Kaum war die Identität des Attentäters bekannt, geisterten schon die ersten Zuschreibungen durchs Netz. Er sei als republikanischer Wähler registriert gewesen – aber was soll das bedeuten? Er habe 15 Dollar an die Demokaten gespendet. Er habe das T‑Shirt einer Rifle-Organisation getragen.
(Man kann sich registrieren lassen, spenden, T‑Shirts tragen, auch wenn man das Gegenteil denkt.)
Er sei – berichtet ein Mitschüler – ein Alleingänger gewesen und gemobbt worden. Auch habe er keinen Internetauftritt gehabt und das sei schon sehr verdächtig. Andere wollen ihn in einem Blackrock-Werbefilm als Statisten gesehen haben – ooh! deeper geht’s nimmer. Erste mögliche AI-Videos machen die Runde. Undsoweiter undsofort.
All diese Informationen muß man aufnehmen, aber nicht sofort zu Konklusionen führen, sondern prüfen, speichern, im Hinterkopf bewahren, abwägen, gegeneinander ausbalancieren und dann – am besten dennoch die Klappe halten und weitersammeln. Irgendwann ergibt sich vielleicht ein Bild, aber man kann sicher sein, daß die Gegenseite aus den gleichen Daten ein entgegengesetztes konstruieren wird. Vermutlich mit guten Gründen.
Was wir aber sicher sagen können, ist dies: Wir waren Zeuge eines historischen Momentes, eines jener Beweispunkte, die uns zeigen, daß Geschichte unverfügbar ist, nicht planbar und wesentlich kontingent – in ihrer konkreten Ausformung. Manchmal kann der Zufall nur ein Zucken sein oder – in Zahlen ausgedrückt: ein, zwei Zentimeter.
Und wie so vieles im Leben, war auch dieses Ereignis schon vor seiner aktuellen Präsenz im Film, in der Literatur oder im Comic zu sehen. Frederick Forsyth hatte in seinem Polit-Thriller Der Schakal (1971) das Szenario mit großem suspense-Potential bereits aufbereitet.
Ein Auftragskiller sollte Charles de Gaulle ermorden. Die Polizei ist ihm schon lange auf den Fersen, aber er kommt doch zum entscheidenden Schuß. Im Visier de Gaulles Kopf, aber just im entscheidenden Moment beugt sich der General nach vorn, die Kugel rauscht an seinem Ohr vorbei. Zu einem zweiten Schuß kommt der Killer nicht mehr – es trifft ihn die Polizeikugel. Fred Zinnemann hatte das Buch verfilmt und die Szene eindrucksvoll inszeniert.
Wie sähe Frankreich heute aus, wenn die Kugel ihr Ziel gefunden hätte? Das ist die Frage, die sich der Leser oder Seher auch 50 Jahre später noch stellen kann. Aus ihr ziehen solche Produkte ihren Wert.
Aber es gibt neben dem fehlenden Zentimeter noch einen anderen großen Unterschied: die Rolle der Kamera. Damals waren es Filmkameras, die die Szene festhielten. Vielleicht hätte es – wie beim Kennedy-Attentat – auch ein, zwei verwackelte Aufnahmen gegeben. Heute aber wird ein solches Ereignis hundertfach und aus allen möglichen Winkeln aufgezeichnet und manchmal in solch bestechender Qualität, daß man die verwirbelte Luft des Geschosses, das Trumps Ohr soeben gestreift hat, zu sehen vermeint.
Schon in dieser Mikrofrage scheiden sich die Geister: kann das Bild echt sein oder ist es fake? Auch das ist eine neue Dimension in unseren Zeiten: wir können den Bildern – je besser sie werden – immer weniger trauen.
Man stelle sich stattdessen vor, wie Trumps Hirn im Millisekundentakt durch die Gegend fliegt, der Kennedy-Moment ins Unendliche gedehnt. Doch selbst diese Bilder könnten unserem Bildervorrat nichts mehr hinzufügen – all das haben wir schon gesehen: im Film und in unserer Phantasie. Die Zukunft hat schon stattgefunden, und man kann zugleich eine andere Vergangenheit prophezeien (Sloterdijk).
Darüber haben Denker wie Derrida, Baudrillard, Virilio und andere intensiv nachgedacht. Sie werden heute nicht mehr gelesen, weil man sie für Postmoderne hält und das ein Schimpfwort geworden ist, weil man sie für Vertreter der Dekonstruktion hält und man den Begriff aus Unverständnis auf Destruktion und Konstruktion, sprich Beliebigkeit, verkürzt.
Verschwörungstheoretisches Denken ist noch immer historisches Denken, ist zweiwertiges Denken – noch nicht mal dialektisch; es denkt noch immer nicht zukünftig, aus der zukünftigen Vergangenheit heraus, ja nicht einmal zeitgenössisch denkt es, als Genosse der Zeit, geschweige denn symbolisch, simulakrisch, futurmythologisch.
Wir werden immer schon zu dumm gewesen sein.
Die konstitutive Zeit der Geschichte ist nicht das Präteritum, sondern das Futur II. Der Trump-Attentäter ist selbst aufschlußreiches Beispiel. Mutmaßlich wollte er Trump verhindern – und hat vielleicht das Gegenteil erreicht: den Trump-Triumph. Was ein historisches Ereignis letztlich bedeutet, kann erst die Zukunft bestimmen, und auch nur dann, wenn sie zu Ende ist.
Geschichte wird von großen Männern gemacht, sagen die einen. Geschichte wird von den Massen gemacht, sagen die anderen. Geschichte unterliege Entwicklungsgesetzen und die seien erkennbar – auch das wird geglaubt. Geschichte sei Chaos und vollkommen unberechenbar, lautet die Gegenposition. Und Vieles dazwischen.
Geschichte kann auch von Niemanden gemacht werden, wenn man ihnen nur im richtigen Augenblick die richtigen Mittel in die Hand gibt. Uns selbst, wenn sie scheitern, haben sie noch Geschichte gemacht, indem sie sie nicht gemacht haben.
Die Folgen bleiben in jedem Fall im Dunkel der sich erst sukzessive aufhellenden Zukunft. Schon meint man, Trumps Wahlsieg sei nun sicher. Aber auch das genaue Gegenteil kann möglich sein und noch wissen wir nicht, welche unmittelbaren und erst recht nicht, welche langfristigen Folgen sich ergeben werden. Schon morgen kann ein anderer Niemand den Lauf erneut umbiegen.
Nur die große Tendenz wird davon nicht beeinträchtigt werden, und die hat Goethe letztgültig in die Zeilen gegossen: „Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht“. Unfaßbar tief bleibt dieses: „ist wert“. Mehr muß man im Leben nicht begreifen, darüber hinaus gibt es nur Gestochere.
Was wir jetzt schon wissen können: Bald wird es keinen Biden und keinen Trump mehr geben – und auch uns nicht mehr. Und es wird etwas bedeuten, bedeutet haben.
Dr Stoermer
Vielleicht besteht die Historizität des Moments nicht so sehr in der Unwahrscheinlichkeit der Trefferqualität, sondern darin, wem hier was gezeigt werden konnte und wer es hinnehmen musste, ohne es ansprechen zu können.