Wer es nicht verfolgt hat: Die Wahl brachte den erwarteten Sieg des Rassemblement National (RN) unter Marine Le Pen und dem Spitzenkandidaten Jordan Bardella. 31,4 Prozent der Stimmen bedeuten für den RN 30 Sitze (+12), während die identitäre Liste La France Fière (d.i. die Rechtspartei Reconquête von Éric Zemmour) 5,5 Prozent erzielte, d.h. künftig über 5 Sitze verfügen sollte. Fast 37 Prozent haben damit für patriotische Parteien optiert, zu denen noch die Sarkozy-Liberalkonservativen der Republikaner hinzukommen: 7,3 Prozent bzw. 6 Sitze erhöhen das Mitte-rechts-Budget auf 44 gemeinsame Prozent.
Mitentscheidend für das, was in den letzten Tagen folgte und aktuell fortgesetzt wird – die große Umsortierung der Rechten – ist aber auch das Abschneiden des Renaissance-Bündnisses des Präsidenten Emmanuel Macron, das nur auf 14,6 Prozent kam, also lediglich 13 Sitze für sich beanspruchen darf. Macron preschte umgehend nach der Wahlschmach nach vorne: Neuwahlen zur Assemblée Nationale, die am 30. Juni und am 7. Juli stattfinden werden.
Jetzt wurden schon länger schwelende Überlegungen um Marine Le Pen beschleunigt aufgegriffen: Ist nicht der Zeitpunkt gekommen, in der Nationalversammlung eine Mehrheit für die patriotische Szenerie herzustellen, indem sich andere konservative und rechte Formationen dem RN anschließen oder unterordnen? Die Frage beantwortete der RN geschlossen mit »Ja«, was einem Selbstvertrauen entspringt, das angesichts der EU-Ergebnisse selbsterklärend sein dürfte.
Wer sich fragt, weshalb der starke RN indes nicht alleine antreten möchte, sei an das strikte französische Mehrheitswahlrecht erinnert, das Mehrheiten in den Wahlkreisen einfordert: Nur der zieht ins Parlament ein, der im zweiten Durchgang (also: am 7. Juli) die meisten Stimmen erhält. Zusammenschlüsse gleichgesinnter und ähnlich orientierter Parteien sind daher Usus. So sollen diesmal Grüne und Linke verschiedener Parteien sowie Postkommunisten eine gemeinsame Liste bilden; Macron schielt auf eine große »Mitte«-Allianz zwischen seiner Partei, den Grünen und der alten Sarkozy-Partei Les Républicains (LR); und auch der RN steuerte als erstes die LR an, die EU-weit im Rahmen der EVP organisiert sind, also gemeinsam mit CDU und CSU operieren.
Bei LR ist seitdem ein heftiger Kampf inklusive juristischer Schachzüge im Gange: Éric Ciotti, seit 2007 Abgeordneter und seit 2022 Präsident der LR, vereinbarte eine patriotische Allianz für die Neuwahlen: RN und LR sollen gemeinsam für eine Wende nach rechts sorgen. Der Parteivorstand setzte den eigenen Präsidenten umgehend ab, was dieser bei »X« (ehedem »Twitter«) prompt als illegitim verwarf. Nun klagen die Konfliktparteien; Ausgang offen, eine Parteispaltung in die eine oder in die andere Richtung dürfte in jedem Falle zu erwarten sein.
Das droht auch auf der anderen Seite des RN, bei der weiter rechts stehenden Reconquête (die auf EU-Ebene ironischerweise in der liberalkonservativen EKR parteipolitisch organisiert ist, während der RN rechts davon bei der nationalkonservativen ID beheimatet ist). Die Ereignisse auch hier zusammengefaßt: Das Tandem Marion Maréchal und Éric Zemmour zeigte sich nicht wirklich zufrieden mit dem EU-Ergebnis (5 Mandate), was Maréchal, die Nichte Marine Le Pens, dazu brachte, ihre vorhandenen Beziehungen zum RN zu aktivieren und die Lage zu sondieren. Man teilte ihr mit, daß die Personalie Zemmour ein Problem für die RN-Spitze darstelle. (Die Wunden der teils eskalierten Konkurrenzsituation aus den Urnengängen 2022 sind noch frisch.) Zemmour kündigte darauf hin, nicht im Wege zu stehen und auf eine Kandidatur zu verzichten.
Marion Maréchal teilte dies dem RN mit, doch dieser wollte das dargebrachte Opfer nicht als ausreichend akzeptieren und verwies darauf, mit Reconquête weiterhin nicht zusammenarbeiten zu wollen, da Zemmour dort nunmal die relevante Einflußgröße darstelle, einerlei, ob er selbst auch bei einer Wahl antrete. Maréchal, gerade ins Europaparlament gewählt als Zemmours Spitzenkandidatin, zog die Reißleine und kündigte an, für die Einheit der Rechten bei den Neuwahlen die Kandidaten des RN (+ LR) zu unterstützen, so daß Zemmour reagieren mußte und sie samt ihren Multiplikatoren aus der Partei warf.
Nun verfügt Zemmours Partei, die für »Remigration« und Marktliberalismus steht, während der RN seit einigen Jahren stärker »integrativ« und gewohnt sozialpatriotisch agiert, nur noch über ein einziges Europamandat. Denn vier Mandatsträger sind fortan parteilos und dürften gen RN-Aufnahme schielen – bzw. Wiederaufnahme, denn in der Regel sind die Mandatsträger aus der Zemmour-Partei ausgetretene RN-Aktivposten. Übrig bleibt Zemmour in Brüssel lediglich Sarah Knafo, seine Beraterin und Partnerin; auch die zahlreichen ehemaligen und aktuellen identitären Aktivisten, die geschlossen aus dem RN zu Zemmour wechselten, stehen nun vor ihrer Heimkehr in den RN oder zumindest in das Vorfeld des RN.
Was das Stühlerücken konkret bedeutet, ergibt sich aus den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse: Zemmour wird marginalisiert und dürfte die Sinnhaftigkeit seines Parteiprojektes ernstlich hinterfragen; die Republikaner stehen vor ungeahnten rechtlichen und politischen Turbulenzen zwischen Macron-freundlichen Liberalen und Le Pen-freundlichen Law-and-Order-Konservativen; der RN wird so oder so (mit oder ohne Rechtsallianz) Zugewinne und Ausweitungen seiner Resonanz- und Wirkungsräume erzielen.
So sehen erste Prognosen aus:
Der RN werden 30–36 % zugetraut. Bei einer Vereinigung der Rechten können sie eine absolute Mehrheit anstreben: von 320–390 Abgeordneten. Ohne Vereinigung der Rechten zeichnet sich eine relative Mehrheit mit 280–330 Abgeordneten ab.
Die Linksfront = 28 %. Nichts ist beschlossen.— Dr_MΛt 𓂆 〓〓🇦🇶🇩🇪 (@MatisseRoyer_2a) June 13, 2024
Visuell:
Et voici ce que donnerait l’Assemblée Nationale si les élections législatives avaient lieu maintenant (base : sondage Harris Interactive ; on présupose un candidat de chaque tendance dans chaque circo)
Précisions en thread: pic.twitter.com/ypNi1y3iKJ— VaubanPro (@VaubanPro) June 12, 2024
Geht man von dieser – spekulativen! – Einteilung der Nationalversammlung aus, gäbe es zwei Varianten: Entweder gibt es eine sogenannte Kohabitation, d.h. Jordan Bardella wird für den triumphierenden RN Ministerpräsident, Macron bleibt Präsident. Dann wäre Frankreichs Politik in vielen Teilen blockiert. Oder Macron träte vor der regulären Präsidentschaftswahl 2027 zurück; dann gäbe es nach den Neuwahlen zum Parlament auch die Neuwahl des Präsidentenamtes – und darauf zielt ja Le Pens gesamte Neusortierung des rechten Lagers von den Liberalkonservativen bis zu den Reconquête-Dissidenten ab.
Der Ausgang der Vereinigungsprozesse ist ungewiß, die Flurbereinigung steht fest: Der RN ist rechts der LR-Konservativen nun der alleinige Platzhirsch und hat über geschicktes Vorgehen das erreicht, was elektoral ausblieb: Reconquête als Konkurrenten zu zerstören. Für Marine Le Pen ist das schon jetzt ein Sieg; sie will freie Bahn für die RN-Kandidaten bei gewährten Plätzen für die Überläufer aus anderen Rechtsparteien.
Das ist nicht das, was Marion Maréchal als Nahziel verfolgt. Sie strebt, ganz idealistisch, eine neuartige »Union der Rechten« ein, die sich einer der wichtigsten Vordenker der außerparlamentarischen französischen Rechten, der Schriftsteller Julien Rochedy, als gleichberechtigtes Dreieck aus Maréchal, Bardella und Ciotti vorstellt. Ob das realistisch ist, oder ob einer seiner (virtuellen) Kritiker und Zemmour-Anhänger recht behält, der die totale Dominanz des RN antizipiert und einwendet, es handle sich dabei nicht um eine neue rechte Einheit, sondern um »Erpressung, Demütigung und eine Pistole am Kopf«, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen.
Fest steht schon jetzt: So geräuschlos und beinahe schon harmonisch wie der innerrechte Triumph Giorgia Melonis über Matteo Salvini und die anschließende Bildung eines Mitte-rechts-Blocks in Italien werden die Neusortierungen im französischen Kontext nicht vollzogen werden. Dafür gibt es zu viel Streit und divergierende Interessen, und jenseits der reinen Machtorientierung sprechen übrigens auch programmatische Dinge gegen eine große Rechtsallianz, worauf mit den éléments das Zentralorgan der französischen »Neuen Rechten« hinweist.
Dort formuliert Xavier Eman, daß »der Wirtschaftsliberalismus der LR nicht wirklich mit dem sozialpopulistischen Diskurs vereinbar« sei, »den der RN bis jetzt geführt hat und der die Arbeiter- und Mittelschicht des Landes so sehr angesprochen hat«, daß der Rassemblement National überhaupt erst in die Pole Position von heute gelangen konnte. Auch sind LR dezidiert transatlantisch, der RN (bisher) nicht minder entschlossen souveränistisch und »multipolar«. Aber dominieren bei Le Pen und Bardella überhaupt politisch-weltanschauliche Fragen oder setzt sich, was um einiges realistischer scheint, die machtorientierte und inhaltlich flexible Nachahmung des Vorbildes aus Italien durch?
Es bleibt, nein: es wird spannend.
Volksdeutscher
Ja, das ist richtig spannend, ich hätte mir nie erträumen können, daß das Elend des Parteienstaates so spannend sein kann.