Iwan Iljin und der gewaltsame Widerstand

PDF der Druckfassung aus Sezession 118/ Februar 2024

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Iwan Alex­an­d­ro­witsch Iljin wur­de nach dem julia­ni­schen Kalen­der am 28. März, nach dem gre­go­ria­ni­schen am 9. April 1883 als Sproß einer aris­to­kra­ti­schen Fami­lie in Mos­kau gebo­ren. Nach sei­nem Stu­di­um der Rechts­wis­sen­schaf­ten und der Phi­lo­so­phie begab sich Iljin auf eine aus­ge­dehn­te Rei­se nach Deutsch­land und debat­tier­te mit den aka­de­mi­schen Grö­ßen sei­ner Zeit.

Dazu gehör­ten Georg Jel­li­nek in Hei­del­berg, Hein­rich Rickert in Frei­burg, Edmund Huss­erl in Göt­tin­gen und Georg Sim­mel in Ber­lin. Wäh­rend der Revo­lu­ti­ons­wir­ren ver­tei­dig­te Iljin sei­ne Dis­ser­ta­ti­on über Die Phi­lo­so­phie Hegels als Leh­re von der Kon­kret­heit Got­tes und des Men­schen.

Als ein­ge­schwo­re­ner Geg­ner der Bol­sche­wi­ki enga­gier­te sich Iljin im Bür­ger­krieg auf der Sei­te der Wei­ßen. Er wur­de sechs­mal ver­haf­tet und schließ­lich zum Tode ver­ur­teilt. Das Urteil wur­de zwar nicht voll­streckt, er muß­te Sowjet­ruß­land aber auf einem der »Phi­lo­so­phen­schif­fe« ver­las­sen (gemein­sam mit Niko­lai Berdja­jew, Ser­gej Tru­bez­koi und Simon Frank). Er kam am 26. Sep­tem­ber 1922 in Stet­tin an und zog ein Jahr spä­ter nach Ber­lin, um an Niko­lai Berdja­jews »Reli­gi­ons­phi­lo­so­phi­scher Aka­de­mie« tätig zu sein. In die­ser Zeit wur­de er zu einem der wich­tigs­ten Vor­den­ker der Wei­ßen Bewe­gung im Exil.

Wie vie­le ande­re kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­re Den­ker sah er 1933 in Adolf Hit­ler zunächst einen »Ver­tei­di­ger Euro­pas« gegen den Bol­sche­wis­mus – sei­ne Hegel­lek­tü­re hat­te ihn nicht davor gefeit. Der dia­lek­ti­sche Drei­schritt der angel­säch­si­schen Hin­ter­grund­ak­teu­re als »Geschichts­plan­ver­wal­ter« (Odo Mar­quard) sah vor, den Faschis­mus gegen den Bol­sche­wis­mus aus­zu­spie­len, um mit der Syn­the­se der uni­po­la­ren west­li­chen Welt­ord­nung davon­zu­zie­hen. Mög­li­cher­wei­se erklärt die­se zu spä­te Erkennt­nis Iljins sein Abrü­cken von bestimm­ten Gedan­ken sei­ner frü­hen Schaffens­periode, wovon wei­ter unten zu reden sein wird.

Durch die Ver­mitt­lung des Kom­po­nis­ten Ser­gej Rach­ma­ni­now gelang es Iljin und sei­ner Frau, 1938 in die Schweiz zu über­sie­deln und sich in Zol­li­kon bei Zürich nie­der­zu­las­sen. Die Schwei­zer Auf­ent­halts­be­wil­li­gung ver­bot ihm jeg­li­che poli­ti­sche Tätig­keit, hin­der­te ihn jedoch nicht, im stil­len eine Ver­fas­sung für das post­kom­mu­nis­ti­sche Russ­land aus­zu­ar­bei­ten. 1938 grün­de­te er in Locar­no Mon­ti die Geheim­ge­sell­schaft »Wei­ßer Kon­greß« und stell­te im Janu­ar 1939 in die­ser geschlos­se­nen Orga­ni­sa­ti­on in Genf sein Pro­jekt eines Grund­ge­set­zes für das rus­si­sche Impe­ri­um vor.

Iwan Alex­an­d­ro­witsch Iljins über 50 Bän­de umfas­sen­des Werk durf­te in der Sowjet­uni­on nicht rezi­piert wer­den. 1925 war sein Haupt­werk, Über den gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse, bereits in Ber­lin in rus­si­scher Spra­che erschie­nen und lös­te dort wie in Iljins Hei­mat allen Zen­sur­maß­na­men zum Trotz eine erheb­li­che Kon­tro­ver­se aus. Die­se ist in der deut­schen Erst­über­set­zung von Sascha Ruden­ko, die Ador­ján Kovács 2018 mit gro­ßer Sorg­falt her­aus­ge­ge­ben hat und die in der Edi­ti­on Hagia Sophia erschie­nen ist, aus­führ­lich dokumentiert.

Die Ver­le­ger die­ser Edi­ti­on haben es sich zur Auf­ga­be gemacht, Iljins Schrif­ten dem deutsch­spra­chi­gen Publi­kum zugäng­lich zu machen – so sind dort bereits die wich­tigs­ten von Iwan Iljin selbst auf deutsch geschrie­be­nen, jahr­zehn­te­lang ver­grif­fe­nen Bücher in Neu­aus­ga­ben erschie­nen: Ich schaue ins Leben (Erst­aus­ga­be Ber­lin 1938), Die ewi­gen Grund­la­gen des Lebens (zuerst Zürich 1939), Das ver­schol­le­ne Herz. Ein Buch stil­ler Betrach­tun­gen (zuerst Bern 1943), Wesen und Eigen­art der rus­si­schen Kul­tur (das erst­mals in Zürich 1942 erschien und 2017 sowie 2018 zwei Neu­auf­la­gen in der Edi­ti­on Hagia Sophia erfuhr, in Ruß­land aber seit den 2000er Jah­ren als Grund­la­gen­text des eura­si­schen »Gro­ßen Erwa­chens« stu­diert wird) und ganz aktu­ell Vom geis­ti­gen Sinn des Krie­ges (zwei Auf­sät­ze von 1914/15, deut­sche Über­set­zung 2024).

Im Okto­ber 2005 wur­den – auf Initia­ti­ve des kon­ser­va­ti­ven Regis­seurs Niki­ta Mich­al­kow – Iljins sterb­li­che Über­res­te aus der Schweiz nach Mos­kau über­führt und im Dons­koi-Klos­ter erneut bei­gesetzt. Der rus­si­sche Prä­si­dent Wla­di­mir Putin war bei die­ser Zere­mo­nie per­sön­lich zuge­gen. ­Iljins Nach­laß wur­de mit Mit­teln des Olig­ar­chen Wik­tor Wek­sel­berg auf­ge­kauft und der Mos­kau­er Uni­ver­si­tät übergeben.

Putin sag­te Ende 2023 in sei­ner tra­di­tio­nel­len, kurz vor Mit­ter­nacht im Fern­se­hen von gro­ßen Tei­len des Vol­kes ange­hör­ten Neu­jahrs­an­spra­che, er wol­le sich »heu­te an unse­re Mili­tär­an­ge­hö­ri­gen wen­den – an alle, die heu­te kampf­be­reit Wache ste­hen, sich an der vor­ders­ten Front der Schlacht für die Wahr­heit und die Gerech­tig­keit befin­den«. Seit 2004 hat­te er sich in Anspra­chen wie­der­holt ganz ähn­lich zitie­rend auf Iwan Iljin bezo­gen, was im Wes­ten sofort den Reflex aus­lös­te, Iljin nun genau­so wie Alex­an­der Dugin als »Staats­phi­lo­so­phen« und »Groß­macht-Chau­vi­nis­ten« zu mar­kie­ren: »Mit den Vor­stel­lun­gen der ›Rus­si­schen Welt‹, wie sie im Prag und Ber­lin der zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­re her­bei­phan­ta­siert wur­den, wer­den geo­po­li­ti­sche Ansprü­che Ruß­lands legitimiert.«

Was ist »die Schlacht für die Wahr­heit und die Gerech­tig­keit«? Eine Pro­pa­gan­da­phra­se wie der ame­ri­ka­ni­sche »war to end all wars«? Bei Iljin fin­det sich ein Hin­weis dar­auf, daß der Pro­pa­gan­da­phra­se ein Wesens­zug der rus­si­schen Kul­tur zugrun­de liegt: »Der Rus­se ist voll Zuver­sicht, daß, wenn er in sei­nem natio­na­len Kampf unter­liegt, die­se Nie­der­la­ge nur das ›ers­te‹ Kapi­tel sei­nes Rin­gens aus­macht; das ›zwei­te‹ Kapi­tel wird Läu­te­rung und Kräf­te­sam­meln hei­ßen; das ›drit­te‹ – Sieg, Befrei­ung, Auferstehung.«

Iljin sieht die Ver­schmel­zung aus dem Blick­win­kel des Phi­lo­so­phen, der gelernt hat, die eige­ne Per­spek­ti­ve aus der frem­den zu betrach­ten, selbst als eine »merk­wür­di­ge Eigen­schaft der Ortho­do­xie«, näm­lich »ein kind­lich-andäch­ti­ges Ernst-Neh­men des christ­li­chen Maxi­mums in Dog­ma, in Ver­hei­ßung und Praxis.«

Nicht aus­ge­schlos­sen ist, daß der Streit um Iwan Iljins Gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse eben­die­ser Merk­wür­dig­keit der Ortho­do­xie geschul­det war. Das Kern­pro­blem des Buches ist die Legi­ti­mie­rung äuße­rer Gewalt­an­wen­dung vor Gott – die­se rea­li­siert sich einer­seits seit zwei Jahr­tau­sen­den in den Hee­ren des christ­li­chen Abend­lan­des und der Seg­nung der Waf­fen durch die Bischö­fe und Patri­ar­chen, ande­rer­seits ist der Christ ange­wie­sen, die lin­ke Wan­ge hin­zu­hal­ten, wenn er auf die rech­te geschla­gen wird, sich also in der Nach­fol­ge Jesu Chris­ti jeg­li­cher Gewalt zu enthalten.

In einem Brief an den deutsch­stäm­mi­gen rus­si­schen Sozia­lis­ten und Weiß­gar­dis­ten Peter Stru­we (1870 – 1944), den der Her­aus­ge­ber zitiert, faßt Iljin die The­se sei­nes Buches zusam­men: »Das Buch ist nicht als Anti­these zu Tol­stoi gedacht, son­dern wie Anti­the­se + Syn­the­se der rich­ti­gen Lösung: Wider­ste­he immer mit­tels der Lie­be: a.) durch Selbst­ver­voll­komm­nung, b.) durch geis­ti­ge Erzie­hung der ande­ren, c.) durch das Schwert. Ich such­te […] den Beweis dafür zu brin­gen, daß der Schwert­trä­ger zur Lie­be nicht weni­ger, son­dern mehr fähig ist als der Wider­stands­lo­se. Kurz, ich such­te die Lösung auf die Fra­gen, die Lösung, die vor dem Ant­litz Got­tes reli­gi­ös rich­tig ist; ich den­ke, daß sie in dem alten Geis­te der Ortho­do­xie ent­hal­ten war.«

Das Bild des Schwer­tes im Evan­ge­li­um ist indes genau­so leicht fehl­zu­deu­ten wie der Begriff der Gewalt, für den es steht. »Ich bin nicht gekom­men, Frie­den zu brin­gen, son­dern das Schwert«, sagt der Chris­tus des Mat­thä­us­evan­ge­li­ums (Mt 10,34), und im Johan­nes­evan­ge­li­um macht er »eine Gei­ßel aus Stri­cken und trieb alle zum Tem­pel hin­aus« (Joh 2,15). ­Iljin bezieht sich im Gewalt­sa­men Wider­stand posi­tiv auf die­se Schrift­stel­len (er stellt die letzt­ge­nann­te dem Buch sogar als Mot­to vor­an) sowie auf den stra­fen­den Gott des Alten Tes­ta­ments. Er sieht sein Argu­ment in einer »gene­ri­schen, his­to­ri­schen Suk­zes­si­on«, die »mit beson­de­rer Klar­heit die Halt­lo­sig­keit jener [ent­larvt], die ›prin­zi­pi­ell‹ die äuße­re Nöti­gung und Unter­drü­ckung verleugnen.«

Wenn es im Mat­thä­us­evan­ge­li­um wei­ter heißt: »Das Him­mel­reich lei­det Gewalt, und nur die Gewalt anwen­den, rei­ßen es an sich« (Mt 11,12) – ist dann Gewalt­an­wen­dung nicht prin­zi­pi­ell legi­tim? Iwan Iljin begrün­det »äuße­re Nöti­gung und Unter­drü­ckung« des Fein­des, also die rea­le, buch­stäb­li­che Anwen­dung von Gewalt gegen ihn (bis hin zum »Akt der Men­schen­tö­tung«), ers­tens damit, daß die­se ver­hin­dern, daß »der gege­be­ne Mensch die gege­be­ne Übel­tat voll­zieht, sie hal­ten die­sen bösen Wil­len in sei­ner bösen Aus­rich­tung auf«; zwei­tens das »Fern­hal­ten aller ande­ren Men­schen von der Übel­tat« und drit­tens, »von dem Weg der Übel­tä­ter alle Men­schen fern­zu­hal­ten, die ver­führt oder ver­lockt wer­den können«.

Er schil­dert die exis­ten­ti­el­le Situa­ti­on eines Men­schen, der sich genö­tigt sieht zur Gewalt gegen einen bösen Feind, bis in die Extre­me hin­ein: das inne­re Extrem der höchs­ten Gewis­sens­not, das äuße­re Extrem der Ermor­dung des Fein­des. Auch hier lie­ße sich sein »kind­lich-andäch­ti­ges Ernst-Neh­men« wie­der­fin­den, er ist kei­nes­falls der poli­ti­sche Agi­ta­tor, der »mit Ver­gnü­gen die Hin­rich­tung recht­fer­tigt« (Berdja­jew). Er durch­denkt die Sün­de des gewalt­sa­men Kamp­fes als Sün­de und leug­net ihre Sünd­haf­tig­keit nicht. Wer sie auf sich neh­me, so Iljin, tra­ge »die beson­de­re Bür­de der unaus­weich­li­chen Unge­rech­tig­keit, der mög­li­chen Sünd­haf­tig­keit und der wahr­schein­li­chen Schuld­haf­tig­keit«, er müs­se als Mensch inner­lich »rei­ner und höher sein als sein Kampf«, nach dem Schul­dig-Wer­den habe sein Leben für­der­hin in unab­läs­si­ger Läu­te­rung zu bestehen.

Die dama­li­gen reli­giö­sen Haupt­kon­tra­hen­ten Iljins, Sina­ida Hip­pi­us und Niko­lai Berdja­jew (die bol­sche­wis­ti­sche und die libe­ra­le Kri­tik ver­ste­hen sich im Grun­de von selbst), bekämpf­ten in ihren Arti­keln mit ener­gi­schen Wor­ten den Gewalt­sa­men Wider­stand, sie wir­ken regel­recht kon­ster­niert. »Gewalt ist Gewalt, Mord ist Mord, und zu bewei­sen, daß aus christ­li­cher Per­spek­ti­ve dies kei­ne ›Sün­de‹ ist, son­dern irgend­ei­ne ›sün­den­lo­se Unge­rech­tig­keit‹ – darf man nicht, wie­viel man sich auch anzu­stren­gen ver­mag«, schreibt Hip­pi­us und wirft ihm vor, »die Reli­gi­on für poli­ti­sche Zwe­cke« zu miß­brauchen. Berdja­jews Ein­wand ist (neben aller Pole­mik über den »christ­li­chen Tsche­kis­ten«) tie­fer­ge­hend: Er wirft Iljin vor, das Böse aus der Welt schaf­fen zu wol­len, was zum einen nie­mals durch phy­si­schen Wider­stand, schon gar nicht durch ein Indi­vi­du­um, mög­lich ist, zum ande­ren aber mache »die Ableh­nung der Frei­heit des Bösen das Gute zu einer Zwangsmaßnahme«.

Bei der Gefan­gen­nah­me Chris­ti zückt Petrus sein Schwert gegen einen der Hohe­pries­ter. Dafür ern­tet er die schärfs­te Zurück­wei­sung des gesam­ten Evan­ge­li­ums: »Weg von mir, Satan, du denkst nicht die Gedan­ken Got­tes, son­dern die der Men­schen!« (Mt 16,23) Petrus hat­te beab­sich­tigt, den Herrn durch gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse zu ver­tei­di­gen. Die­se Absicht ent­springt gera­de nicht den »Gedan­ken Got­tes«, son­dern ent­spricht den Zustän­den in der Men­schen­welt: »Denn alle, die das Schwert ergrei­fen, wer­den durch das Schwert umkom­men.« (Mt 26,52)

Die­se Kau­sa­li­tät ist das eher­ne Gesetz der Men­schen­welt. Auch das Kern­ar­gu­ment des Iljin­schen Buches ver­bleibt dar­in, inso­fern er hier rein fol­gen­ethisch denkt. Alle drei Argu­men­te im Begrün­dungs­ka­pi­tel gehen davon aus, anti­zi­pier­ba­re Hand­lungs­fol­gen zu ver­hin­dern: daß »der gege­be­ne Mensch die gege­be­ne Übel­tat voll­zieht, sie hal­ten die­sen bösen Wil­len in sei­ner bösen Aus­rich­tung auf«, sowie das »Fern­hal­ten aller ande­ren Men­schen von der Übel­tat« und »von dem Weg der Übel­tä­ter alle Men­schen fern­zu­hal­ten, die ver­führt oder ver­lockt wer­den können«.

Doch die­se Fol­gen kann ein Indi­vi­du­um nie­mals vor­weg­neh­men. Viel­mehr unter­stellt das Indi­vi­du­um, daß ein bestimm­ter, als Übel­tä­ter iden­ti­fi­zier­ter ande­rer Mensch (und ande­re, die sich an ihm ein Bei­spiel neh­men könn­ten) so und so han­deln wür­de, daß die­se Hand­lun­gen die und die Fol­gen hät­ten und daß die Eli­mi­na­ti­on des poten­ti­el­len Übel­tä­ters für ihn selbst und für ande­re segens­reich wäre.

Ein sol­ches Wis­sen über Fol­gen ist nicht nur men­schen­un­mög­lich, son­dern es ist vor allem Aus­druck eines Ver­har­rens im unbarm­her­zi­gen Kau­sal­ge­setz des Schwer­tes, weil es der Gna­de vor­greift, also die »Gedan­ken Got­tes« eben­falls eli­mi­nie­ren will. Jesus Chris­tus bezeich­net just die­ses Ver­har­ren als sata­nisch. Die Mat­thä­us-Schrift­stel­le »Ich bin nicht gekom­men, Frie­den zu brin­gen, son­dern das Schwert« geht genau in die­sem Geis­te wei­ter: »Denn ich bin gekom­men, den Sohn zu ent­zwei­en mit sei­nem Vater […] und die Fein­de des Men­schen sind sei­ne Haus­ge­nos­sen.« (Mt 10,35 f.)

Das Schwert ent­zweit die Beken­ner und die Ver­rä­ter – wer den Kampf der Beken­ner auf sich nimmt, wird um Chris­ti wil­len lei­den müs­sen. Der Riß, den das Schwert schlägt, trennt die Him­mel­rei­che, die Völ­ker und Natio­nen, die Fami­li­en, die Ein­zel­see­len. Wenn das »Him­mel­reich Gewalt lei­det, und nur die Gewalt brau­chen, rei­ßen es an sich«, bezieht sich das Wort auf die Gewalt, die sich der Mensch selbst antun muß, um dem eher­nen Gesetz der Men­schen­welt zu entrinnen.

Wie ist dem Bösen aber dann Wider­stand ent­ge­gen­zu­set­zen? Die Tol­stoi-­Op­ti­on der völ­li­gen »Wider­stands­lo­sig­keit« schei­det aus. Iwan Iljin ver­wen­det gro­ße Mühe, dage­gen anzu­ren­nen. Er macht im Anfangs­ka­pi­tel klar, daß gänz­li­che Wider­stands­lo­sig­keit absur­der­wei­se bedeu­ten wür­de, daß »das Böse will­kom­men wäre«, und gesteht zu, daß es sich bei Tol­stois Leh­re ledig­lich um eine »beson­de­re Art des Wider­stan­des« han­delt, der in die »inne­re Welt des Men­schen ver­la­gert« wird. Daß der Auf­ruf zum inne­ren Wider­stand miß­ver­ständ­lich sein kann und sei­ne Anhän­ger leicht unter den Fei­gen und Lau­en, den Pazi­fis­ten, Defä­tis­ten und Huma­ni­täts­du­se­li­gen rekru­tiert, befand Iljin schon 1925. Um so schwe­rer hat es der inne­re Wider­stand nach einem Jahr­hun­dert wei­te­ren Fort­schritts des »mora­lisch-the­ra­peu­ti­schen Deis­mus« (Rod Dreher).

Iljin ist inso­fern ein »Anti-Tol­stoi«, als er des­sen Ethik der christ­li­chen Opfer­be­reit­schaft, die vom Indi­vi­du­um inne­ren Kampf gegen die nie­de­ren Trie­be ver­langt und äuße­ren (poli­ti­schen, krie­ge­ri­schen, not­wehr­haf­ten) Kampf für unver­ein­bar mit dem christ­li­chen Lie­bes­ge­bot hält, ener­gisch wider­spricht. Er argu­men­tiert schon in Vom geis­ti­gen Sinn des Krie­ges gegen Tol­stoi, daß der Mensch sich selbst opfern kann und auch soll, nicht aber das Recht hat, ein höhe­res Gut wie sein Volk oder das geis­ti­ge Erbe des Vater­lan­des durch Wider­stands­lo­sig­keit gegen­über dem Feind zu opfern.

Der Wider­spruch zwi­schen Tol­stoi und Iljin liegt mei­nes Erach­tens in einem fol­gen­rei­chen Kate­go­rien­feh­ler bei­der Phi­lo­so­phen begrün­det: der Ebe­nen­über­schrei­tung zwi­schen Indi­vi­du­al­mo­ral und Staats­mo­ral. ­Tol­stoi sieht alle Ein­zel­men­schen dem »Gesetz der Lie­be« unter­ge­ord­net, dem bösen »Gesetz der Gewalt« dage­gen den Staat und die Poli­ti­ker. Er aner­kennt in der Kon­se­quenz weder die Not­wen­dig­keit des Gewalt­mo­no­pols noch der Selbst­ver­tei­di­gung des Staa­tes im Krieg. Iljin hin­ge­gen recht­fer­tigt mit dem »objek­ti­ven Wert« des höhe­ren Gutes (Volk, Staat, geis­ti­ges Erbe) das vor­sätz­li­che Schul­dig­wer­den des Indi­vi­du­ums (»offen und bewußt eine neue Schuld auf sich zu nehmen«).

»Die spi­ri­tu­el­le Recht­fer­ti­gung des Krie­ges wird durch die Moti­ve bestimmt, die ein Volk zum Krieg geführt haben. Sage mir, wofür du den Krieg begon­nen hast, und war­um du ihn führst, und ich wer­de dir sagen, ob du recht oder unrecht hast.« Wer ist der Adres­sat die­ser Fra­ge? Das Volk oder der ein­zel­ne Mensch? Wer urteilt über Recht und Unrecht? Indi­vi­du­al­mo­ral und Staats­mo­ral fal­len im Gewis­sen des ein­zel­nen zusam­men, doch weder kann die Staats­mo­ral das Gewis­sen erleich­tern noch die Indi­vi­du­al­mo­ral durch das gehei­lig­te höhe­re Motiv außer Kraft gesetzt werden.

Iljin hat es nicht bei den Welt­kriegs-Essays der Jah­re 1914/15 und beim Gewalt­sa­men Kampf gegen das Böse bewen­den las­sen, son­dern er hat wei­ter­ge­dacht, sowohl die ein­gangs erwähn­ten staats- und kul­tur­theo­re­ti­schen Schrif­ten als auch sein erbau­li­ches Werk kün­den davon. Aus letz­te­rem sticht vor allem Das ver­schol­le­ne Herz von 1943 her­vor. Unter der Über­schrift »Er haßt mich« fin­det der Leser dort ein ergrei­fen­des Stück christ­li­chen Exis­ten­tia­lis­mus, das schritt­wei­se auf­ge­baut ist. Ein Schritt liest sich bei­spiels­wei­se so: »Frem­de Gefüh­le kön­nen wir natür­lich nicht beherr­schen, und es ist durch­aus nicht leicht, den rich­ti­gen Weg zu fin­den und die für den Sieg not­wen­di­ge Kraft auf­zu­brin­gen. Eines weiß ich jedoch, näm­lich, daß die­ses fins­te­re Licht aus­ge­hen muß. Er muß sich mit mir abfin­den, aus­söh­nen. […] Womit könn­te ich das ver­schul­det haben, daß wir nun bei­de lei­den, – er, der Has­sen­de, und ich, der Gehaßte?«

Ein ande­rer Text im sel­ben Band wid­met sich »Mei­ner Schuld«: »Die See­le wird wie von einem krampf­haf­ten Bedürf­nis erfaßt, die Schuld zu leug­nen, abzu­schüt­teln, auf einen ande­ren abzu­wäl­zen und – die Haupt­sa­che – nicht bloß ande­ren Men­schen, son­dern sich selbst, ja, ja, sich selbst, zu bewei­sen, ›daß ich frei daste­he‹ und daß ›ich mir auch wirk­lich gar nichts zuschul­den kom­men ließ‹ […]. Der­je­ni­ge, der mir nicht trau­en will und mich immer wie­der ver­däch­tigt – das bin ja ich selbst! Also muß ich doch etwas von mei­ner Schuld wis­sen, von der ich nichts wis­sen will … Über­rascht und ergrif­fen von die­sem Gedan­ken ste­he ich stil­le, und die Flucht vor der eige­nen Schuld hört auf.«

Die­se radi­ka­le Indi­vi­du­al­mo­ral ist untaug­lich als Staats­mo­ral. Weder darf ich als Phi­lo­soph mit Tol­stoi Staat und Heer an der Indi­vi­du­al­mo­ral mes­sen und als böse ver­wer­fen, noch darf ich mit Iljin den »gewalt­sa­men Wider­stand«, wel­cher Auf­ga­be des Staa­tes und des Hee­res ist, der Gewis­sens­ent­schei­dung des Indi­vi­du­ums über­ant­wor­ten. Denn daß der Krieg zur con­di­tio huma­na gehört, darf weder pazi­fis­tisch geleug­net noch als »spi­ri­tu­el­ler Auf­schwung der See­le« dem Indi­vi­du­um ein­sug­ge­riert werden.

Als ich Über den gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse 2018 gele­sen habe, stand ich ganz im Ban­ne der Ein­drü­cke und poli­ti­schen Fol­gen der Mas­sen­ein­wan­de­rung drei Jah­re zuvor. Im Vor­wort wur­de ich auf uns als »zur Selbst­auf­ga­be Erzo­ge­ne« und auf die »aktu­el­le Wehr­lo­sig­keit Euro­pas« hin­ge­wie­sen, im Nach­wort von Fran­zisk Yav­ti­l­ov direkt auf den Islam als das »nach Iljins Maß­stä­ben wohl unzwei­fel­haf­te Böse«, und las das Buch ent­spre­chend begeis­tert: End­lich ein christ­li­cher Gewähr­s­au­tor für unse­ren poli­ti­schen Widerstand!

Die­se Begeis­te­rung war mein Feh­ler. Denn in der Begeis­te­rung habe ich die Iden­ti­fi­zier­bar­keit des Bösen für eine aus­ge­mach­te Sache gehal­ten. Dar­aus ergab sich ein fol­gen­ethi­scher Fehl­schluß: Ganz klar – was heu­te unse­ren gewalt­sa­men Wider­stand ver­langt, weil die Kon­se­quen­zen der Isla­mi­sie­rung des Abend­lan­des für uns uner­träg­lich wären, ist das Böse.

Doch der Kampf gegen das aus­fin­dig gemach­te äuße­re Böse gebiert mit der Not­wen­dig­keit des eher­nen Geset­zes selbst das Böse in mir. Es erscheint (neben vie­len ande­ren Gestal­ten) auch in der Wei­se der Hof­fart: sich selbst für bereits geläu­tert genug zu hal­ten, die Sün­de der Eli­mi­nie­rung des bösen Fein­des auf sich neh­men zu kön­nen, zum Schwert grei­fen zu dür­fen oder dazu auf­zu­ru­fen, weil man selbst »rei­ner und höher als sein Kampf« zu sein wähnt. Der Mensch ist sei­ner Natur nach viel zu nied­rig und unlau­ter, um den gewalt­sa­men Kampf gegen das Böse woan­ders als in sich selbst zu beginnen.

Wäre es nicht beein­dru­ckend, wenn Iljin selbst in sei­nem Gesamt­werk davon Zeug­nis abge­legt hät­te? In Die ewi­gen Grund­la­gen des Lebens (1939) nennt er die »Haupt­ent­stel­lun­gen des Gewis­sens­er­leb­nis­ses«: »Ers­tens, Ver­drän­gung des Gewis­sens­ak­tes bis zur Ver­sto­ckung der See­le; zwei­tens, Degra­die­rung des Gewis­sens­ak­tes durch kom­pro­miß­mä­ßi­ge Anpas­sung, durch will­kür­li­che Aus­le­gung und Umdeu­tung sei­ner Inhal­te.« Sie zu über­win­den erfor­dert einen wah­ren mili­tem chris­tia­num.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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