Einerseits, in offizieller Wahrnehmung, erscheint Deutschland als ein politisch zur Zufriedenheit verpflichtetes Land. Es wurde für immer mehr „Teilhabe“ und „Gerechtigkeit“, insbesondere ja „Bildungsgerechtigkeit“ gesorgt; die Idee der „Inklusion“ bestimmt nicht nur die Schulen, sondern im Sinne von „Antidiskriminierung“ die Gesamtgesellschaft.
Wer sozial oder „sozialräumlich“ benachteiligt ist, der darf sich als Hauptklient der Regierung verstehen. Ein „Startchancenprogramm“ weist das neuerlich nach. Viel mehr als man sich als vermeintlich Benachteiligter selbst bewegen muß, wird man abgeholt und durchgefördert. Man sehe sich die kitschigen Beglückungsbilder im Netz der Regierungspropaganda dazu an.
Wir sollten eine Insel der Glückseligen sein. Auf der bewährten kapitalistischen Basis entwickelte sich eine Art sozialistischer Überbau, in dem man „Bedarfe“ anmelden kann, der aber zunehmend ideologisch in die Pflicht nimmt. Migranten- und Ukrainerversorgung hat man gefälligst gutzuheißen, und schon das Aufrufen eines „ethnischen Volksbegriffs“ gilt als harter Verstoß gegen den Artikel I des Grundgesetzes, mithin gegen nicht weniger als die Menschenwürde.
Zudem gibt sich die Berliner Republik immer „vielfältiger“, immer „bunter“, immer „diverser“, trotz heilloser Überalterung immer erfrischender, insbesondere über die supercoolen, regenbogenbunten CSD-Events und Wir-sind-mehr-Partys der „Anständigen“; und es gibt eine Vielzahl Darstellungen von jungen Jubelscharen und deren „Kampf für Demokratie“, zu dem „Die Toten Hosen“, Herbert Grönemeyer und Sebastian Krumbiegel aufspielen, Künstler, die sich früher alternativ bis antibürgerlich gaben, heute aber betont staatsnah, ja staatshörig auftreten, zumal sich ihr Staat, so wie sie selbst, als linksorientiert versteht, um gegen rechts austeilen zu können.
Folgt man den Staatsmedien, so leben wir geschichtsvollendet in der besten aller möglichen Welten, bestimmt von „Achtsamkeit“, „Respekt“, „Toleranz“ und „Solidarität“. Was für politromantische Phrasen doch!
Andererseits jedoch scheint das Land von einer expressionistisch anmutenden Weltende-Krankheit geschlagen: Seit der sogenannten Corona-Pandemie nahm der Krankenstand nicht ab, er verharrt auf hohem Niveau und steigt eher, ausgelöst nicht zuletzt vom Komfort sich telefonisch krankschreiben zu lassen.
Der „Nordkurier“ schreibt:
Laut Statistik kam von Januar bis Juni im Nordosten jeder bei der DAK versicherte Beschäftigte im Durchschnitt auf 12 Fehltage. Für das gesamte Jahr 2023 war ein Durchschnittswert von 11 Tagen ermittelt worden. Rein rechnerisch waren laut DAK jeden Tag 66 von 1000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern krankgeschrieben. Der Krankenstand habe in Mecklenburg-Vorpommern mit 6,6 Prozent somit leicht über dem Niveau des Vorjahres gelegen.
Ein Land mit solchem Krankenstand kann nicht intakt sein.
Weshalb sind alle so kaputt? Obwohl gefühlt der öffentliche Dienst im Homeoffice nicht an Überarbeitung leiden dürfte, appelliert die DAK-Landeschefin ganz ernsthaft, der Streßfaktor müsse gemindert werden. Der signifikante Anstieg des Krankenstandes würde nämlich von „Depressionen, Anpassungsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen“ ausgelöst. Insbesondere die psychiatrisch bedingten Krankschreibungen, so der „Nordkurier“, verursachten in der ersten Jahreshälfte mehr als 202 Fehltage je 100 Versicherte.
Die DAK-Chefin diagnostiziert: Die Beschäftigten stünden „angesichts von Krieg und Krisen aktuell besonders unter Druck.“
Dies zum Fitneßgrad der Berliner Republik, diesem Land der Patienten. Es braucht nicht unmittelbar existenzielle Bedrohungen, etwa anfliegende Drohnen und „Putin ante portas!“, um diese Volkskrankheiten auszulösen; es reicht offenbar schon, wenn die Leute von den Krisen anderswo nur hören.
Man fragt sich unwillkürlich, was in wirklich harten Zeiten passieren würde, außerhalb des wohligen Homeoffice-Friedens. Und weshalb denn waren die Leute in den Achtzigern gesünder, als ein atomarer Konflikt akut wahrscheinlich schien? Damals gab es sogar eine gewisse Wehrfähigkeit, während heute über zwanzig Prozent der Neu-Soldaten abbrechen: Offenbar alles zu hart, insbesondere die physische und Gefechtsausbildung.
Wie hoch ist eigentlich der von psychischem Leid ausgelösten Krankenstand im dauerbedrohten Israel? – Ich vermute dreist, man ist dort resilienter oder mindestens nachvollziebarer erkrankt, weil es dramatische Traumatisierungen gibt, von denen man sich hierzulande kaum eine Vorstellung machen kann.
Ist es möglich, daß die spürbare Differenz zwischen penetranter Staatsbeglückung und eigenem Erleben der Wirklichkeit all die psychischen und psychosomatischen Erschöpfungssyndrome gar verstärkt? Daß es eine Korrespondenz gibt, einen dialektischen Konnex zwischen der politischen Glücksverordnung einerseits und einem damit kontrastierenden Erleben andererseits? Streßt es, von Staats wegen zur Zufriedenheit verurteilt zu sein und sich mit dem eindringlich moralisierenden Polit-Establishments identifizieren zu müssen?
Oder ist es bereits die intuitiv empfundene geistige und vitale Stagnation, ja Retardierung, die von der forcierten Agitation und Propaganda mit ihren allgegenwärtigen Parolen eher verstärkt wird?
Ruft das grünoptimistische und berufsjugendliche Dauerlächeln der Funktionäre mittlerweile umgekehrt eine melancholische Grundgestimmtheit bei den Regierten hervor? Sorgt das Gefühl allzu vieler, trotz der Demokratie-Festivals allzu wenig bewegen zu können, für eine gefährliche Lähmung? – In dieser Hinsicht phänomenal der latenten Depressivität in der End-DDR verwandt, die gleichfalls am Gefälle zwischen offizieller Sozialismus-Glückseligkeit und der bedrückenden Realität litt. Während der kritische Diskurs verhindert wurde, forderte das SED-Regime Bekenntnisse und Huldigungen ein.
Man kann die Systeme nicht gleichsetzen, aber die Phänomene gleich sich: Verzweifelter ideologischer Zweckoptimismus trifft auf still kopfschüttelnde Resignation.
Insbesondere die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind übervoll. Alles wegen hochsensibler „Schneeflöckchen“, „Eierschalen-Schädel“ und lauchiger Weicheier? Und dies trotz einer Schule, die sich, zumal als pädagogisch hochgepriesene Ganztagsschule, nie so schülergerecht und inklusiv verstand wie gegenwärtig?
Bitter komisch, daß es eine Gruppe gibt, die noch kränker ist als die Schüler – ausgerechnet deren Lehrer nämlich: Sie sind in Mecklenburg-Vorpommern im Durchschnitt eine zusätzliche Sommerferienlänge lang krank, also sechs Wochen im Jahr. Im Durchschnitt! Burn-out im sozialistischen Vorzeige-Unternehmen Schule.
Man denke mindestens darüber nach, daß frühere Generationen die Ganztagsschule eben nicht als Segen, sondern als unfreiwillige Internierung und horrende Zwangsvereinnahmung empfunden hätten. Wir jedenfalls stürmten mit dem letzten Klingelzeichen johlend aus dem Schulhaus Richtung Freiheit, Abenteuer und Risiko … – Und selbst die gegen Viertel nach eins aufatmenden Lehrer empfanden das als nur natürlich, gesund und normal.
Auf uns warteten Erlebnis und Bewährung. Die erwachsenen Autoritäten schärften uns ein: Ihr werdet gebraucht! Und so saßen wir beispielsweise schon als Jugendliche auf dem Traktor und halfen bei der Ernte … Damals meinten die Alten stark verkürzend, wer von psychischen Problemen rede, der hätte einfach zu wenig zu tun oder zu viel Zeit. Daß Arbeit nun gleich das Leben versüßte, sahen wir zwar gar nicht so, aber: Wir arbeiteten. Das war unsere Art der „Teilhabe“, ohne daß es dafür diesen sterilen Begriff gegeben hätte.
Nebenbei: Nicht nur die Rate der kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen wächst, sondern parallel dazu die Kinder- und Jugendkriminalität – in Mecklenburg-Vorpommern im vergangenen Jahr um fast zehn Prozent. Auch das erscheint symptomatisch.
In meinem Plattenbau bin ich einer der ganz wenigen, die morgens irgendwohin zur Arbeit aufbrechen. Wenn ich mein Rad aus dem Keller hole, ist’s rundum so still, daß ich selbst mit Bedacht rücksichtsvoll leise im Treppenhaus bin, um niemanden zu stören. Insbesondere während der Schulferien schläft die ganze Banlieue.
Ich surre leere Straßen und Wege entlang. Die große Zahl der Migranten und Bürgergeldler beginnt den Tag so spät wie ruhig und dann langsamen Schritts Richtung Discounter. Nicht mal die Drogendealer „südländischen Phänotyps“ sind unterwegs.
Wer genau ist denn jetzt krank und warum? Die „Leistungsträger“, von denen es doch immer weniger gibt? – Mitunter scheint mir, das ganze Land leide an Burnout, und je offenbarer das wird, um so lauter trommeln Ministerien und Medien, wie wundervoll doch alles bestellt ist und was für ein Fest uns die „Demokratie“ jeden Tag sein könnte, wenn es bloß diese ärgerliche AfD nicht gäbe.
Gracchus
Ich beobachte diesen Zusammenhang auch. "Bewährte kapitalistische Basis" - ist allerdings der blinde Fleck in Bosselmanns Darlegungen. Das System ist - aus seelischer Sicht - völlig sinnentleert und sinnwidrig. Seit den 80ern hat ausserdem eine enorme Beschleunigung stattgefunden.
Biblisch betrachtet hat man es mit Ägypten zu tun; einzig hilft: ein Exodus.