Das war und ist eine zentrale Frage, der die schwedische Schriftstellerin Karin Boye in ihrem 1940 veröffentlichten Science-Fiction-Klassiker Kallocain nachging, einem wichtigen Vorläufertext zu George Orwells 1984.
Hauptfigur ist der Chemiker Kall, ein gestandener Familienvater, loyaler Bürger des totalitären Weltstaates und Forscher der Chemiestadt Nr. 4. Als Leser lauschen wir staunend seinem inneren Monolog, den er beständig vor uns und sich selbst zensiert, um nur ja nicht aus dem engen Korsett des gedanklich Erlaubten auszubrechen.
Kall (das heißt im Schwedischen so viel wie „kalt“ oder „gefühllos“) entwickelt nach langjähriger Forschungsarbeit die Wahrheitsdroge Kallocain, die jeden, dem sie injiziert wird, dazu zwingt, vorbehaltlos all seine Gedanken, Gefühle, ja sein gesamtes Innenleben zu offenbaren. Als geltungssüchtiger Mensch brennt er nun darauf, seine Erfindung zur Anwendung zu bringen und in den Dienst des Weltstaates zu stellen, so daß etwa höhere Staatsämter nur nach einer Befragung unter Einfluß der Droge vergeben werden können. Damit soll ausgeschlossen werden, daß Menschen mit fehlender Loyalität in höhere Ämter gelangen:
„‚Ich hoffe, daß es dem Staat zugutekommt‘, sagte ich. ‚Eine Droge, die jeden Menschen dazu verhilft, seine Geheimnisse preiszugeben, alles, was er bisher aus Scham oder Angst in Stille für sich behalten hat.‘“
Ob die Erfindung einer solchen Droge in einem Überwachungsstaat auch negative Folgen haben könnte, ist eine Frage, die sich Kall zu keinem Zeitpunkt zu stellen erlaubt. Er wird daher mißtrauisch, als sein Vorgesetzter Rissen es wagt, die möglichen Folgen einer solchen Erfindung mit einer spitzen Bemerkung anzudeuten:
„Du scheinst ja ein ungewöhnlich gutes Gewissen zu haben“, sprach Rissen trocken, „oder tust du nur so?“
Aus Kalls spärlichen Gesprächen mit seiner Frau Linda können wir erkennen, daß auch sie deutlich hellsichtiger ist als er und, auch wenn sie aus politischen Gründen meistens schweigt, sich dessen bewußt ist, daß sich hinter der Maske braver Weltstaatsbürger nicht nur Einverständnis mit der offiziellen Ideologie verbirgt.
Das „Menschenmaterial“ für die erste Versuchsreihe der Wahrheitsdroge Kallocain stammt aus dem „Freiwilligen-Opfer-Dienst“, einer Gruppierung innerhalb der Chemiestadt Nr. 4, der sich Bürger meist als Jugendliche nach dem Schauen von Propagandafilmen anschließen und die sich fortan als Versuchskaninchen für wissenschaftliche Experimente zur Verfügung stellen. Sie leben nicht allzu lange, denn durch die medizinischen Versuche, die an ihnen durchgeführt werden, tragen sie erhebliche gesundheitliche Schäden davon. Dennoch sind sie in ihrem äußeren Auftreten ideologisch ganz dem Weltstaat verpflichtet.
Die erste Versuchsperson, an der die neue Droge Kallocain getestet wird, ist Nr. 35. Er erscheint mit einem Arm in einer Schlinge im Labor und sieht nicht mehr sonderlich gesund aus. Kall beschwert sich entsprechend bei Rissen, er hätte gerne frischeres Material, doch dieser erklärt ihm, es sei niemand mehr da: In letzter Zeit habe es so viele Experimente mit Giftgas gegeben.
Unter dem Einfluß von Kallocain erklärt Nr. 35 zwar, er habe er sich noch nie so gut gefühlt, die Droge würde ihn endlich von allen inneren Zwängen befreien, aber es bricht auch alles andere hervor: Die Angst, die Verzweiflung und daß er als Angehöriger des „Freiwilligen-Opfer-Dienstes“ keine Frau finden kann. Fast schon verwundert notiert Rissen, daß Kall ernsthaft über die Offenbarungen von Nr. 35 entsetzt ist, und muß intervenieren, damit Kall die politische Unbotmäßigkeit, die Nr. 35 unter Einfluß der Wahrheitsdroge äußert, nicht der Polizei meldet.
Während die Folgeinterviews weitestgehend ähnlich verlaufen und Rissen Meldungen durch Kall weiterhin verhindern kann, kommt es schließlich zu einer folgenschweren Äußerung einer Versuchsperson. Nun setzt sich Kall durch und schaltet doch die Polizei ein.
Unverständliche Informationen sind durchgedrungen, eine der Versuchspersonen hat zugegeben, daß mysteriöse Menschengruppen zusammenkommen und bei ihren Treffen nur schweigen. Weder Kall noch die Polizei können sich einen Reim darauf machen: Menschen, die einfach nur zusammensitzen und kein einziges Wort miteinander sprechen:
„Eine andere Person, ebenfalls eine Frau, konnte uns schließlich ein paar Namen nennen. Wir dachten daher, wir könnten sie wegen der Frage, was für eine Organisation hinter all dem stecke, besonders unter Druck setzen. Ihre Antwort war genauso verwirrend wie die der anderen.
‚Organisation?‘, fragte sie. ‚Wir streben keine Organisation an. Was organisch ist, muß nicht organisiert werden. Ihr baut von außen, wir werden von innen gebaut. Ihr habt mit euch selbst gebaut, als wärt ihr Steine und zerfallt von außen, nach innen. Wir sind von innen heraus gebaut, wie Bäume, und zwischen uns wachsen Brücken, die nicht aus toter Materie und totem Zwang bestehen. Aus uns geht das Lebendige hervor. Durch euch dringt das Leblose ein.‘“
Am Ende ist es die Ehegattin des Protagonisten Kall, die erkennt, daß der totale Staat und die von ihm konservierte gesellschaftliche Utopie nur äußerlich unbesiegbar, innerlich jedoch jederzeit vom Einsturz bedroht sind, denn die Masse der Menschen lehnt den totalen Staat bewußt oder unbewußt ab.
Für Boye sind somit künstlich geschaffene, ins Extrem getriebene gesellschaftliche Zustände – die sich nur noch mittels staatlicher Gewalt und Manipulation aufrechterhalten lassen – eine wesentliche Ursache für das Entstehen totalitärer Systeme. Je extremer ein gesellschaftlicher Zustand ist, je weiter er sich vom Naturrecht entfernt hat, desto größer ist der Aufwand, den der Staat betreiben muß, um diesen Zustand „gesellschaftlicher Utopie“ zu konservieren.
Auch das gegenwärtige „bunte und vielfältige“ Utopia der Bundesrepublik sieht sich trotz oder gerade wegen seiner lautstark propagierten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ zunehmend diesem Dilemma ausgesetzt. Das Pendel ist nach jahrzehntelanger Vorarbeit ins kulturmarxistische Extrem ausgeschlagen; nun möchte die Gesellschaft in ihrer natürlichen Trägheit in die andere Richtung zurück – und schon wird das Gegröle Besoffener zum Fall für den Staatsschutz.
Für die Konservierung einer gesellschaftlichen Utopie ist also auch die Lenkung der Gedanken und Gefühle erforderlich. Entsprechend preist Kall seine Erfindung auf den ersten Seiten des Romans gegenüber der Haushälterin der Familie, die ihn gleichzeitig offiziell im Auftrag des Weltstaates ausspioniert, an:
„Gedanken und Gefühlen gebären Worte und Taten. Wie könnten demnach Gedanken und Gefühle die private Angelegenheit des Einzelnen sein? … Wem gehören also die Gedanken und Gefühle, wenn nicht dem Staat?“
Ähnlich beschrieb auch George Orwell dieses Phänomen im Mai 1941 in seiner Sendung „Literatur und Totalitarismus“; nämlich, daß
totalitäre Staaten stets darauf zielten, mit allen Mitteln die Gedanken und Gefühle ihrer Bewohner mindestens genauso durchgreifend zu kontrollieren, wie ihre Handlungen.
Und so zeigt sich auch heute bei dem Versuch, das umschwenkende Pendel aufzuhalten, daß der Staat zunehmend nicht nur im Hinblick auf die äußere Haltung, sondern vor allem bezüglich der Gesinnung wissen möchte, ob der Bürger der zu konservierenden Utopie loyal gegenübersteht. Symptomatisch hierfür ist die Verwischung der Unterschiede zwischen Worten und Taten durch sprachliche Konstrukte wie „Haßrede“, was vor deutschen Gerichten die absurde Situation schuf, dass die falsche Meinung zur sprachlichen „Gewalt“ wurde und immer öfter härter bestraft wird, als die tatsächliche Gewalttat.
Daß Boye als eine der ersten bekennenden Lesben des 20. Jahrhunderts einen Kultstatus in der „Genderforschung“ genießt, sollte übrigens nicht von der Lektüre ihres bedrückend-genialen Romans abhalten. Im Gegenteil. Kallocain entstand nach Besuchen in der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland. Beide Erfahrungen waren für Kallocain entscheidend.
Während Boye die Sowjetunion als junge Sozialistin besuchte und zutiefst desillusioniert wieder verließ, müssen die Massenspektakel des Nationalsozialismus in Deutschland sie, die mit einer deutschen Jüdin zusammenlebte, auf eine andere Art fasziniert haben. Ihre Biographin Margit Abenius beschreibt den Besuch einer Goering-Rede im Sportpalast:
„Scharp schaute Karin dabei zu, wie sie mit ausgestrecktem Arm komplett fasziniert dastand und den Hitlergruß machte.“
Später schrieb sie über diese Erfahrung, die eruptiven politischen Gefühle hätten „nervöse Krisen in jungen Menschen ausgelöst.“ Und ähnlich wie das im Roman beschriebene Wachsen von innen heraus, bestritt Boye später, Kallocain „geschrieben“ zu haben, vielmehr sei der Roman durch sie hindurch geschrieben worden, sie habe sich bei der Niederschrift als „Empfangende“ erlebt.
Kallocain steht gemäß der offiziellen Literaturwissenschaft in der Reihe der großen „post-christlichen Science-Fiction-Romane“ (Erika Gottlieb), der sogenannten Dystopien, in denen die christliche Frage ewiger Erlösung oder Verdammnis zur weltlichen Frage geworden ist. Angefangen mit dem 1924 das erste Mal in westliche Sprachen übersetzten Roman Wir von Jewgeni Samjatin, der die Utopie des real existierenden Kommunismus der Sowjetunion ins Dystopische übersetzte, gefolgt von Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932) und George Orwells 1984 (1949), weist Boyes Roman aber über all das hinaus.
Boye, die als eine der bedeutendsten schwedischen Schriftstellerinnen gilt (immerhin wurde auf der Venus ein Krater nach ihr benannt), erlebte bereits als Schülerin eine Wandlung vom Buddhismus zum Christentum. Damit haderte sie aber aufgrund ihrer Homosexualität ihr Leben lang, was zu inneren Konflikten führte, die sie in zahlreichen Gedichten verarbeitete. An ihre Freundin Agnes Fellenius schrieb sie, gefangen in diesem für sie unlösbaren Konflikt:
„Ich glaubte, die Welt in einem neuen Licht zu sehen – im Zeichen des Kreuzes, des stellvertretenden Leidens. Gottes Kreuz erstreckt sich durch alle Zeitalter und jeden Raum. Und was ist die heilige Kommunion anderes als eine Initiation ans Kreuz, die neue Vereinigung mit Gott: Man initiiert sich selbst, um anschließend um Seinetwillen einen Teil Seines ewigen Leidens auf sich zu nehmen – um Gottes Kampf in der Welt zu kämpfen: Das ist mit großem Schmerz verbunden.“
Und nein, eine offen christliche Botschaft kennt Kallocain nicht und doch ist da subkutan mehr, als der Einzelne vor die Wahl gestellt wird, entweder sich anzupassen und jegliches Eigensein der gesellschaftlichen Utopie zu opfern oder aber den Weg der Dissidenz zu gehen und dabei sein Leben zu lassen: Es ist ebenfalls von einer Initiation die Rede. Denn da in einem Staat, der selbst über die Einhaltung des korrekten Denkens wacht, die Innenwelt kein Fluchtort mehr ist, bleibt dem Menschen nur noch die geistige Stille. Und es erinnert an den mittelalterlichen Mystiker Heinrich von Seuse, daß nur aus dem Gelassensein in der Stille eine neue Sicht auf die Welt entstehen kann, die alle Fesseln sprengt.
Und so sprechen die unter Einfluß der Droge befragten Weltstaatsbürger davon, daß ihnen aus der Erfahrung der Stille heraus eine Initiierung wiederführe, die sie die Dinge anders sehen läßt und sie in einen geistigen Erkenntnisstand „erwachen“, der aus Sicht des Staates irreversibel ist:
„‚Du hast von Initiation gesprochen‘, antwortete Rissen der Frau, ohne auf mich zu achten. ‚Wie werden Menschen initiiert?‘
‘Ich weiß nicht. Es geschieht einfach. Plötzlich, und dann bist du es. Die anderen merken es, die auch Eingeweihten.“
‚Also kann jeder daherkommen und sagen, er sei eingeweiht? Es muß doch ein Ritual geben, eine Zeremonie – gibt es keine Einweihung in irgendwelche Geheimnisse?‘
‚Nein, nichts dergleichen. Das ist etwas, das du von selbst bemerkst, verstehst du? Denk dir das so: Entweder man ist es oder man ist es nicht – und manche Menschen machen diese Erfahrung nie.‘
‚Aber woran merkt man es?‘
‚Nun, man merkt es in allem – beim Anblick eines Messers und wenn man schläft, und wenn es einem mit heiliger Klarheit dämmert – und vielen anderen Dingen –‘“
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Karin Boye: Kallocain – hier bestellen
Franz Bettinger
Beim Heranziehen des Jahres 1984 begann eine Debatte darüber, welche Elemente des Buches sich als wahr herausgestellt hatten. Ein Artikel von David Goodman 1978 in 'The Futurist' nennt 137 Orwell-Prognosen, von denen 100 bis 1984 eingetroffen waren. In 2024 sind es weit mehr, so der beispiellose Einsatz von Überwachung und permanenter Krieg. Die Gender-Mode definiert Männer als Frauen, Frauen als Männer, Andersdenkende als Ketzer, Kritiker als Faschisten. Es ist bloß noch ein kleiner Schritt zu „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“, „Unwissen ist Stärke“. Da man das Buch heute nicht mehr ganz aus der Welt schaffen kann, deuten die Herrscher es um. Allerdings mit wenig Erfolg.