Dabei lassen sich durchaus geopolitische Linien ziehen, die zu den Ursachen der Besonderheiten der deutschen Kapitulation 1945 führen, die sich deutlich von Vorgängen unterschied, wie sie am Ende von Kriegen bis dahin meistens üblich waren. Zum einen handelte es sich um eine „bedingungslose Kapitulation“ und damit um die Erfüllung einer Forderung, die von den Alliierten seit Jahren offen erhoben worden war. Zum anderen hat diese Kapitulation auf staatlicher Ebene strenggenommen gar nicht stattgefunden. Zwar hat in einer ganzen Kette von Unterschriften und Teilkapitulationen die deutsche Wehrmacht die Waffen gestreckt. Die deutsche Regierung hat dies aber nicht getan, weder am 8. Mai noch zu einem anderen Zeitpunkt. Das hat nicht den während des Krieges ausgearbeiteten alliierten Planungen für ein Schlußszenario entsprochen. Trotzdem steckt in der Entwicklung der Dinge hin zu diesem Ende eine Logik, die deutlich werden läßt, was dieser Vorgang machtpolitisch bedeutet: einmal aus deutscher Perspektive und dann im Rahmen der europäischen Geschichte.
Die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation war bereits früh in den Grundüberzeugungen der politischen Führung der alliierten Mächte angelegt. Sie stellte also einmal eine bewußte und politische Entscheidung dar, war jedoch zum anderen in längerfristige Entwicklungen eingebettet. Zu diesen gehörte das Ende einer Phase der europäischen Geschichte, die als Krimkriegssituation bezeichnet worden ist und die dadurch gekennzeichnet war, daß die Weltpolitik dem europäischen Kontinent für einige Zeit den Rücken gekehrt hatte. Wie sich 1945 herausstellte, gehörte das zu den Existenzbedingungen des Bismarckreiches.
Nachdem 1856 die Niederlage Rußlands im Krimkrieg gegen England und Frankreich besiegelt war, bildete sich in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten in Europa ein politisches Vakuum heraus, in dem die deutschen Einigungskriege stattfinden konnten. Das besiegte Rußland gab die weitere Expansion auf den Balkan und in Richtung der türkischen Meerengen auf, widmete sich inneren Reformen und hielt sich territorial in Zentralasien schadlos. Gleichzeitig konsolidierte das britische Empire ebenfalls seinen Besitz in Übersee, während die von Premier Palmerston zeitweise ins Auge gefaßten Pläne für eine Übergabe von Ukraine und Baltikum an Österreich und Preußen eine Episode der Geschichte blieben. Da sich auch die USA für ihren aktuellen Ausgriff nach Übersee den Weg über den Pazifik nach Ostasien ausgesucht hatten, wo Japan im Jahr 1854 gewaltsam für den amerikanischen Handel „geöffnet“ wurde, intervenierte in Europa keine der aktuellen und kommenden Weltmächte, als zwischen 1864 und 1871 das Bismarckreich gegründet wurde. Waren die deutschen Einigungsversuche 1848 noch auf den militärischen Gegendruck Rußlands gestoßen, folgte dieses Mal keine Reaktion des Zarenreichs. Auch Versuche der französischen Regierung scheiterten, England zu einem Einspruch gegen die deutsche Einheit zu bewegen und zu diesem Zweck notfalls in den Krieg von 1870 / 71 mit einzubeziehen.
Das weitgehende Desinteresse der Weltpolitik an den europäischen Affären begleitete also die deutsche Reichsgründung, eine Konstellation, die nach 1919 noch einmal entstand, als mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zwei entscheidende Staaten dem Versailler Vertragssystem fernblieben. Das gemeinsame Nein der USA und der UdSSR hatte dafür gesorgt, daß die Europäer nach dem Ersten Weltkrieg in gewisser Weise noch einmal für sich waren.
Nun konnte die Versailler Ordnung mit ihrer extremen Diskriminierung Deutschlands nicht als Dauerlösung gelten. Es hat sich vor diesem Hintergrund in den Regierungszentralen spätestens um 1930 die Bereitschaft herausgebildet, das Vertragssystem innerhalb Europas durch etwas anderes zu ersetzen, durch eine Art Viererdirektorium der großen Staaten Frankreich, England, Italien und Deutschland. Dieses Thema ist zwischen 1933 und 1939 immer wieder verfolgt worden. Sein bekanntestes Ergebnis war die Konferenz von München, als eben diese vier Staaten nach eigenem Gutdünken ein Völkerbundsmitglied und eigentlich durch zahlreiche Verträge geschütztes Land wie die Tschechoslowakei aufteilten, ohne die tschechische Politik dabei irgendwie einzubeziehen.
Der Ansatz, durch eine Zusammenarbeit der entscheidenden europäischen Staaten politische Entwicklungen herbeizuführen, schien eine Lösung für vieles zu sein. Unter den gegebenen technologischen und wirtschaftlichen Bedingungen mußten die europäischen Staaten notwendigerweise einen Teil ihrer Souveränität abgeben, etwa nach innen, also durch verschiedene Formen der Zusammenarbeit, entweder im Rahmen einer politischen Union oder eben in einem gemeinsamen Direktorium der Großmächte.
Dieses Konzept traf aber auf mehrere Schwierigkeiten. Zum ersten lag in der Ignoranz gegenüber geltenden Verträgen, wie sie in München und bei anderen Gelegenheiten wie dem deutsch-englischen Flottenabkommen von 1935 zum Ausdruck gekommen war, ein prinzipielles Risiko. Ganz abgesehen von der pazifistischen Stimmung der damaligen Zeit, fördert die unmaskierte Vorweisung von Macht unter Inkaufnahme des Vertragsbruchs jederzeit unvermeidlich die Anarchie des Staatensystems und den Pragmatismus eines quod licet jovi, non licet bovi, in den Großmachtpolitik nur allzu leicht vollständig abgleiten kann, da sie zu einem gewissen Anteil jederzeit aus ihm besteht. Zum zweiten gab es ein technisches Problem, weil etliche Staaten nicht bereit waren, die Dominanz eines solchen Direktoriums anzuerkennen. Hierfür stellte die Republik Polen ein gutes Beispiel dar, deren Regierung schließlich Warschau „als Mittelpunkt der eigentlichen Ostpolitik“ betrachtete und sich als Ordnungsmacht in diesem Raum etablieren wollte.
Zum dritten ergab sich als weiteres Problem die Verteilung von Ressourcen innerhalb dieser nominell gleichen europäischen Direktoriumsmitglieder. Großbritannien und Frankreich verfügten zusammen über einen Kolonialbesitz, der sich über reichlich ein Drittel der Erdoberfläche hinzog und über den freien Zugang zu den Seewegen, um diese Ressourcen und die des übrigen Welthandels auch nutzen zu können. Auf diese Weise war bereits ohne Einbeziehung der USA und UdSSR ein nicht unbedeutender Teil des wirtschaftlichen und militärischen Potentials außerhalb Europas in die europäische Politik integriert – auf dem Weg des späten Imperialismus. Auch das Viererdirektorium bestand aus Besitzenden und Besitzlosen.
Die alternative Option zu einem Ausgleich zwischen diesen europäischen Besitzenden und Besitzlosen bestand im Transfer politischer Macht nach außen, an eine der beiden (oder beide) potentiellen hegemonialen Flügelmächte im Osten und Westen, also die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten. Sollte es im Rahmen einer nach altem Muster betriebenen innereuropäischen Machtpolitik zu einem größeren Krieg kommen, mußte das die Entscheidung zugunsten dieses zweiten Szenarios bedeuten; es würden also künftig außereuropäische Länder den Kontinent dominieren. Diese Dominanz strebten beide Weltmächte durchaus an, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden. Die Jahre zwischen 1939 und 1945 lassen sich als Entfaltung dieser Machtansprüche beschreiben, bis beide 1945 in der Mitte Europas zusammentrafen und sich dort für mehr als vierzig weitere Jahre unversöhnlich gegenüberstanden.
Anfang 1939 begann der Druck der beiden kommenden Weltmächte auf die europäische Politik spürbar zu werden. Sowohl die USA als auch die UdSSR machten massiv ihren Einfluß geltend, was sich als Reaktion auf die jüngsten damaligen Ereignisse deuten läßt. Nachdem Ende des Vorjahres 1938 in München das Viererdirektorium seinen spektakulärsten Auftritt gehabt hatte, deutete sich nun ein Politikwechsel an. Franklin D. Roosevelt faßte dies zunächst im Januar in dem spektakulären Satz zusammen, Amerikas Grenze liege am Rhein, schloß also Frankreich und die Benelux-Staaten als Interessengebiet mit ein. Wenige Wochen später jedoch ging er noch weiter und erklärte die USA in einer berühmt gewordenen Liste zur Garantiemacht praktisch aller Staaten in Nord‑, Ost- und Südosteuropa bis hin zu Estland und auch außerhalb Europas bis nach Persien.
Diese Liste umriß bereits den amerikanischen Ordnungsanspruch für ganz Europa und den Nahen Osten. An ihr haben die USA in den Folgejahren beziehungsweise Folgejahrzehnten immer festgehalten, gegen alle Ansprüche und Vereinbarungen anderer Staaten. Das galt sowohl für den deutsch-sowjetischen Pakt vom gleichen Jahr 1939, dem die baltischen Länder zunächst zum Opfer fielen, aber auch im Hinblick auf englische Versuche, die gleichen baltischen Länder 1940/41 im Rahmen eines machtpolitischen Geschäfts an die Sowjets zu übergeben. Beides wurde durch die amerikanische Politik abgelehnt und der Verlust der Unabhängigkeit der baltischen Länder niemals anerkannt, wobei man während des Krieges – 1943 – soweit ging, eine Landung amerikanischer Truppen über Finnland zu planen, um eine erneute sowjetische Besetzung der baltischen Länder und Finnlands zu verhindern.
Andere Beispiele für die Virulenz amerikanischer Interessenpolitik würden sich nennen lassen, wobei besonders auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen einzugehen wäre, denn sie führen ein weiteres Stück hin zur Klärung der Frage, wie sich die Machtverschiebung gestaltet hat.
Bis zur kurzfristigen Intervention des Finanzministers Morgenthau und auch bald wieder danach war es das allgemeine Ziel der amerikanischen Außenpolitik, Deutschland in ein nach amerikanischen Vorgaben strukturiertes Weltwirtschaftssystem zu integrieren. Bei entsprechendem „Wohlverhalten“ sollte hier ein Platz für Deutschland zu finden sein, äußerte Roosevelt wiederholt. Ähnlich integriert, das heißt aufgelöst, sollte auch das englische Zollsystem von Ottawa werden, das Lieblingsprojekt des Premiers Neville Chamberlain. Hier zeigten sich die Unterschiede in der Herrschaftsausübung zwischen den einzelnen Alliierten sehr deutlich. Die Sonderwirtschaftsbereiche, mit denen das nationalsozialistische Deutschland, aber eben auch das englische Empire arbeiteten, sollten verschwinden. Im Vorfeld der Veröffentlichung der Atlantikcharta von 1941 ging das amerikanische Außenministerium so weit, diese wirtschaftliche Kapitulation der englischen Politik als das eigentliche Ziel der amerikanischen Außenpolitik der letzen zehn Jahre zu bezeichnen. Der Zeitraum zwischen 1932 und 1941 sei dem Thema gewidmet gewesen, den englischen Herrschaftsansprüchen auf wirtschaftlicher Ebene global ein Ende zu bereiten.
Wiederum völlig andere Vorstellungen wurden, der inneren sozialistischen Struktur des Landes gemäß, in Moskau verfolgt, wo der Umbau wenigstens der kontinentalen europäischen Staaten zu einem sozialistischen Block als wünschenswert galt. Während Franklin Roosevelt 1939 seine Länderliste verfaßte, wurde auf dem 18. Parteitag der KPdSU der Übergang zu einer offensiven Politik gefeiert. Man müsse die Zahl der Sowjetrepubliken vermehren, lautete der Tenor des Parteitags, ein Ziel, das einige Monate später mit dem deutsch-sowjetischen Pakt zunächst erreicht wurde, den Stalin nach eigenen Worten mit Deutschland schloß, weil „die Westmächte nichts bezahlen wollten“. Er hatte ihnen die gleichen Forderungen gestellt, die er gegenüber Deutschland vorbrachte. Dazu gehörten weite Teile Osteuropas, auch solche, die nach amerikanischen Wunschvorstellungen eigentlich unabhängig zu bleiben hatten, womit sich der amerikanisch-sowjetische Gegensatz bereits 1939 anzudeuten begann.
Mit dieser ersten Etappe konnten die Hoffnungen der UdSSR auf Ausdehnung des sozialistischen Blocks aber keineswegs als abgeschlossen gelten. Im November 1940 kündigte Außenminister Molotow in Berlin das deutsch-russische Abkommen über die Interessensphären und verlangte mehr. Stalin hatte ihm aufgetragen, praktisch alles als sowjetische Interessensphäre zu beanspruchen, was überhaupt östlich Deutschlands lag, bis hin zur Türkei und dem Iran.
Im Sommer 1940 hatte Molotow bereits prophezeit, die Entscheidungsschlacht werde am Rhein stattfinden und Europa sozialistisch werden lassen. Er kam Franklin Roosevelt gewissermaßen von Osten her entgegen. Konkrete Vorbereitungen wurden bereits seit diesem Sommer 1940 getroffen, als Wladimir Semjonow, der spätere Repräsentant der UdSSR in der Sowjetischen Besatzungszone und Botschafter in Bonn, eine Gruppe jüngerer Diplomaten an der sowjetischen Botschaft in Berlin anführte. Sie machte sich bereits ein Jahr vor dem Beginn des deutsch-russischen Krieges Gedanken über eine Sowjetisierung Deutschlands, „falls die Rote Armee einmal nach Deutschland kommt“. Die Besatzungspolitik in der DDR beruhte später im wesentlichen auf Vorarbeiten aus dieser Zeit. Semjonow konnte seine Pläne in die Tat umsetzen. Allerdings galt dies vorwiegend für ihn persönlich. Die sonstigen Hoffnungen der UdSSR in West‑, Nord- und Südosteuropa und dem Nahen Osten trafen auf die Konkurrenz der Vereinigten Staaten und mußten nach 1945 Stück für Stück begraben werden.
Es gelang den USA in der Nachkriegszeit, die Sowjetunion aus allen wesentlichen Positionen zu verdrängen, die Stalin 1940 als Forderung formuliert hatte. Das galt für Norwegen, die Ostseeausgänge, die türkischen Meerengen, den Iran, für Griechenland und schließlich auch für Jugoslawien. Zwar hat man 1945 in Jalta eine Teilung Europas besiegelt, die nicht zuletzt für Deutschland eine Katastrophe darstellte. Aus Washingtoner Perspektive wurden jedoch alle wesentlichen Vorhaben erreicht. Die industriellen Zentren der Welt, einschließlich Westdeutschlands und Japans, verblieben ebenso im westlichen Lager wie sämtliche Rohstoffzentren und die Kontrolle über die Seewege des Planeten. Der UdSSR fiel dagegen eine durch den Krieg völlig verwüstete Region im östlichen Europa zu. Das Tor zur Welt blieb geschlossen, was Stalin in der Zeit der Eroberung Berlins zu der Bemerkung veranlaßte, man „werde es noch einmal probieren“.
Diese Konkurrenz bei der Entstehung und Eskalation des Weltkriegs zwischen 1939 und 1945 hatte außerordentliche Folgen für Deutschland. Es gab einen Zusammenhang zwischen der Einschätzung der Machtverhältnisse auf alliierter Seite, dem Ausbleiben konkreter Forderungen an die deutsche Regierung und dem Zutreiben auf ein Schlußszenario, in dem Deutschland als Gesprächspartner völlig ausgeschaltet war. Das galt für ganz Deutschland: für die nationalsozialistische Regierung ebenso wie für die innerdeutsche Opposition in Militär und Auswärtigem Amt, die in Deutschland inhaftierten Oppositionellen der demokratischen Parteien und selbst für die hochrangigen emigrierten Politiker der Weimarer Zeit wie den früheren Reichskanzler Brüning von der Zentrumspartei und den Sozialdemokraten und früheren preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Es gab auf alliierter Seite keinerlei erkennbare Bereitschaft, deutschen Repräsentanten ein Mitspracherecht bei der künftigen Gestaltung der Verhältnisse in Mitteleuropa zuzugestehen.
Schon seit dem Kriegsbeginn 1939 hatte im alliierten Lager eine allgemeine Radikalisierung stattgefunden. Vereinzelte Exponenten einer Kompromißlösung mit Deutschland, wie der bald nach Kriegsausbruch abgelöste französische Außenminister Bonnet, verloren schnell an Einfluß. Die Westmächte waren sich ihrer strategischen Möglichkeiten bewußt. So konnte der damalige Finanzminister Reynaud, der bald der Premierminister der Niederlage von 1940 werden sollte, gegenüber Harold Nicolson kurz nach Kriegsausbruch noch viel weiter gehen als seine Militärs zu Friedenszeiten, die auch schon eine Erschöpfungsstrategie und eine allmähliche Eskalation des Krieges gegen Deutschland ins Auge gefaßt hatten: „Wir haben die Deutschen bereits am Wickel und die wissen das auch! .… Es ist völlig unvermeidlich und Sie wissen, ich würde das nicht zu Ihnen sagen, der Sie früher meine Zweifel geteilt haben, wenn ich das nicht wirklich glaubte. Dann würde ich Ihnen sagen: ‚Wir müssen großen Gefahren begegnen‘. Das sage ich Ihnen jetzt nicht. Ich sage: ‚Wir müssen uns auf den unausweichlichen Sieg vorbereiten‘“.
So geschehen in Paris, am 31. Oktober 1939. Das war kein Einzelfall. Hitler sei fertig, „Von dem werden wir nichts mehr hören!“, so schilderte François–Poncet die Stimmung im französischen Außenministerium kurz nach Kriegsausbruch. Ähnlich war die Haltung in Washington. Der allgemeine Eindruck sei hier, Hitler sei in einen Käfig gesperrt worden, aus dem er nicht entkommen können würde, meldete der englische Botschafter aus den USA.
Diese Zitate umschreiben ein Gefühl absoluter Überlegenheit über das deutsche Potential, das in den Regierungszentralen der westlichen Großmächte wie auch der Sowjetunion während des Krieges niemals ganz gewichen ist. Es herrschte der Eindruck vor, daß Deutschlands Gewicht als Macht und seine Optionen zu bescheiden waren, um auf einer Ebene mit den Großmächten der Zeit mitreden zu können. Ihnen ging es daher nicht um präzise Forderungen wie einen möglichen deutschen Rückzug aus Polen, die Abrüstung der deutschen Armee und anderes mehr. Vorstellungen der deutschen Militäropposition, die auf der weiteren Existenz Deutschlands als Großdeutschland beruhten und die Wiederherstellung der Ostgrenzen von 1914 ins Auge faßten, hatten zu keiner Zeit eine Chance, Verhandlungsgegenstand zu werden.
In dieser Einstellung der Alliierten war die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation im Prinzip jederzeit angelegt. Es sind an Deutschland niemals Bedingungen gestellt worden, zu denen ein Frieden zu haben gewesen wäre. Jeder Versuch der deutschen Regierung, solche Forderungen aus den westlichen Regierungskreisen herauszulocken, scheiterte. Es wurden zu diesem Zweck etliche öffentliche wie geheime Friedensangebote an die englische und französische Regierung gemacht, die nicht nur nicht angenommen wurden. Sie wurden ungelesen zurückgeschickt. Man blieb in dieser Frage bei der Situation stehen, wie sie unmittelbar im Vorfeld des Krieges geherrscht hatte. Premier Chamberlain glaubte daran, daß Hitler sich bemühte, wie er einige Wochen nach Kriegsbeginn in einem Privatbrief zugab: „Ich glaube, er wollte ernsthaft ein Abkommen mit uns und arbeitete ernsthaft an Vorschlägen … die aus seiner einseitigen Sicht geradezu unfaßbar großzügig aussehen mußten.“ Dennoch zeigte Chamberlain sich entschlossen, den Krieg gegen Deutschland jetzt aufzunehmen. Was die englische und weitgehend auch die französische Diplomatie anging, so gab diese Ignoranz gegenüber Kompromissen mit Deutschland auch in der Nachfolgezeit weiterhin das Muster vor.
Der französische Premier mußte bekanntlich für seine Person den im Oktober 1939 vorausgesagten unausweichlichen Sieg nach der französischen Niederlage von 1940 für einige Jahre vertagen. Aber auch angesichts dieser drohenden Situation nahm Reynaud davon Abstand, sich auf eine Kompromißlinie zu begeben. Einen Tag nach dem Durchbruch der deutschen Truppen im Mai 1940 schickte Hermann Göring den schwedischen Generalkonsul in Paris zu Reynaud, um ihm zu sagen, daß „wir Ende des Monats Calais und Dünkirchen genommen haben werden. … Herr Reynaud soll uns sofort Waffenstillstandsvorschläge machen. Wir sind bereit, Frankreich vernünftige Bedingungen zu bewilligen. Wenn er die Besetzung und Zerstörung seines Landes verhüten will, möge er sich beeilen.“
Reynaud reagierte anders. Er bat den Überbringer der Botschaft um Stillschweigen und den amerikanischen Präsidenten um Flugzeuge und den baldmöglichsten Kriegseintritt. Ähnlich endeten auch andere Versuche der deutschen Führung, Verhandlungen zu beginnen. Es kam so weit, daß der englische Botschafter in Washington diese deutschen Vorstellungen im Juli 1940 „höchst befriedigend“ fand, aber bei seinem Außenminister so wenig Resonanz fand wie bei Premier Churchill, der die Annahme jedes deutschen Angebots unabhängig von dessen Inhalt verboten hatte. Ein unvollständiger Bericht der englischen Botschaft in Washington an den Präsidenten der Vereinigten Staaten vom Mai 1941 führte allein sechzehn solche deutschen Versuche auf. Substantielle Folgen hatte das alles nicht.
Verursacht wurde diese Intransigenz weniger von Verbrechen des Nationalsozialismus als von einer Denkschule, die das politische Grundproblem in der deutschen Einheit sah. Gerade die besonders entschlossenen die hards innerhalb der englischen Regierung wie Premier Churchill selbst oder sein diplomatischer Chefberater Robert Vansittart billigten dem Nationalsozialismus gar keine neue Qualität zu, sondern deuteten ihn als oberflächliches Phänomen, hinter dem nach ihrer Ansicht der preußische Militarismus stand. Dem aber konnte man in dieser Vorstellungswelt nur durch Zerschlagung Deutschlands und einer Rückkehr zu den Verhältnissen vor 1864 beikommen.
Als Begründung für die Ablehnung von Verhandlungen mit Deutschland wurde fehlendes „Vertrauen“ in den Vordergrund geschoben, wobei Vertrauen aus Sicht der englischen Politik eher ein Synonym für „Kontrolle“ darstellte. Der stellvertretende amerikanische Außenminister Welles hatte für diese Haltung einigen Spott übrig, als er im März 1940 London bereiste und die englische Regierung zu einem Friedensschritt überreden wollte, der darauf hinauslief, wirkliches Vertrauen wiederzugewinnen und zwar durch das Stellen präziser Forderungen an Deutschland und deren Erfüllung. Vertrauen falle nicht vom Himmel, könne aber geschaffen werden, führte er gegenüber Premier Chamberlain aus. Dazu kam es nicht, denn die englische Regierung ging letztlich nicht darauf ein. Auch die einige Wochen später erhobene Forderung des amerikanischen Präsidenten, die beiden europäischen Westmächte sollten als vertrauensbildende Maßnahme öffentlich erklären, sie würden Deutschland nicht vernichten wollen, traf in der englischen Regierung auf Ablehnung.
Dieser Entwicklung folgte die weitere Eskalation des Krieges. Europa wurde „in Brand gesteckt“, wie Churchill es im Sommer 1940 als Devise ausgegeben hatte. Betroffen waren zunächst Regionen wie Skandinavien, später auch der Balkan, wo sich die Interessengebiete aller Beteiligten kreuzten.
Die letztlich entscheidende Eskalationsstufe bildete der deutsche Angriff auf Rußland, von dem Vjatscheslaw Molotow später selbst sagte, es sei Hitler gar keine andere Option übriggeblieben als dieser Angriff: „Er hätte seinen Krieg mit England nie zu Ende gebracht.“ Auch die Erfolge und Niederlagen auf diesem Feld änderten jedoch nichts daran, daß die Kriegsparteien nicht den Weg zu Verhandlungen fanden, umso weniger, je deutlicher sich die deutsche Niederlage abzeichnete. Die Umstände des Kriegsendes beleuchteten diesen Umstand noch einmal. Bedingungslose Kapitulation bedeute für die Alliierten die freie Verfügung über „Land, Freiheit und Leben“ stellte Churchill in Jalta fest, Freiheiten, die durchaus genutzt werden sollten. Der Verzicht auf die Unterschrift der deutschen Regierung, ihre Verhaftung, die Souveränitätserklärung des Alliierten Kontrollrats und die schließliche Spaltung Europas und Deutschlands führten eine Entwicklung zum Höhepunkt, die 1939 begonnen hatte. Kompromisse gab es nicht. Das materielle Übergewicht der Weltmächte entfaltete sich und beendete die Existenz des Deutschen Reichs. Das weltpolitische Fenster, das mit dem Krimkrieg geöffnet worden war, schloß sich wieder und mit ihm die politischen Spielräume für eine souveräne deutsche Außenpolitik.