Kritik der Woche (60): “Lichtungen” von Iris Wolff

Diesen kurzen Roman las ich neulich, in einem Rutsch. Es hätte auch ein anderer sein können, es erscheinen so viele neue Romane, aber Kositza legte mir diesen hin, aus zwei Gründen: Erstens las sie Iris Wolff schon früher und ist begeistert von ihrer Sprache. Zweitens stammt Wolff aus Siebenbürgen in Rumänien, und dort war ich oft – fasziniert von Landschaft, Menschenschlag, Geschichte und den Erzählteppichen, an denen selbst der einfache Bauer, bei dem ich oft war, abends anzuknüpfen begann, einfach so und ohne je fertig zu werden.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Lich­tun­gen erzählt die Geschich­te von Lev und Kato. Bei­de sind in einem Dorf in Nord-­Sie­ben­bür­gen auf­ge­wach­sen, in der Nähe von ­Bis­tritz. Kato ist selt­sam und anders, lebt mit ihrem Vater in einem unauf­ge­räum­ten Haus, das in einem ver­wil­der­ten Gar­ten steht. Eine Mut­ter ist nicht da. Lev erlitt einen Unfall und kann die Bei­ne nicht mehr bewe­gen, nicht mehr belas­ten, und als der Leh­rer ent­schei­det, daß ihm, dem Bett­lä­ge­ri­gen, jemand Tag für Tag die Haus­auf­ga­ben vor­bei­brin­gen sol­le, hofft Lev, es möge nicht die Selt­sa­me sein. Aber natür­lich ist sie es.

Ein paar Wochen spä­ter freut sich Lev auf nichts mehr als auf die täg­li­chen Stun­den mit Kato, und eines Nachts rich­tet er sich aus Angst um sie auf, steht wie­der auf sei­nen Bei­nen, zitt­rig zwar, aber die Lie­be ver­moch­te es. Zig Jah­re spä­ter, nach dem Sys­tem­sturz in ­Rumä­ni­en, wird Lev Kato in Zürich wie­der­fin­den. Dort malt sie mit Krei­de Gemäl­de auf die Stra­ße und lebt davon. Aber dann bre­chen sie zusam­men auf und fah­ren mit Katos Wohn­mo­bil durch Frank­reich, die Küs­te hinunter.

Von der Atmo­sphä­re die­ser Fahrt erzählt Wolff im ers­ten Kapi­tel ihres Romans, von der frü­hes­ten Kind­heits­er­in­ne­rung im letz­ten. Wolff erzählt rück­läu­fig, von der Gene­sung im dritt­letz­ten, vom Unfall im vor­letz­ten Kapi­tel. Man erfährt also immer erst spä­ter, was Vor­aus­set­zung und Anlaß für dies oder das hät­ten sein kön­nen, das gera­de erzählt wor­den ist. Das ist erzäh­le­ri­sches Aus­lich­ten: Das Leben ist jetzt eben so. War­um es so gewor­den ist, das kann man nicht schlüs­sig berich­ten. Es lich­tet sich etwas, wenn man ein­schlä­gi­ge (auch dies ein Wald­ar­bei­ter­wort) Erleb­nis­se erzählt, natür­lich. Aber strin­gent wird ein Lebens­lauf dadurch nicht.

Es gibt eine selt­sa­mer­wei­se auch ­unter uns fast ver­ges­se­ne Gesamt­dar­stel­lung der deut­schen Geschich­te, die der His­to­ri­ker ­Hell­mut ­Diwald ver­faß­te und die 1978 erschien. Diwald erzählt gegen­chro­no­lo­gisch. Sei­ne Geschich­te der Deut­schen beginnt mit dem Kal­ten Krieg und klingt mit Hein­rich I. aus. Erhel­lend sind Diwalds Grün­de für die­ses unge­wöhn­li­che Vor­ge­hen. Der wich­tigs­te lau­tet: Indem man rück­läu­fig erzäh­le, löse man den kau­sa­len Zusam­men­hang zwi­schen frü­he­ren und spä­te­ren Ereig­nis­sen, räu­me also mit dem weit­ver­brei­te­ten Vor­ur­teil auf, daß aus einem bestimm­ten A stets die­ses B und am Ende die­ses Z ent­ste­he, aus Luther also Bis­marck, aus bei­den dann ­Hit­ler, zwingend.

In Diwalds Geschichts­er­zäh­lung und in Wolffs Roman gibt es kei­ne Schuld­zu­wei­sun­gen und kei­ne Fol­ge­rich­tig­keit der Ent­wick­lung. Es kam so, es hät­te auch anders kom­men kön­nen. Das nimmt Wolffs Roman alles Psy­cho­lo­gi­sche und Trau­ma­ti­sche, nicht aber die Her­kunft und das So-Sein: Natür­lich sind Lev und Kato ­Kin­der ihrer Hei­mat, zudem sol­che, die in einer beson­ders har­ten Vari­an­te des Kom­mu­nis­mus ein­ge­sperrt waren und denen man die Nach­wen­de­un­si­cher­heit anmerkt. Aber wie davon erzählt wird, das ist unpo­li­tisch, das ist nicht päd­ago­gisch, nicht the­ra­peu­tisch, nicht recht­fer­ti­gend, es ist ohne Ziel­rich­tung, die immer ein Fin­ger­zeig wäre.

Rück­wärts aus­lich­ten: Lev mit dem Fahr­rad unter­wegs durch Rumä­ni­en, mal bestoh­len, mal auf­ge­nom­men, mal beschenkt, immer irgend­wie auf der Suche nach Kato, die ihn soeben ver­ließ, um mit einem Fahr­rad­glo­be­trot­ter abzu­hau­en aus dem Dorf, kurz nach der Wen­de; Lev und Kato mit dem Auto zu Besuch bei hal­ben Dis­si­den­ten, die einen Gast­hof im Kar­pa­ten­hang betrei­ben; Lev im Wald, mit den gro­ßen Brü­dern als Wald­ar­bei­ter, die Som­mer­mo­na­te über, unter der­ben Män­nern; Lev mit Freun­den im Fluß, Lev in der Schu­le, die er abbre­chen wird; Lev mit dem Onkel auf Kur, ver­liebt, eifer­süch­tig; Lev gelähmt im Bett; Lev, ganz klein, an der Hand des Vaters, der wie­der weg muß, in den Wald …

Man liest so einen Roman nicht, um zu erfah­ren, wie es in Sie­ben­bür­gen war, man liest ihn nicht, weil er lus­tig wäre oder furcht­bar span­nend oder unter­halt­sam. Lich­tun­gen hat die merk­wür­di­ge Schwe­re, die alle Erzäh­lun­gen haben, deren Figu­ren her­kunfts­schwer sind, nicht bela­den, nicht erdrückt, bloß auch nicht ohne Erin­ne­rung, also nicht ober­fläch­lich und gegen­warts­hap­py, son­dern mit dem Bedürf­nis aus­ge­stat­tet, tie­fer zu wurzeln.

Iris Wolff: Lich­tun­gen. Roman, Stutt­gart 2024. 256 S., 24 € – hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (3)

Maiordomus

28. Juni 2024 11:40

Ist Iris Wolff allenfalls die Gattin oder sonstige Bezugsperson Ihres prima und übrigens geistig ganz unabhängigen und mutigen Uwe Wolff? Seine Beiträge im gedruckten Heft freuten mich sehr, bestätigen das weite und breite Niveau auf der Basis einer auf Grundsätzen fundierten Haltung.  

Kositza: Nein!

Kurativ

29. Juni 2024 04:48

Wenn man genug Zeit hat, sind Romane ein unglaublicher Gewinn. Ich erinner mich gerne an die Romane, weche ich in der Jugend gelesen habe. 

Maiordomus

29. Juni 2024 11:27

@Kurativ. Die Zeiten, da Romane so etwas wie grosse biographische Erlebnisse waren, mit Nebenfolgen wie sogar Selbstmorde im Gefolge des Werther, scheinen aber vorbei zu sein. Ein naher junger Verwandter von mir, der nie von sich aus ein Buch liest, aber mühelos Arbeitsblätter und Lehrbuchinhalte reproduzieren kann (z.B. in Literatur was im Internet darüber steht) und alles wiedergeben, was in der Schule verlangt wird, hat soeben an der Schule, die Einstein besuchte, ein besseres Abitur gemacht als das Weltgenie. Der kluge Junge artikuliert jedoch über Fussball hinaus nie irgendwelche geistige oder naturwissenschaftliche Interessen, kann aber, das was heute verlangt wird, problemlos wiedergeben, auch diejenigen Inhalte, mit denen er nicht einverstanden ist, vom Feminismus bis zum Klimaglauben. Zu den wichtigsten langfristigen  Intelligenzfaktoren heute gehört indes, dass man nicht automatisch glaubt, was in der Schule gelernt wird oder durch Lehrbücher vermittelt. Dabei ist noch sehr wichtig, in Aufsätzen politisch unkorrekte Gedanken für sich zu behalten, weil dies als mangelnde Intelligenz gewertet werden kann und Notenabrundung bewirkt. Die Noten bedeuten jedoch, sofern man sich nicht in die Nesseln setzt, bei Aufsätzen genau weiss, was man nicht schreiben darf, durchaus bessere Chancen für das weitere Fortkommen. 

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