Und dann zum zweiten, um des Lesers willen festzulegen, was geschehen ist. Diese Feststellung geht auf Goethe zurück, aber sie hat natürlich nichts an Aktualität verloren. Aus der Fülle an bekannten Ereignissen muß jeder Historiker eine nach seinen Prämissen komprimierte Geschichte erkennbar werden lassen. Oder er bleibt nur der Sammler von Daten, die dann herumliegen, bis ein vollständig arbeitender Historiker sie aufgreift.
Der bekannte und vielgelesene Historikerkollege Antony Beevor interpretiert die russische Geschichte der Jahre 1917 bis 1921 als unkontrollierte Gewaltexplosion, während der sich keine besondere und für den Historiker beschreibbare Struktur ergeben hat. So herrscht in seiner Darstellung denn vor allem brutales Chaos. Es wird auf fast jeder Seite erschossen, hingerichtet, ertränkt, erhängt, verlustreich gekämpft, ermordet, erfroren, verhungert, an Vernachlässigung gestorben und was sonst noch an Todesursachen vorkommen kann. Dies alles jeweils in großem Umfang. Unzählige Personen tauchen auf, werden kurz nach Aussehen und Charakter beschrieben und dann abgehakt. Ein paar Seiten später sind sie meistens tot. Auftretende Prominente mit längerer Überlebensdauer bekommen manchmal durchaus originelle Attribute verpaßt. Aus Leo Trotzki wird zum Beispiel eine »geborene Rampensau«.
Auch die politischen und militärischen Konstellationen während des Bürgerkrieges wechseln häufig. Es kämpft nicht nur Rot gegen Weiß, unter Beteiligung britischer und japanischer Kontingente. Beteiligt sind auch die tschechischen und polnischen Legionen in Sibirien, die Nationalitäten im Ostseeraum und im Kaukasus. Kosakeneinheiten finden sich auf allen Seiten und als einzelne Truppenteile von mehreren tausend Mann in rasch wechselnder Zusammensetzung und unter mehr oder weniger charismatischen Offizieren. Bei denen ist dann oft nicht klar, ob und auf welcher Seite sie an welchem Tag kämpfen, oder ob der Zweck der Sache für sie vor allem die persönliche Bereicherung gewesen ist. Alle Seiten geben im übrigen ihrer Judenfeindlichkeit immer wieder freien Lauf. Beevor schildert zahlreiche Pogrome und Hinrichtungen.
Als weiterer Umstand herrscht bei Beevor auch auf allen Seiten die Ungewißheit vor. Nachrichten scheinen sich im revolutionären Rußland nur äußerst langsam herumgesprochen zu haben. Es ist den Akteuren oft nicht bekannt, wo der Gegner gerade steht, weder von seiner Gesinnung noch von seinem Aufenthaltsort her. Politische Hintergrundgeschichte streift Beevor dabei nur. Den finanziellen Beitrag des Deutschen Kaiserreichs zur Oktoberrevolution von 1917 erwähnt er kurz, den Beitrag amerikanischer Finanzquellen zur Karriere von Leo Trotzki nicht.
Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs handelt er auf kaum einer Seite ab. Sinngemäß ist für ihn der russische Außenminister Sasonow wesentlich verantwortlich. Der sei über die schlechte Behandlung Rußlands durch Österreich und Deutschland im Ersten Balkankrieg empört gewesen. Daher habe er nach dem Attentat von Sarajewo 1914 die russische Armee in den Kriegszustand versetzen lassen und den Zaren zur Mobilmachung überredet. Den Restbeitrag hätten die Deutschen geleistet, als sie dann die gegenüber Serbien kriegslustigen Österreicher nicht genügend aufgehalten hätten.
Der Verlag preist das Buch als »beklemmend aktuell« und zitiert im Klappentext Rezensionen, die von »einer schmerzlichen Lektion für die Gegenwart« sprechen. Antony Beevor erhebt diesen Anspruch im Buch nicht. Es ist auch nicht zu sehen, worin eine Lektion aus diesen damaligen russischen Zuständen zu sehen wäre. Dazu bleibt die Darstellung zu anekdotisch. Vielleicht könnte man aus dem zweimaligen Zusammenbruch der russisch-sowjetrussischen Macht in den Jahren 1917/18 und 1989/91 nebst jeweils folgendem Chaos und ebenfalls schnell folgendem machtpolitischen Wiederaufstieg auf deren Zähigkeit schließen. Aber dies ist nichts, was Beevor tatsächlich anbietet, und sei es nur »um des Lesers willen«.
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Antony Beevor: Rußland. Revolution und Bürgerkrieg 1917 – 1921, München: C. Bertelsmann 2023. 672 S., 40 €
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