­sam zu machen, die es so nur in der DDR geben konn­te, meist gegen das Regime, mit­un­ter jedoch sogar mit oder wegen der SED-Herr­schaft. Daß sie immer­fort exem­pla­ri­sche Ein­zel­schick­sa­le ein­blen­det, durch­aus im Ver­fah­ren einer guten Doku-Soap, sorgt für Authen­ti­zi­tät wie für lite­ra­ri­schen Unterhaltungswert.

Die jun­ge DDR wur­de nicht mal von der Sie­ger­macht im Osten akzep­tiert: »Unter den Län­dern des Ost­blocks war die DDR inso­fern ein­zig­ar­tig, als ihre Exis­tenz nie gesi­chert war. Ulb­richt, Miel­ke und ihre Weg­ge­fähr­ten muß­ten ihren Staat nicht nur gegen den Wes­ten ver­tei­di­gen, son­dern auch gegen Sta­lin, der es immer noch vor­ge­zo­gen hät­te, ihn in ein ver­ein­tes, neu­tra­les Deutsch­land inte­griert zu sehen.«

Je mehr sich die BRD dem Wes­ten zuwand­te und der Kal­te Krieg die feind­li­chen Blö­cke gene­rier­te, wur­de die DDR von der Sowjet­uni­on als Vor­pos­ten in der Kon­fron­ta­ti­on genutzt so wie ande­rer­seits die BRD, was zwi­schen bei­den eine Feind­schaft beding­te, die ab 1990 ver­drängt wur­de. Als Hon­ecker, nicht zuletzt wirt­schaft­li­cher Pro­ble­me wegen, den Aus­gleich mit dem ande­ren Deutsch­land such­te, plan­te Mos­kau, ihn abzusetzen.

Wes­halb aber kei­ne Demo­kra­tie und kaum Frei­hei­ten? Hoyer meint, die Erfah­run­gen der ers­ten Hälf­te des Jahr­hun­derts brach­ten die Men­schen dazu, »Sta­bi­li­tät und Ein­heit über eine plu­ra­lis­ti­sche Dis­kus­si­on zu stel­len. […] Im Jahr 1949 hat­te ein Deut­scher mitt­le­ren Alters in sei­nem Leben das gesam­te Spek­trum poli­ti­scher Sys­te­me mit­er­lebt, aber kei­nes hat­te eine funk­tio­nie­ren­de Demo­kra­tie gebo­ten. Woher soll­te die Lie­be zum Wäh­len, zu den Bür­ger­rech­ten und zu einer plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft also kommen?«

Selbst die Errich­tung der Mau­er, sonst als das Sym­bol der Unmensch­lich­keit prä­sen­tiert, faßt die Autorin mit sehr gewag­tem Rea­lis­mus auf: »Ken­ne­dy, Chruscht­schow, Ade­nau­er und Ulb­richt waren glei­cher­ma­ßen erleich­tert, daß die gefähr­li­che Woge der Feind­se­lig­keit im Kal­ten Krieg nun einen Wel­len­bre­cher in Ber­lin gefun­den hat­te. […] Mit der Zemen­tie­rung der ideo­lo­gi­schen Kluft setz­te eine Pha­se der Ruhe ein.« Und der rela­ti­ven Erfol­ge, da die Abwan­de­rung von Leis­tungs­trä­gern gestoppt war.

Zwar würg­te Hon­ecker – im per­sön­li­chen Ein­ver­neh­men mit Bre­sch­new – die hoff­nungs­vol­le Pha­se eines Markt­ele­men­te ein­be­zie­hen­den »neu­en öko­no­mi­schen Sys­tems« Ulb­richts ab und schränk­te eine ver­hal­te­ne Libe­ra­li­sie­rung in All­tag und Kul­tur wie­der ein, aber die spür­ba­ren mate­ri­el­len Ver­bes­se­run­gen seit den spä­ten Sech­zi­gern sorg­ten – eben­so wie indus­tri­el­le und wis­sen­schaft­li­che Erfol­ge – den­noch für eine Iden­ti­fi­zie­rung der meis­ten mit ihrem »sozia­lis­ti­schen Vaterland«.

Klar, Miel­kes Sta­si behielt arg­wöh­nisch alles im Blick. Ande­rer­seits ermög­lich­te das effi­zi­en­te Bil­dungs­sys­tem einen bei­spiel­lo­sen sozia­len Auf­wärts­trend. Die Schu­le indok­tri­nier­te die Kin­der, aber das TV-»Sandmännchen« brach­te sie gut ins Bett. Ideo­lo­gie ermög­licht nicht zuletzt Sinn­ge­bung – in zwei­er­lei Hin­sicht, einer­seits im Bekennt­nis dazu, ande­rer­seits mit alter­na­ti­ven und sub­kul­tu­rel­len Lebens­ent­wür­fen dagegen.

Die Autorin zeigt zum einen den spe­zi­fi­schen DDR-All­tag in sei­ner eigen­wil­li­gen Leben­dig­keit, zum ande­ren offen­bart sie so ana­ly­tisch wie epi­so­disch, wel­che poli­ti­schen Macht­kämp­fe im Hin­ter­grund aus­ge­foch­ten wur­den. Die bru­ta­le Kalt­stel­lung Ulb­richts, von Hon­ecker im kon­spi­ra­ti­ven Kom­plott mit der Sowjet­füh­rung voll­zo­gen, hat das For­mat eines Shake­speare­schen Dramas.

Erheb­li­cher noch als die Bun­des­re­pu­blik waren die Geschi­cke der DDR von außen­wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen abhän­gig. Solan­ge die UdSSR bil­li­ges Öl lie­fer­te, ging es berg­auf, zumal die DDR den Roh­stoff in Raf­fi­ne­rien auf­be­rei­te­te und dann selbst expor­tier­te. Das mach­te 28 Pro­zent ihrer West­ex­por­te aus. Als die Sowjet­uni­on 1981 die Lie­fe­run­gen redu­zier­te, war das der Anfang vom Ende – und der Beweis dafür, daß von »brü­der­li­chen Bezie­hun­gen« nie die Rede sein konn­te. Hon­ecker schrieb: »Ich bit­te dich, den Genos­sen Bre­sch­new zu fra­gen, ob es zwei Mil­lio­nen Ton­nen Erd­öl wert sind, die DDR zu destabilisieren.«

Kat­ja Hoyer schreibt unter­halt­sam, ohne zu roman­ti­sie­ren – zur lan­des­ei­ge­nen Jeans­her­stel­lung etwa, die einen Mar­ken­streit mit dem US-Unter­neh­men Levi Strauss aus­lös­te, oder wie die DDR, um ihren Man­gel an dem devi­sen­las­ti­gen Getränk end­lich zu behe­ben, Viet­nam zu einem Land des Kaf­fee­an­baus ent­wi­ckel­te. Und natür­lich Kata­ri­na Witt als ster­ben­de Car­men auf dem Olym­pia-Eis von Cal­ga­ry 1988 – kurz vorm Ende. Die von Hon­ecker per­so­ni­fi­zier­te Klein­ka­riert­heit stand eben­so für die DDR wie ande­rer­seits der zeit­wei­li­ge Anschein, doch für ein neu­es, jun­ges Deutsch­land zu ste­hen – so erleb­bar etwa bei den X. Welt­fest­spie­len der Jugend und Stu­den­ten in Ost-Ber­lin 1973.

Wie die Sieb­zi­ger trotz Bier­mann-Affä­re die Anmu­tung des Auf­bruchs ver­mit­tel­ten, stan­den die Acht­zi­ger für depri­mie­ren­de Sta­gna­ti­on und den Nie­der­gang. Ent­schei­den­des war sys­te­misch ver­schul­det, aber so wie die Grün­dung des Lan­des von außen ver­an­laßt wor­den war, war auch der Unter­gang nicht pri­mär von der DDR selbst ver­ur­sacht. Von kon­kre­ter Schuld im ein­zel­nen spricht das kei­nen ihrer Akteu­re frei.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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