Für Millionen Leute ist „Aufräumen“ offenkundig eine Sache, der man Beachtung schenken muß. Vor einem Vierteljahrhundert boomten die „Simplify-your-Life“-Ratgeber mit vielfältigen Entschlackungs-Tips, und in den letzten Jahren haben sich die Ordnungs-Bestseller der jungen Japanerin Marie Kondo millionenfach verkauft. Im angelsächsischen Sprachraum ist das Verb „to kondo“ (=ausmisten) bereits etabliert.
Möglicherweise ist der Traum der „Kondoer“ diese stereotypisch weiß möblierte Wohnung mit drei prächtigen Zimmerpflanzen; sehr glatt, sehr transparent, überaus hygienisch – nichts steht herum, keinesfalls sind da Kinderspielzeuge und dreckige Lätzchen, nicht mal unordentliche Bücherstapel mit Kaffeeflecken oder gar ein Aschenbecher – allenfalls liegt eine gepflegte Katze auf einer graumelierten Mohairdecke.
Das ist keine Utopie. Ich kenne Leute, die wirklich genauso leben. Ich will das nicht werten. Es ist sauber, und was meine innere Küchenpsychologin dazu sagt, ist wirklich irrelevant
Ich bin hingegen lange Zeit „Horterin“ gewesen; erstens aus ökologischer Überzeugung, zweitens aus sentimentalen, drittens aus erblichen Gründen.
Natürlich haben meine Kinder hintereinander alles „aufgetragen“. (Ja, sie tun es bis heute. Tochter, 13, geht gerade in einer Jeans, die mir anno 1993 geschenkt wurde. Mit Schlag. Hübsch!) Sparsamkeit spielt dabei eine Nebenrolle. Für mich gab und gibt es keinen Grund, Anziehsachen, die noch intakt sind, wegzuwerfen. Das „Einkaufen-nach Saison“, das in meiner Kindheit noch praktiziert wurde (Stichwort „Sommerschlußverkauf“), fand bei uns nie statt.
Und: Keinesfalls möchte ich von den ausbeuterischen Nähbetrieben in Kambodscha, Indien und Bangladesch profitieren. Als ich eine große Tochter neulich ertappte, mehrfach beim chinesischen Billigheimer „Shein“ bestellt zu haben, rasselte es im Getriebe…
Nutzbares zum Müll zu geben ist für mich bis heute eine Sünde! Moden interessierten mich nie (Stil schon). In früheren Jahren wurde ich (weil mein Hang bekannt war) geradezu zugebombt mit ollen Kinderklamotten aus der Nachbarschaft.
Herzhaft sortierte ich den Schund mit Aufdruck („Chicago 1964 Universe Corpse ultimate“ et. al) aus, alles andere wurde getragen; mit Mitleid und besonderer Liebe auch das Selbstgestrickte.
Meine Enkel tragen nun meine Strampler! 70er-Jahre-Look in orange! Was für ein Zeitraum! Wie romantisch ist das!
Ich selbst trage gerade diverse Schuhe meiner vor 14 Monaten verstorbenen Mutter auf. Nein, nicht beim „Ausgehen“, aber im Alltag. Ich begreife es auch als gedankliche Lektion im Sinne eines „Try to walk in my shoes“. Meine Mutter war so anders als ich es bin. Genau das hat sie immer geschmerzt.
Sie kam mit meiner Unverzagtheit nicht gut klar, sie sah eher das Aussichtslose: Aussiedlerschicksal, früh verwaist, das erste eigene Kind gestorben, sie: „nur geschuftet“. Ihre neun Paar Schuhe werde ich tragen, bis sie zerfallen. Nein, man müßte es sich nicht so kompliziert machen. Ich mache es aber gern, ich mag diese Übung.
Meine Mutter, als Kriegskind, war natürlich vom Stamme „Horter“. Nimm, was Du kriegen kannst! Butter bei REWE im Sonderangebot – nimm gleich zehn, friere acht davon ein! (Ersparnis: ein paar Pfennig.)
Natürlich habe ich dieses Horter-Gen geerbt. Ich besitze beispielsweise Schlittschuhe für ungezählte Enkel. Und Schwimmhilfen. Und natürlich Hunderte Bücher. Nur: Manchmal beneide ich Leute, die in einer Dreiraum-Mietwohnung leben. Die müssen ja radikal umgehen mit solchen Sentimentalitäten! Die müssen weghauen, was gerade nicht benötigt wird. Das ist auch eine Erleichterung.
Ich hingegen verfüge über vierzehn Zimmer und einen geräumigen Dachboden. Was sich da ansammelt! Lange Zeit habe ich angehäuft, was sich aus den Verstorbenen-Haushalten im Umfeld so anbot. Weder ich noch eines meiner Kinder wird je Bettwäsche, Handtücher, Pfannen und Töpfe einkaufen müssen. Auch keine Koffer, keine Tupperwaren, keine Radios und keine Armbanduhren. Es ist alles in Hülle und Fülle vorhanden!
Ich bin mittlerweile aber von der Horterin zur Ausmisterin geworden. Auch, weil ich nun x‑fach gesehen habe, was es bedeutet, einen Haushalt aufzulösen. Nämlich – ein bitteres Erbe für die Hinterbliebenen.
Zu Corona-Maßnahmen-Zeiten ging es los bei mir, das große Ausmisten. Die Zeit stand still, und meine „Challenge“ war, 50 Dinge pro Tag auszumisten. Ein 300-Teile-Puzzle, bei dem 11 Stücke fehlten, zählte dabei als nur e i n Ding. Seit „Corona“ hat unser Haus sicherlich etliche Zentner Gewicht verloren.
In den Müll flogen nämlich auch Bücher. Bitte? Bücher? Ja! Wir sollten das Schwergewicht gesammelten Wissens nicht überschätzen. Es sind ganz wenige Exemplare, die heute noch etwas wert sind. Die meiste (wenn auch kluge) Tendenzliteratur aus den Nullerjahren nimmt der Zweitverwerter (Momox et. al.) nicht mal zum Weiterverkauf an!
Alte Leute, die sich auf den Aufbau einer gelehrten Bibliothek etwas einbilden, dürften hier Tränen weinen. Es ist aber leider so: Das kluge Zeug hat keinen Wert. Im Zweifelsfall fängt man sich diese neumodischen Papierfischchen ein. Aus diesem Grund nehmen wir auch keinerlei Bücherspenden mehr an. Nein, danke!
In den letzten Jahren war ich mit etlichen Todesfällen konfrontiert. Wer will diese Schrankwand, damals nicht ganz billig? Diese sicherlich wertvolle Steinsammlung? Den Glastisch, Originalpreis 590 DM? Diese sicherlich zu Geld zu machende Sammlung an Geweihen? Dieses Konvolut an Parfümen? Diesen Brockhaus von anno dazumal? Diese vierundzwanzig Spannbettbezüge? Die Koffersammlung, teils unbenutzt? 35 Herrenhemden, meist ungetragen? Drei Paar Hausschuhe, unausgepackt? CD-Sammlung, 140teilig, von Karel Gott über Roland Kaiser bis Kelly Family? Armbanduhren, die nur einmal dem Uhrmacher vorgestellt werden müßten? Siebenundvierzig Tennispokale? Briefwechsel, die eminent rührend sind, aber doch nebensächlich für die zeitgeschichtliche Forschung?
Ich bin noch nicht wirklich alt. Aber seit „Corona“ hab ich so heftig ausgemistet, daß sich meine Erben ganz gut zurechtfinden können, ohne über Matratzen aus dem letzten Jahrtausend zu stolpern. Ich werde irgendwann recht schlank aus dieser Welt gehen.
Was den Haushalt meines Papas (*1940) betrifft, juckt’s mich in den Fingern. Er lebt auf vielhundert Quadratmetern den üppigen Traum der letzten Jahrzehnte. Ich gönn’s ihm so sehr. Es sind Erinnerungen oder Eroberungen. Aber es graut mich auch. Niemand wird all diese Materie wollen und brauchen.
Der Punkt ist ja: Während unsere Alten (aus Entbehrungserinnerung) anhäuften, tun wir das gleiche: Konsumgüter anhäufen, diesmal aber aus Überdruß. Am Ende bleibt das Entsorgungsproblem.
Ich bin raus aus der Verbrauchs-Maschine. Und es tut sehr gut.
Joerg
Ihr sehr schöner Beitrag berührt mich. So wie es "Peggy Ophelia" tut, den ich immer wieder einmal lese.
Kositza: Oh, danke. Bald ist wieder Jahrestag von Peggys Suizid.