Der Systemwechsel von 1990 hatte ein Gefälle zur Folge. Das politische System der Ostblockstaaten hatte gegen den liberalen Westen verloren, und zwar nicht nur ökonomisch. Die Sieger plazierten eine Erzählung auch von der moralischen Überlegenheit der liberalen Demokratie und forderten zweierlei: zum einen Nachahmung dessen, was den Westen so überlegen machte, zum zweiten die Einsicht, daß es keine Systemalternative mehr geben werde.
Diese Erzählung vom »Ende der Geschichte« (der titelgebende Aufsatz des Politologen Francis Fukuyama war bereits im Sommer 1989 erschienen) und von der endgültigen Durchsetzung des liberaldemokratischen Weltzugriffs ist der wirkmächtigste »soziale Mythos« (Georges Sorel) der vergangenen Jahrzehnte. Er ermöglichte es den USA, ihre hegemonialen Pläne und Kriege zu einem »War to end all wars« zu stilisieren, vom blutigen Charakter der eigenen Raub- und Erziehungsfeldzüge abzulenken und sie zu Befreiungsvorgängen zu erklären.
Es ist aufschlußreich, Rußlands Selbstfindung entlang unterschiedlicher Nachahmungshaltungen zu beschreiben. Natürlich ist dieser Zugriff nicht hinreichend. Aber er fördert Verhaltensmuster zutage, die sich – wie überall – an der dominierenden propagandistischen Erzählkunst ausrichteten. Diese Ausrichtung und Formierung gehörten zum politischen Besteck, egal für wie mündig, autonom und frei in ihren Entscheidungen der einzelne und Kollektive erklärt werden. Mobilisierende Großerzählungen sind und bleiben in der Lage, Begeisterung zu wecken, Kritik zum Verstummen zu bringen und harte Interessenspolitik zu verschleiern.
Es ist das Verdienst der Politikwissenschaftler Ivan Krastev und Stephen Holmes, in ihrem Werk über Das Licht, das erlosch mit der Selbstgefälligkeit des Westens abgerechnet zu haben. Dieses Buch ist 2019 erschienen und war in unserer Zeitschrift schon etliche Male Thema. Es liegt unserer geopolitischen Überzeugung zugrunde, daß eine multipolare Weltordnung gegen eine unipolare unter amerikanischer Hegemonialherrschaft nur durchgesetzt werden kann, wenn mit der Nachahmung Schluß gemacht wird.
Um die These zusammenzufassen: Nach dem systemischen Zusammenbruch des Ostblocks und der Berichterstattung über das ganze Ausmaß der diktatorischen Unterdrückung der betroffenen Völker wurde von seiten des Westens Nachahmungsdruck aufgebaut. Man kann das Jahrzehnt bis zur Jahrtausendwende als den Versuch beschreiben, den Anforderungen des Westens gerecht zu werden und den je eigenen Teil dazu beizutragen, daß das Gleichstellungsversprechen eingelöst werde. Die Gutgläubigkeit in die redlichen Motive der Sieger blieb auch dann noch aufrechterhalten, als sich Enttäuschung breitzumachen begann.
Krastev und Holmes machen den großen Fehler des Westens darin aus, daß die Nachahmungsforderung bedingungslos gestellt wurde, also an bedingungslose Kapitulationen erinnerte, nach denen auf lokale Traditionen keine Rücksicht zu nehmen war und hemmungslos Beute gemacht werden durfte. Im Grunde (und die Deutschen werden als »Musterschüler« explizit genannt!) beinhaltete der Nachahmungsdruck auch den Anspruch einer Umerziehung und einer dauerhaften Überwachung der Transformationserfolge in den unterlegenen Ländern.
Diese unausgesetzte Konfrontation mit der eigenen Minderwertigkeit und die Erkenntnis, daß der goldene Westen eine entsetzliche, kalte Kehrseite habe, führten, so Krastev und Holmes, zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Nachahmungsskepsis, Nachahmungsverweigerung und sogar zu dem, was man als Nachahmungsverbot bezeichnen könnte: dem offenen Widerspruch und Widerstand gegen das liberaldemokratische System und gegen die Erzählung vom Ende der Geschichte und zur zunächst fragenden, dann selbstbewußten Formulierung einer aus der eigenen Tradition und Geschichte herrührenden politischen Form.
Rußland sattelt noch eine weitere Spielart obendrauf: die Nachahmung des Verhaltens einer Hegemonialmacht nämlich, die es sich ebenso wie die USA herausnehmen dürfe, vor und neben der eigenen Haustür gewaltsam für Ordnung und Ungestörtheit zu sorgen. Wie weit der Radius »vor der eigenen Haustür« gezogen werden kann, haben die USA unnachahmlich gezeigt. Unnachahmlich?