The Zone of Interest – eine Filmbesprechung von Kevin Naumann

Eine Frau Mitte 30, Baby auf dem Arm. Entfernt schallen Befehle und Schußgeräusche, verschwinden hinter einem Dauerdröhnen, ab und zu verspringen atonale Soundschnipsel. Hier kündigt sich ein ungewöhnlicher Film an. Kein Actionstreifen, dafür vollkommen getragen von Unterschwelligkeit und Distanz.

The Zone of Inte­rest ist eine Zumu­tung: für den­je­ni­gen, der es ger­ne direkt hat, sowie­so, und ein Kunst­werk für jenen, der sub­ti­le For­men schätzt. Der Fokus liegt hier, anders als in etwa Spiel­bergs Schind­lers Lis­te auf dem Her­aus­stel­len von Nor­ma­li­tät. Wer einen Täter­film erwar­tet, dürf­te ent­täuscht sein.

Im Medi­en­echo wur­de die Fra­ge auf­ge­wor­fen, ob man einen Ver­bre­cher als nor­ma­len Men­schen dar­stel­len dür­fe, Stich­wort Han­nah Are­ndt – „Bana­li­tät des Bösen“. Natür­lich darf man das. Der Blick in den All­tag des Kom­man­dan­ten eines Ver­nich­tungs­la­gers läßt den größ­ten Ver­bre­cher als rela­tiv nor­ma­len Men­schen inmit­ten bana­ler Bezie­hun­gen daste­hen. Für man­che unerträglich.

Aber es han­delt sich nicht expli­zit um einen Film über den Holo­caust. (Dazu spä­ter mehr.) Es wird der Ver­such unter­nom­men, das all­täg­li­che Leben der Kom­man­dan­ten­fa­mi­lie Höß aus­zu­leuch­ten. Ein fast gewöhn­li­ches Leben, das ein­zig durch eine Beton­mau­er mit Sta­chel­draht von der Ver­nich­tungs­in­dus­trie getrennt ist.

Das ist die eine Zumu­tung. Zu sehen ist der Kon­trast zwei­er Rei­che, das pri­va­te, rund um das Haus und den Gar­ten, bewohnt durch SS-Ober­sturm­bann­füh­rer und Lager­kom­man­dant Rudolf Höß (Chris­ti­an Frie­del) und sei­ner Frau Hed­wig (San­dra Hül­ler), sowie deren fünf Kin­dern und den bei­den pol­ni­schen Dienst­mäd­chen. Unmit­tel­bar neben­an: das Lager Ausch­witz I.

Bis zu fünf fest instal­lier­te Kame­ras sol­len laut dem Regis­seur Jona­than Gla­zer  an die 800 Stun­den Film­ma­te­ri­al auf­ge­nom­men haben. Die­se Art des Fil­mens von fixen Punk­ten über einen län­ge­ren Zeit­raum ermög­lich­te eine Unge­stört­heit, die die Gren­zen zwi­schen Kunst und Rea­li­tät auf­zu­he­ben scheint. Die Ein­stel­lung ist stets auf Abstand, es gibt nur sehr weni­ge Por­trait­auf­nah­men. Man betrach­tet natür­li­ches Ver­hal­ten und nur einen Rest an Spiel, die Kin­der toben, wäh­rend im Hin­ter­grund die Schorn­stei­ne aufflammen.

Die­se Ton-Bild-Arbeit muß man durch­hal­ten kön­nen. Der Sound­track ist her­aus­ra­gend, die Sze­nen für sich genom­men unspek­ta­ku­lär. Es gibt kei­nen Span­nungs­bo­gen wie in Hor­ror­fil­men, alles wabert und grollt ohne Unter­laß und domi­niert dadurch die gezeig­te Nor­ma­li­tät. Sel­ten fährt die Kame­ra durch die Kulisse.

Zwei Ereig­nis­se sol­len die Vil­la Höß erschüt­tern, zum einen durch die Figur der Groß­mutter. Sie fin­det nachts kei­nen Schlaf, blickt aus dem Fens­ter auf die feu­ern­den Schlo­te und reist still und heim­lich ab. Kur­zer Tru­bel im Hau­se, zurück bleibt ledig­lich eine Nach­richt auf der Kom­mo­de im Erd­ge­schoß. Der Zet­tel wird kur­zer­hand von Hed­wig im hell­grü­nen Kachel­ofen ohne gro­ße Regung verbrannt.

Als Rudolf Höß nach Ora­ni­en­burg ver­setzt wer­den soll, trifft das vor allem Haus­frau Hed­wig. Es fol­gen Streit und Zwist. Man hat­te sich als Fami­lie ein­ge­rich­tet, es sich schön gemacht, einen neu­en Ort geschaf­fen. An die­ser Stel­le genießt man die Bril­lanz der Haupt­dar­stel­le­rin. Sie domi­niert die Dia­lo­ge, ver­kör­pert Stren­ge und Authen­ti­zi­tät, wäh­rend die männ­li­che Haupt­fi­gur zwar in den Ein­zel­sze­nen gut rüber­kommt, aber im direk­ten Zusam­men­spiel gegen­über der Hed­wig San­dra Hül­lers ver­blaßt. Sie wirkt käl­ter und stär­ker, sie hat das Sagen und ist als Mut­ter die Mit­te der Familie.

Höß hin­ge­gen betrach­tet sich ledig­lich als Glied einer Befehls­ket­te und hängt weni­ger an einem kon­kre­ten Ort als an sei­ner Kar­rie­re. Befehl ist Befehl, Abord­nung bedeu­tet Abord­nung. In Ora­ni­en­burg ver­mag er es jedoch, die Situa­ti­on zu sei­nen Guns­ten zu beein­flus­sen und sei­ne end­gül­ti­ge Ver­set­zung zu ver­hin­dern. Er kann nach Ausch­witz zurückkehren.

Der ein­zi­ge Kri­tik­punkt die­ses Meis­ter­werks ist sein Ende. Der gesam­te Film zeich­net sich aus durch eine gekonn­te Sub­ti­li­tät, die von einer sehr star­ken Ton­ar­beit und dem natür­li­chen Licht­spiel getra­gen wird. Das Grau­en, das sich unmit­tel­bar hin­ter der Grund­stücks­mau­er abspielt, ließ sich nur erahnen.

Die­se den gesam­ten Film aus­zeich­nen­de Unter­schwel­lig­keit gegen­über dem Holo­caust wird schließ­lich durch Auf­nah­men aus der heu­ti­gen Zeit durch­bro­chen. Man blickt über die Schul­tern zwei­er Putz­kräf­te mit moder­ner Klei­dung, die die Räu­me und Anla­gen säu­bern. Dann erfolgt die letz­te Blen­de zurück zu Rudolf Höß, der, völ­lig allein in einem dunk­len, brei­ten Flur ste­hend, sich zu über­ge­ben und ins Nichts zu bli­cken scheint.

Was für ein Bruch mit dem bis dahin Gese­he­nen und Gefühl­ten! Daß man es nicht unter­las­sen kann (es ist eine US-Pro­duk­ti­on), eine künst­le­ri­sche Kom­po­si­ti­on zu die­sem The­men­kom­plex abzu­schlie­ßen, ohne den Zuschau­er doch noch dezi­diert belehrt haben zu wol­len. Durch die­se unnö­ti­ge „Ein­ord­nung“ gegen Ende hat der Film gera­de noch den Sprung geschafft in die Spar­te der Lehrfilme.

Was nicht unter­ge­hen soll, sind drei Sze­nen, die dann ein­set­zen, sobald Rudolf Höß sei­nen Kin­dern vor­liest. Höß Stim­me wird zur Erzähl­stim­me. Gezeigt wird ein jugend­li­ches Mäd­chen, das sich nachts in die Schlamm­gru­ben des Lagers schleicht, um dort Äpfel zu ver­ste­cken. “True sto­ry”, laut dem Pro­du­zen­ten. Die­se Dar­stel­lung erfolgt als Nega­tiv. Wohl soll dies eine doch noch vor­han­de­ne Huma­ni­tät (jun­ge Frau / Apfel / Frucht usw.) inmit­ten eines Sys­tems der Ent­mensch­li­chung charakterisieren.

Man sieht die jun­ge Frau spä­ter am Kla­vier sit­zen und von einem Fet­zen Papier Noten spie­len. Es han­delt sich dabei um die Kom­po­si­ti­on „Son­nen­strah­len“ des inhaf­tier­ten His­to­ri­kers Joseph Wulf, der spä­ter meh­re­re Bücher ver­fass­te und zwi­schen 1962 und 1974 einen Brief­wech­sel mit Ernst Jün­ger unter­hielt. Ihm gelang 1945 bei einem Todes­marsch die Flucht.

Darf man aktiv Betei­lig­te der „dun­kels­ten Stun­de“ als lie­ben­de und sorg­sa­me Müt­ter und Väter „wie Du und Ich“ dar­stel­len? Ja bit­te, das ist Kunst, und es muß trotz allen Schre­ckens dar­stell­bar sein. Es ist sogar die Auf­ga­be der Kunst, all­zu gewohn­te Bil­der und Dar­stel­lungs­wei­sen zu durchbrechen.

Ich emp­feh­le die­ses Opus mit einer sehr star­ken weib­li­chen Haupt­rol­le und ein­dring­li­chen Ton­pro­duk­ti­on daher sehr.

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Kommentare (13)

Volksdeutscher

21. März 2024 18:05

Solche Schicksale, sowohl auf der Täterseite als auch auf der Opferseite ereigneten sich in kommunistischen Konzentrationslagern zigmillionenfach, nicht nur in der Sowjetunion, sondern überall, wo der Kommunismus an die Macht kam. Darüber werden aber keine Filme gedreht. Es gibt auch keine Verfilmung von deutschen Flüchtlingsschicksalen, auch nicht über die Bombardierung von Dresden oder dem Rheinwiesenlager. Warum nicht? In wessen Interesse steht das, wenn wir mal die deutsch- und europafeindlichen Linken weglassen? 

Laurenz

21. März 2024 18:48

Lagerkommandanten & sonstiges Personal leben genauso ein normales Leben, wie Gefängnisdirektoren. Nur die Schließer, also Wachen, haben als Berufsgruppe den höchsten Krankenstand & gehen am frühesten in Pension/Rente. Wenn ich KN richtig verstanden habe, geht auch dieser Film an jeglicher Realität einer Lagerkommandantur vorbei. Auschwitz war vordergründig eine beengte Fabrik-Stadt mit 800k Einwohnern, wo Versorgung, Entsorgung (Abwässer, Müll), Zulieferung der Rohstoffe,  Abtransport der produzierten  Kriegs- & Gebrauchsgüter, Dienstpläne, Ausbildung der Häftlinge, Aufrechterhaltung der Infrastruktur den größten Teil des Tagesablaufs & Aufgabenbereichs der Kommandantur definieren. Bei kriegsbedingter Personalknappheit ist das eine überfordernde Aufgabe. Ohne logistische Fachkompetenz unmöglich, zu bewerkstelligen. Die Divergenz zwischen Lagerleben & Kommandantur kann man auch hier erfahren https://de.wikipedia.org/wiki/Mitten_im_Sturm allerdings nur spät im Film, in wenigen Szenen https://youtu.be/RRfMOal-i8o Insofern ist die Perspektive des Films natürlich anders.

A P Weber

21. März 2024 19:31

"während im Hintergrund die Schornsteine aufflammen."
Das wird immer wieder, besonders in der Literatur, kolportiert, wobei die Flammen mehrere Meter bis zu 10 Metern hoch geschlagen sein sollen. Das ist ganz offenkundig richtig, obwohl es technisch unmöglich ist.

Klaus Kunde

21. März 2024 19:50

Der Film, durchaus sehenswert. Die Banalität des Bösen, perfekt in Szene gesetzt. Der anständige, verantwortungsbewußte Lagerkommandat nebst seiner Ehefrau als Komplizin. Wer einen Lehrfilm erwartet, sollte eher auf die brillante Darstellung Götz Georges in dem Film, „Aus einem deutschen Leben“, zurückgreifen.
Rudolf Höß verkörpert den idealen SS-Mann, ideal, weil er als willfähriger Exekutor Befehle ausführt ohne diese zu hinterfragen, seine zweite Tugend, er ist dabei noch effizient. Das RSTGB ist nicht außer Kraft gesetzt, Mord gilt weiterhin als Kapitalverbrechen. Höß glaubt, Verantwortung für Missetaten trägt allein der Befehlsgeber. Ein Irrtum.
Höß, die gesellschaftliche Null, avanciert in der SS-Hierarchie immerhin bis ins mittlere Management, er, der es im Kaiserreich, freilich ohne Vorstrafe als Mörder, vermutlich höchstens zum Hauptwachtmeister gebracht hätte.
Unklar bleibt, wie Höß in die Situation gekommen ist, verbrecherische Befehle zur Ausführung zu erhalten. Wer mehr dazu erfahren will, muß Hans Buchheim bemühen und seine erhellenden Erläuterungen zu Befehlen in Dienstsachen und Weltanschauungssachen nachlesen.

Egonon

21. März 2024 21:19

Wem ist eigentlich geholfen, wenn man historische Geschehnisse in der Unendlichkeit perpetuiert? In 1000 Jahren (Achtung!) wirkt so ein Film (im Verbund mit seinem Prioritätenwerken von Spielberg und Chomsky) wie eine authentische Dokumentation aus der richtigen Zeit. Was sind 80 Jahre Abstand schon. William der Eroberer: 1066 oder 1166? Also nochmal: Cui bono? Es ist schon ein wenig befremdlich diese Eloge hier zu lesen, aber vielleicht gibt es (sehr) gute Gründe.
Bei Urwaldvölkern gibt es wohl das Ritual Schlechtes, Schlimmes und Scheußliches des Volkes in eine Felswand zu ritzen und wenn der Regen die Buchstaben verwittert hat, ist es vergessen und wird nie wieder erwähnt. 

RMH

21. März 2024 21:44

"Der Soundtrack ist herausragend, die Szenen für sich genommen unspektakulär. Es gibt keinen Spannungsbogen wie in Horrorfilmen, alles wabert und grollt ohne Unterlaß und dominiert dadurch die gezeigte Normalität. ... Der gesamte Film zeichnet sich aus durch eine gekonnte Subtilität, die von einer sehr starken Tonarbeit"
Das hört/liest man auch bei anderen Rezensionen. In der Radio-Rezension, die ich im Auto gehört habe, hat man das maschinenartige Hintergrundgrummeln auch gehört. Da stellt sich die Frage, ob es in echt auch solche Geräusche für die Nachbarschaft gab oder ob damit stilistisch das "fabrikmäßige", "maschinelle" der "Tötungsfabrik" dargestellt werden soll. 
Insgesamt ein Film, den ich mir evtl. mal auf Amazon Prime oder sonst im Streaming ansehe, denn mein Bedarf an "banal Bösem" ist gedeckt. Im Kino schaue ich mir das sicher nicht an.

Franz Bettinger

21. März 2024 23:24

Zur Erinnerung: Im Film „Der Vorleser“ (von EK auf SiN besprochen) hat man eine wichtige Szene der Buchvorlage (1995) von B. Schlink weggelassen, die Szene, in der ein alliierter (englischer?) Jagdbomber die Kirche zerstört, in der gerade KZ-Häftlinge auf dem Rücktransport nach D vorübergehend (wegen anhaltender Luftangriffe) eingesperrt waren. 

Speng

21. März 2024 23:32

Gratulation an die Filmemacher!
Nicht einfach nur ein weiterer Holocaustfilm, um ein paar Preise abzustauben, sondern postmodernes Programmkino. Thematisch, wie ästhetisch, reizvoll und originell. Da wird die ewige Blutanklage gegen die Deutschen auf für den rechten Cineasten tolerierbar.
Wer danach noch Lust auf mehr hat, kann dann gleich noch in Dune Part 2 reinschauen. Blockbusterkino und großes Spektakel. Hier (mit hier meint man einem fremden Planeten, zehntausende Jahre in der Zukunft), sind die absolut Bösen zwar keine deutschen Nazi-Lagermutanten, aber sehr weiß, sehr brutal, ziemlich dumm und auch ein bisschen kannibalistisch. Da sie auch sehr gerne tolle Fahnen aufhängen und nicht nur innere Reichsparteitage feiern, kann man dann auch ohne weiteres einen thematischen Bogen zum hier besprochenen Film, ja den ganzen Anti-Weißen Komplex an sich schlagen.
Der darauffolgende galaxieweite Jihad mit Milliarden Toten wird da dem globalen Kinopublikum wohl als notwendiges Übel erscheinen. Kill Whitey usw... Andererseits wäre der Held des Films ein unvorstellbares Monster und es sind ja noch Fortsetzungen geplant.
 
PS: Das Zone of Interest Regisseur Jonathan Glazer jetzt für seine Pro-Palästina Dankesrede bei den Oscars diffamiert wird, kann wohl unter die Kategorie Treppenwitz eingeordnet werden.
 

Franz Bettinger

21. März 2024 23:35

@Zu oben noch: Quelle: https://lyrik.antikoerperchen.de/der-vorleser-zusammenfassung-teile-kapitel-schlink,text,790.html - Aber sogar diese Zusammenfassung gibt die Szene nur entstellt wieder. Interessierte mögen das Original nochmals lesen: Der Vorleser, Bernhard Schlink, Teil 2, Kapitel 5

Noch ein Hesse

22. März 2024 09:32

Es ist ja schon immer wieder spannend. Seit einigen Jahren lese (und schreibe, manchmal) ich hier mit und stelle fest, dass niemand den Sozialisten Kniébolo und seine Politik so sehr hasst wie der genuin Rechte. Das ergibt eine Menge Sinn und bildet dennoch eine Zwickmühle, da es ja zwischen den heutigen Rechten und den damaligen Linken eine schicksalhafte Gemeinsamkeit gibt, nämlich das Bekenntnis zu Deutschland, zum Deutschsein, zum deutschen V--- (das es in Wahrheit natürlich gar nicht gibt). Es ergibt Sinn und ist doch unendlich schmerzhaft, dass auch hier mit einer solchen Filmbesprechung der widerphysikalische Schuldkult perpetuiert wird, an dem Deutschland und das deutsche V--- gerade verrecken.

RMH

22. März 2024 09:53

Ich glaube, solche Filme funktionieren nur, weil die sog. Erlebnisgeneration nicht mehr da ist, ja selbst die Enkel derer, die entweder Opfer oder auf der anderen Seite waren, sind mittlerweile alle deutlich über 50, wenn nicht noch älter. Das NS-Täter in aller Regel normale Menschen mit normalen Familien waren, war doch eigentlich wahrlich nichts Neues. Ich selber (würde mich zur Enkelgeneration zählen), war mit einem Enkel bei der BW, dessen Großvater in Auschwitz eine ernsthaft leitende Funktion hatte (er hat es nicht überlebt). Habe auch den Vater, also den Sohn, kennengelernt. Überraschung, ganz normale Menschen, die keine Katzen quälten und bis tief in die 90er Jahre normal leben konnten,  bis irgendein Lokaljournalist begann, sich an der Geschichte zu profilieren, aber auch das haben sie wegstecken können. Auf der anderen Seite sah man bei einem meiner Schulehrer noch die Nummer am Arm, die er als Kind im Lager bekam, andere Lehrer waren Kriegsteilnehmer, gab keinen Stress untereinander. Der Nachbar, ein Sinti, war im Lager und war der, der seiner Familie Richtung und Ordnung gab. Der Vater meines anderen Nachbarn war Wachmann in Dachau und wurde von den Amerikanern nicht erschossen, da die Lagerinsassen für ihn sprachen. Heute würde er, obwohl von den Insassen quasi "frei gesprochen", sicher noch einen Prozess angehängt bekommen, wenn er mit seinen ca. 115 Jahren noch leben würde. Kurzum: Einen "Grusel" der Banalität gab es nicht. Der wird heute eben im Kino erzeugt.

kikl

22. März 2024 11:09

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“
hat Adorno 1949 in seinem Aufsatz "Kulturkritik und Gesellschaft" verkündet. Wenn er recht hat, dann ist der Westen kollektiv der Barbarie verfallen. Denn es gibt wohl keinen Topos der Kunst, der uns so penetrant alljährlich verabreicht wird wie der Holocaust. 
Ricky Gervais hat sich darüber lustig gemacht - als Brite darf er das - und hat Kate Winslet den Rat gegeben, einen Holocaust-Film zu drehen, um endlich ihren Oskar zu erhalten. Damit hat er schließlich recht behalten: https://www.youtube.com/watch?v=iAweiV944qI
Problematisch daran ist, dass hier das Bild der Geschichte von Künstlern erschaffen wird, während es weder Meinungs- noch Wissenschaftsfreiheit gibt, die notwendig wären, um die tatsächlichen Ereignisse zu erforschen. Wir sollten die Bühnen der Kunst langsam aber sicher verlassen und in die Niederungen der Archive steigen, ohne staatliche Repression und Gewaltandrohungen befürchten zu müssen, sollten die Forschungsergebnisse ganz oder teilweise dem herrschenden Dogma widersprechen.

clint68

22. März 2024 11:18

Die einzige Empfehlung, die mir dazu einfällt ist, vor oder nach dem Schauen des Films, selber nach Auschwitz fahren und sich ein Bild machen. Mal die Zeit weglassen und den Raum betrachten. Wo steht was, in welcher Entfernung (Auschwitz I und II z.B.), was sagen die Gesichter der anderen Besucher (Gleichgültigkeit, Betroffenheit, Grusel?), wie ordnet man die Schlange an Touristenbussen ein, die in einer Monotonie von I nach II fahren und Massen durch Geschichte schleusen. Wenn man sich als Einzelbesucher, kostenfrei, in Ruhe einen Überblick verschaffen wollte, dann hatte man nur ein kurzes Zeitfenster für den Eintritt (A I). Die Masse (zumindest war mein Eindruck 2016 so) hatte eine gebuchte, kostenpflichtige Führung. Von, wie mir schien, sehr jungen Menschen (Studenten?) geführt. Regelmäßig wurden wirkmächtige Fotos mit Kippa auf Stacheldrahtresten gemacht, vom Alter her unmöglich Zeitzeugen. Den Weg von I nach II habe ich dann zu Fuß (ca. 3 km) zurück gelegt. Die so genannte "Judenrampe" in der Piwniczna kurz vor Birkenau interessierte keinen, alle Busse fuhren daran vorbei. Ich war der Einzige. Birkenau war dann ähnlich. Um einen wirklichen Eindruck zu bekommen, war ein Tag nötig. Aber die Busse fuhren die Anderen im Minutentakt an und ab. Auf den, doch vorhandenen, einsamen Pfaden, war ich relativ alleine unterwegs. Für die Masse wohl ein "History-Drive in" mit Souvenirshop? Mag sich jeder selbst ein Bild machen. Und dann den oder die Filme dazu einordnen.

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