Der Verlust des Dialektes

von Jörg Seidel -- Heutzutage gilt man als Dialektsprecher schnell als dumm und ungebildet, auch in Abhängigkeit des Dialektes.

Alles, was Säch­sisch klingt, steht unter die­sem Vor­be­halt, der Ber­li­ner mag noch pfif­fig klin­gen, der Köl­ner wohl­ge­launt und der Bay­er direkt und urig. Im Grun­de genom­men hören wir aber kaum noch Dia­lekt, son­dern fast nur noch Akzen­te, aber auch die gel­ten als dubi­os, zumin­dest in der Öffentlichkeit.

Ich selbst bin im Vogt­land auf­ge­wach­sen, wo man einst einen sehr eige­nen und auch in sich diver­sen Dia­lekt gespro­chen hat, d.h. in Klin­gen­thal klang es anders als in Auer­bach und dort wie­der anders als in Plau­en oder Len­gen­feld, von den Berg­dör­fern ganz zu schwei­gen. Ja, als Auer­ba­cher konn­te ich sogar noch den Brun­ner her­aus­hö­ren, der kei­ne fünf Kilo­me­ter ent­fernt leb­te und heu­te auch ein­ge­mein­det ist, damals aber durch einen län­ge­ren lee­ren Stra­ßen­fa­den von der Stadt getrennt lag.

Dahin, in das Dörf­chen Brunn, hat­te es 1945 die Fami­lie mei­ner Mut­ter ver­schla­gen, die Frau mit drei Kin­dern allein, der Groß­va­ter kam erst sechs Jah­re spä­ter aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Mei­ne Mut­ter war zu jener Zeit vier Jah­re alt, also zehn, als sie ihren Vater zum ers­ten Male bewußt wahr­ge­nom­men hat­te. Sie stamm­ten aus West­preu­ßen und spra­chen daher wohl eine nie­der­preu­ßi­sche Mund­art, die sie neben der Frem­de an sich auch zu den Frem­den im vogt­län­di­schen Berg­dorf mach­te. Gut ver­ständ­lich, daß sie alle ziem­lich schnell zu säch­seln began­nen – mei­ne Mut­ter natür­lich bald fließend.

Aber wenn sie spä­ter, als wir schon auf der Welt waren, mit ihren Eltern allein war, dann ver­fie­len sie wie­der in die­sen Sprech, der uns Kin­der mäch­tig ver­un­si­cher­te, denn das war plötz­lich nicht mehr mei­ne Mut­ter, son­dern da sprach eine ande­re Frau.

Als es mich nach­her für ein paar Jah­re zwecks Ableis­tung des Wehr­diens­tes ins Bran­den­bur­gi­sche ver­schlug und ich dort mit vie­len Ber­li­nern zusam­men war, da wur­den oft Wit­ze über mei­ne Unfä­hig­keit, kla­re Voka­le aus­zu­spre­chen, gemacht, an denen ich gern teil­nahm, denn es war tat­säch­lich lus­tig zu hören, daß ich auch bei größ­ter Anstren­gung nicht dazu in der Lage war, ein rei­nes O oder A zu spre­chen. Als ich dann auf Urlaub nach Hau­se kam, da sag­ten mei­ne Kum­pels befrem­det: „Kannst du nicht nor­mal reden, du klingst ja wie ein Preu­ße“ … oder, um genau­er zu sein: „Koast de ned norm­o­ahl rähdn …“.

Unbe­merkt hat­te ich mich mei­nen Zim­mer­ge­nos­sen ange­paßt. Aber es gab auch einen, der kam aus Anna­berg-Buch­holz im Erz­ge­bir­ge und der war nicht dazu in der Lage, halb­wegs hoch­deutsch zu spre­chen, und galt dem­zu­fol­ge in der Kom­pa­nie als Inbe­griff der Dumm­heit und ich muß­te über­set­zen, von dem, was ich aus der Dia­lekt­nä­he her­aus verstand.

Heu­ti­ge Gene­ra­tio­nen haben die­se Pro­ble­me nicht mehr, wie es scheint. Höre ich jun­ge Abitu­ri­en­ten selbst im locke­ren Gespräch spre­chen, dann klingt ihre Rede glatt und blank wie eine Schlit­ter­bahn, auf der es kei­nen Halt mehr gibt. Der letz­te Schliff wird ihnen gege­ben, wenn sie in Bonn oder Mann­heim oder Müns­ter stu­die­ren, denn danach spre­chen sie nicht nur glatt, son­dern auch den see­len­lo­sen Bun­des­sprech ohne jede Markanz.

Das zeigt die Dop­pel­deu­tig­keit die­ses Pro­zes­ses. Es liegt ein Gewinn dar­in – man gehört plötz­lich zu allen – und ein Ver­lust – man gehört zu nie­man­dem mehr. Mir scheint, der Ver­lust über­wiegt. Ganz offen­sicht­lich ist es so, wie Hans Lipps, der bedeu­ten­de her­me­neu­ti­sche Phi­lo­soph und Sprach­den­ker, den heu­te nur noch kennt, wer den phi­lo­so­phi­schen Dia­lekt beherrscht, sag­te in Die Ver­bind­lich­keit der Sprache:

Im Dia­lekt gibt man sich natürlich.

Das ist es! Was den Spre­chern der aal­glat­ten Spra­che fehlt, ist die Natür­lich­keit. Lipps war kein Träu­mer und hat bewußt geschrie­ben „gibt man sich“ und nicht „ist man“ und damit die Poten­zia­li­tät offen­ge­legt, den Reich­tum. Denn Dia­lekt authen­tisch spre­chen kön­nen, ist wie eine Fremd­spra­che zu beherr­schen. Wer es kann, kann sich geben – vor­aus­ge­setzt, er ver­steht auch die Muttersprache.

Er schreibt weiter:

Man spricht ihn unter sich. Dia­lekt bedeu­tet: inti­me Gemeinschaft.

Das exakt war es, wenn die Mut­ter mit den Groß­el­tern ihre eigent­li­che Spra­che sprach: inti­me Gemein­schaft, und heu­te weiß ich, daß sie das Recht dazu hat­ten und ich eben nicht. Zwar gehör­ten wir zur Fami­lie, aber eben nicht zur gemein­sa­men Geschich­te, zum gemein­sa­men Ursprung und die hat ein eige­nes Existenzrecht.

Dia­lekt ist aber gera­de Ursprüngliches,

schreibt Lipps.

Im Dia­lekt wird ein Ein­ver­ste­hen ange­spielt bzw. der ande­re auf einen bestimm­ten Ton gestimmt. Im Dia­lekt betont sich das Beson­de­re einer art­lich bestimm­ten Lebenshaltung.

Es ist bedeut­sam, daß Lipps auf die Stim­mung aus­geht, und auf den Ton. Wenn ich von der Armee nach Hau­se kam, da genüg­te ein Schul­ter­schlag und ein vogt­län­di­sches Wort, um end­lich wie­der zu Hau­se zu sein, zu wis­sen, wie man sich zu ver­hal­ten hat, kei­ne Sor­ge mehr haben, etwas Fal­sches zu sagen, es war wie ein ein­ge­stimm­tes Instru­ment und bald spiel­te man ohne gro­ßes Nach­den­ken wie­der har­mo­nisch im Orches­ter der Hei­mat. Denn:

In dem irgend­wie ‚Gestimm­ten‘ eines Dia­lek­tes, in dem unmit­tel­bar Ein­drucks­haf­ten sei­ner Aus­drü­cke zeigt sich die stäm­mi­sche Sin­nes­art, das Son­der­we­sen eines Volksteiles.

Und:

Der Dia­lekt ist aber etwas, was man mit einem andern gemein hat oder nicht, und dies ineins mit der Gegend oder Land­schaft, aus der man ist.

Dia­lekt schafft Gebor­gen­heit und ist beson­ders für die Kin­des­ent­wick­lung bedeut­sam (dazu: Otto Fried­rich Boll­now: Spra­che und Erzie­hung).

Das Dop­pel­we­sen zeigt sich nun einer­seits in der Ableh­nung der Dif­fe­renz – der ande­re Dia­lekt ist mir fremd, wenn nicht gar unan­ge­nehm, um so mehr das Dia­lekt­lo­se –, aber dar­in liegt die leben­di­ge Dif­fe­renz selbst, denn die­ser mein Dia­lekt ist selbst das Dif­fe­ren­te, das sich vom Ande­ren und Frem­den absondert.

Wenn ich jun­ge Leu­te von heu­te in die­ser Null­acht­fünf­zehn-Spra­che reden höre – sie sagen ja zudem auch nur das Erwart­ba­re und durch sub­ti­le gesell­schaft­li­che Sank­tio­nen ein­ge­trich­ter­te – dann über­kommt mich oft eine Trau­rig­keit. Sie sind meist intel­li­gent und smart, aber es man­gelt ihnen an Cha­rak­ter und Grif­fig­keit. Ja, sie sehen sich sogar alle irgend­wie ähn­lich und man kann nicht mehr sagen, ob einer aus Flens­burg oder Fried­rich­ha­fen stammt, denn so, wie es nach Lipps ein „säch­si­sches Gesicht“ gibt, „das sei­nen Akzent gera­de von der Mund­par­tie … bekommt“, so for­men auch ande­re Dia­lek­te ihre „Front“.

Die neu­en Leu­te hin­ge­gen pas­sen sich per­fekt in die ein­stu­dier­ten Abläu­fe ein, wer­den sicher ihre Kar­rie­re machen – und irgend­wann aus unbe­greif­li­chen Grün­den bei der psy­cho­lo­gi­schen Bera­tung landen.

Wir kom­men immer wie­der an den­sel­ben Punkt, den uns die Durch­set­zung des Eng­li­schen als Ver­kehrs­spra­che ver­deut­licht: durch die künst­li­che Erhe­bung einer Ver­kehrs­spra­che zur Imi­ta­ti­on des „Aus­schwin­gen­den der Tran­szen­denz mensch­li­cher Exis­tenz“, die in den ech­ten Spra­chen als „geleg­ter Grund“ exis­tiert, wird alles falsch – ich den­ke, „das macht Sinn.“

Glo­ba­li­sie­rung, Gleich­heit, Gleich­be­rech­ti­gung, also die bewuß­te Nivel­lie­rung aller Wesens­un­ter­schie­de durch Kon­sum, Welt­markt, Rei­sen, Ideo­lo­gie, Poli­ti­sche Kor­rekt­heit, Sprach­schlei­fung, Welt­spra­che, Inter­net und Inter­rail und Inter­was­wei­ßich, die uns von allen Pro­ble­men, die durch Gegen­sät­ze ent­ste­hen, befrei­en wol­len, wer­den zu einem hohen Preis erkauft.

Die vor­geb­li­che Diver­si­fi­zie­rung, die gleich­be­rech­tig­te Viel­falt, die zur Schau gestell­te Indi­vi­dua­li­sie­rung durch das bewuß­te Her­ein­ho­len des Frem­den und Ande­ren und die Über­be­to­nung des Unge­wöhn­li­chen ist tat­säch­lich nichts ande­res als die Aus­mer­zung der eigen­tüm­li­chen, der genui­nen, der his­to­risch gewach­se­nen inne­ren Viel­falt des Eigenen.

Sie ist ein Ver­lust – und wie jeder Ver­lust an Reich­tum, zu bekla­gen –, kurz­fris­tig irrever­si­bel, denn um ihn wie­der gut zu machen, bräuch­te es lan­ge his­to­ri­sche Zeit­räu­me. Dazu gehö­ren auch die Dia­lek­te. Was inti­me Gemein­schaft durch geteil­te Spra­che ist, wis­sen die jun­gen Gene­ra­tio­nen immer weni­ger. Sie mei­nen sich dadurch frei zu machen, von den Fes­seln der Hei­mat zu lösen, mit allen und jedem kom­pa­ti­bel zu sein, aber sie ver­lie­ren damit das, was sie zu gewin­nen mei­nen: Individualität.

Der Ver­lust des Dia­lek­tes ist dia­lek­tisch. Er ist einer­seits Ergeb­nis des Pro­zes­ses der Schlei­fung aller Dif­fe­ren­zen, aber er treibt sie auch als ein Agent selbst an.

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Kommentare (46)

das kapital

21. August 2024 12:32

Heimat und Verbundenheit das ist Dialekt.Ich halte es da ja mehr mit dem Niederdeutschen / Plattdeutschen.Das war mal die lingua franca, die Handels- und Verkehrssprache der Hanse, mit der du in Nordeuropa insgesamt vor 5 bis 600 Jahren durchkommen konntest.Nicht so hoch differenziert, wie im Erzgebirge, aber eben ganz und gar nordische Heimat von Weener über Bremen, Hamburg,  Lübeck, Rostock, Schwerin und Danzig bis nach Ostpreußen.Heute schafft es Brandenburg zwar, noch das Sorbische zu fördern. Der Erhalt des Niederdeutschen wird aber zuwenig gefördert.Zwar haben die Gesetze dazu geschaffen, 34 Jahre nach der Wende.Aber finanziell ist das zuwenig unterfüttert. Und in 34 Jahren ist eben auch schon viel verloren gegangen.Bei der niederdeutschen Sprache handelt es sich nicht um einen Dialekt des Hochdeutschen . Es handelt sich demnach um eine eigene germanische Sprache, die mit dem Englischen und Friesischen verwandt ist und in acht Bundesländern gesprochen wird.

HagenAlternat

21. August 2024 13:22

Die gegenteilige Position nimmt ein:
Karl-Heinz Göttert: Dialekte – gestern, heute, morgen (TUMULT Frühjahr 2019/1). Zitat: "Wer behauptet, in Deutschland sterbe der Dialekt aus, es werde stattdessen nur noch Hochdeutsch gesprochen, irrt gleich zweimal. Alle verfügbaren Statistiken, die zum Beispiel das Institut für deutsche Sprache herausgibt, zeigen seit Jahren den gleichen Trend: Der ≫tiefe≪ Dialekt geht zurück, die dialektal gefärbte Regionalsprache behauptet sich."
Ich persönlich ernte immer Widerspruch, wenn ich behaupte, dass der Enkel meines Enkels kein Deutsch mehr sprechen wird. Das entscheidende Indiz ist (für mich) die Unfähigkeit der Deutschen, auf Entwicklungen (technisch; soziologisch) mit eigenen Wortschöpfungen zu reagieren und hemmungslos Anglizismen zu verwenden.
So war ich schockiert und fühlte mich bestätigt, als jemand in einer Freundesrunde sagte "Oh, my mistake". 
Wie sehr mich das bedrückt, brauche ich an dieser Stelle nicht hervorzuheben...

May vT

21. August 2024 14:13

<<durch die künstliche Erhebung einer Verkehrssprache zur Imitation des „Ausschwingenden der Transzendenz menschlicher Existenz“, die in den echten Sprachen als „gelegter Grund“ existiert, wird alles falsch>>Wunderschön formuliert - Danke!

Liselotte

21. August 2024 14:42

Als ich in den 1980ern von Südbaden nach West-Berlin zog, kam ich in weit stärkerem Maße mit dieser Anti-Dialekt-Haltung in Berührung als vorher. Bei den West-Berliner Studenten galt "berlinern" als extrem peinlich, was mich sehr verblüffte, denn in Südbaden waren meine Arbeitskollegen stolz auf ihren Dialekt gewesen, und bei denen hatte man jeden unterschiedlichen Ort herausgehört. Wenn ich die West-Berliner versuchte zu ermutigen, doch zu ihrem einzigartigen Dialekt zu stehen und den auch zu benutzen, und ihnen die Schweiz vorhielt, wo bis in die Oberschicht hinein Dialekt gesprochen wird, schien das nichts zu fruchten. Sie blieben überzeugt von der sozialen Überlegenheit der Schriftsprache. Vielleicht ist das eine Spätwirkung des weitgehenden Untergangs der niederdeutschen Sprache, die ja mal als Hansesprache überragend war, im Gefolge der Reformation, die für eine Vereinheitlichung der Schriftsprache sorgte. Nun also auch Niedergang des Oberdeutschen, durch Fernsehen und Akademisierung?

Ptolemaios

21. August 2024 16:07

1 von 2:  Ich stimme dem Autor vollumfänglich zu, möchte seine Ausführungen nur um ein paar Punkte erweitern. Daß der Autor die Parallelität zur „somewhere – anywhere“ Dichotomie nicht erwähnt, fällt sofort ins Auge. Mir fiel dieses aalglatte, politically correct "Neu-Preußisch", das sich wie ein Leichentuch über alle Dialekte legt, sofort auf, als ich nach Jahren in China wieder nach Deutschland zurückgekehrt bin. Selbst, wenn ich als Franke einen Leipziger Sachsen nicht immer verstehe, fühle ich mich wohler, als wenn ich dieses glatte Neu-Deutsch höre. Sofort hatte ich in der Familie einen "Servus" versus "Hallo"-Streit. Gerade als Süddeutscher bin ich diese Vielfalt von Dialekten gewohnt, von Fränkisch, über Schwäbisch, Bairisch, Tirolerisch, Österreichisch. Gut, über die Wiener kann man streiten. Genauso wie ich die Berliner nicht als pfiffig, sondern als arrogant empfinde. Der Norden erschien mir schon vorher arm an Dialekten. Zwischen Rhein und Spree hört sich alles so platt an. Dieser Nord-Süd-Gegensatz ist mir seltsamerweise auch als Deutschlehrer in China begegnet. Dort zwischen dem Mandarin des Nordens und der Vielfalt an Sprachen und Dialekten im Süden. Die Studenten aus dem Süden bildeten sofort Gruppen, in denen sie ihren Heimatdialekt sprechen konnten. Im Unterricht ist es ihnen streng verboten, etwas anderes als Putonghua, „die reine Sprache“, wie sie das Mandarin nennen, zu sprechen. 

Ptolemaios

21. August 2024 16:07

2 von 2: Mir sagten sie, wenn sie ihre Sprache, ihren Dialekt sprechen, dann kann Beijing sie nicht verstehen, dann können sie sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Wenn ich mir die neuen Unterrichtsbücher und Grammatiken anschaue, stelle ich noch etwas anderes fest. Während wir noch Grammatik im Latein-Unterricht gelernt haben und dann einfach aufs Deutsche angewandt haben, finde ich davon keine Spur mehr in den modernen Büchern. Die Erklärungen scheinen eher vom Englischen beeinflußt, nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Grammatik. Das erschreckt mich. Das gesamte deutsche Kasus-System könnte genauso schnell wie im Niederländischen zusammenbrechen. Es erscheint auch wie ein weiterer Vorstoß des protestantischen Nordens gegen den katholischen Süden, wie die Luthersche Bibelübersetzung für eine Vereinheitlichung und Verflachung der nördlichen Dialekte geführt hatte.  

Maiordomus

21. August 2024 16:09

Im Moment ist das Sächsische daran, massiv beim Reizwert, zumindest Unterhaltungswert aufzuholen, nicht zuletzt dank der Charakteristik-Auftritte der gelernten Soziologin und Kabarettistin Tina Goldschmidt mit ihrem umwerfend naiv wirkenden Charme, noch ergänzt durch eine mehr tantenhafte brillentragende Kollegin. Bin wie die Jungfrau zum Kind zu diesen youtube-Nummern gekommen auf der Suche nach Dokumentationen zu den auch für ganz auswärtige Beobachter heute bedeutsamen anstehenden Wahlen in den sächsischen und thüringischen Landtag. 

Blue Angel

21. August 2024 16:49

Danke für diesen sehr guten und auch sehr trautrigen Artikel.
Als im Rheinland aufgewachsenes Kind konnte ich, obwohl selbst schon nicht mehr in der Lage, den örtlichen Dialekt zu sprechen, anhand seiner regionalen Ausprägungen immerhin noch zuordnen, ob jemand aus niederrheinischen, bergischen, Eifel-nahen Gegenden oder dieser oder jener Stadt der Umgebung stammte. Auch das wäre heute wohl kaum noch möglich. 

paterfamilias

21. August 2024 17:33

Dem Autor ist natürlich rückhaltlos zuzustimmen, dass der Verlust der Dialekte eine Tragödie kultureller Verflachung und Entwurzelung gleichkommt und letztlich eigentlich sogar aus ihenn resultiert. Ich fürchte nur, wir sind heute schon einen Schritt weiter: Wir verlieren die deutsche Sprache als Ganzes. Nicht nur, dass man uns die unsägliche Gendersprache aufzwingen will; was wir sprechen und schreiben, ist Denglisch. Ich kenne nicht wenige Akademiker, aber auch Schüler, bei denen mehr als jedes zehnte Wort ein englisches ist, egal in welchem Zusammenhang. Unsere Werbung, unsere Medien strotzen vor Englisch und vor Anglizismen ("Handy", "chillen"). Ganz zu schweigen vom Bereich der Popmusik, in der geschätzte 90 Prozent aller Texte englisch sind. Das Verrückte ist nur: Die Masse versteht sie nicht ansatzweise. Die meisten Deutschen wären hilflos, verlangte man von ihnen eine Übersetzung der Texte der Lieder, die sie tagtäglich aus Radio und Internet konsumieren. Es geht vielmehr nur um ein angestrebtes Lebensgefühl, das möglichst "gechillt" sein soll – ein weiterer Beweis dafür, dass Sprache neben der kognitiven noch viele weitere Funktionen hat. Bevor wir also über eine Rekultivierung der Dialekte nachdenken könnten, müssten wir zunächst die deutsche Sprache wiedererlernen.  

Ilona Godula

21. August 2024 17:48

@seidwalk Mir hat es soeben vor Freude die Schuhe ausgezogen. Sie verehrter Seidwalk sind seit langer Zeit mein bevorzugter Autor, den ich immer wieder mit Gewinn lese, in Ihrem persönlichen Blog, so wie auf der Sezzesion. Von Ihrer geistreichen Blitzgescheitheit, dem differenzierten Denken und diese zu Papier bringen, beeindruckt mich ungemein. Sie sind für mich mit Abstand eine Edelfeder! Aber nun kommt's: Beim lesen Ihres heutigen Beitrags traute ich meinen Augen kaum: Zuerst lese ich Auerbach, kurz gefolgt dann Brunn. Diese beiden Orte, obwohl in Stralsund 1954 geboren, gehören bis dato zu meinen eindrucksvollsten und emotionalsten Kindheitserinnerungen. Meine Großeltern väterlicherseits waren dort ansässig. In Auerbach, vor '45 Sedanstr.4, danach Ernst Schnellerstr.4. Bis '66 war dort die Weissnäherei Hugo Polter, mein Urgroßvater.In Brunn verbrachte ich einige Zeit in der Schallerbachstr.  Und oben am Ende Fuchsstein im Holzhäuschen. Das Waldbad Brunn war mein zweites zu Hause. Sie werden nicht nachvollziehen können, obwohl banal, welche große Freude ich empfand. So schließt sich der Kreis zu Ihrem Dialektbeitrag. Mein Grunddialekt ist Hochdeutsch mit norddeutschem Zungenschlag. Aber im vogtländischen bin ich ebenso zu Hause. Ich danke Ihnen vielmals für wieder einmal diesen schönen Artikel. Möge es Ihnen weiterhin gut gehen, dass Sie den Biss nicht verlieren und Kraft haben weiter zu publizieren. Mit Hochachtung, herzlichst I.G.

Liselotte

21. August 2024 19:34

@HagenAlternat: Ich sehe diese Position nicht als gegenteilig, denn eben der "tiefe" Dialekt verschwindet, es gibt nur noch regionale Färbungen. Dies erscheint mir eine sehr zutreffende Beobachtung, auch für meinen eigenen Sprachgebrauch. Übrigens oft mal mit Anglizismen durchsetzt ("Digger" - Jugendwort der letzten Jahre, zu meiner Zeit war es "ätzend"). Mit den Anglizismen kann es aber gehen wie mit den französischen Wörtern, die zur Zeit des französischen Kulturprestiges massenhaft (und im Schweizer Dialekt vielermaßen auch heute noch) verwendet wurden: sie können auch wieder zurückgehen. Neben Moden (die "Neue Deutsche Welle" sorgte in den 80ern mMn für selbstbewußtes Deutsch) kommt es auch sehr auf Alltagsgelegenheiten an, an denen die Sprache verwendet werden kann. "Rechner" (für Computer) und "hochladen" (für Upload) konnten sich bei den Leuten, die viel damit arbeiteten, durchsetzen, der Download und das Update sind aber dermaßen in Abhängigkeit von US-Firmen, daß sich da noch keine deutschen Wörter einstellten.

Monika

21. August 2024 20:23

Als ich meinen Mann vor vielen Jahren in Frankfurt kennenlernte, dachte ich: "Toller Mann, aber leider hat er einen Sprachfehler. Er verdrehte die Sätze, ließ Endungen bei den Verben weg und die weiblichen Personen wurden zur Sache." Peinlich . Als er mir seine westpfälzer Heimat zeigte, stellte ich fest, dass dort alle so reden, wirklich alle, aach de Dokder.  Ein Beispiel: "Es Gerdi hat net könne komme, es hat  vergess, dass es dem Hilda noch Krumbeere bringe muss." Gerti konnte nicht kommen, sie hat vergessen, dass es Hilda noch Kartoffeln bringen muss." Heute rede ich so, wenn ich meinen Mann ärgern will.😀Mein Tübinger Dogmatik-Professor Walter Kasper hielt die Vorlesungen im tiefsten Schwäbisch. Wunderbar.

Franz Bettinger

21. August 2024 20:27

@Hagen: Meine Wort-Neuschöpfung für die da oben ist: Elitioten. Aus Eliten und Idioten. Warum setzt sich das (bisher) nicht durch? 

Umlautkombinat

21. August 2024 21:33

@paterfamilias
 
>  ("Handy", "chillen").
 
Mit Feinheit unterscheiden, als Block ist es immer gleich der Untergang der Zivilisation . Ich nutze Handy in deutscher Umgebung, obwohl mir der Unterschied zum Gebrauch im Englischen hundertprozentig gelaeufig ist, chillen allerdings sicher nicht. Manches passt, manches ist daemlich. Ich moechte das nie erfundene deutsche Wort fuer Chip gar nicht kennenlernen... 
 
Eingetragene Sprache hat auch Bereicherungsfunktion, auch wenn ein manifester Kulturimperialismus das zugegeben oft genug berechtigt in den Hintergrund rueckt.
 
> Lieder, die sie tagtäglich konsumieren.
 
Das ist viel interessanter in Bezug auf die Ueberwaeltigung des Eigenen - generell, nicht nur in Sprache oder Musik.

Laurenz

21. August 2024 22:46

@Das Kapital ... wir hatten im Laufe der Jahre das Thema schon öfters. Auch Hochdeutsch ist nur ein Dialekt.

links ist wo der daumen rechts ist

22. August 2024 00:09

Zu beginn von Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ heißt es, das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.
Genau aus diesem Grund bin ich nie nur in meiner Herkunft befangen, sondern distanziere oder befreie mich sogar, ohne aber die Herkunft verleugnen zu können.
Würde man mich also auf meinen (zugegebenermaßen schrecklichen) Herkunftsdialekt reduzieren, wäre das vielleicht „sprachsoziologisch“ sinnvoll, zugleich aber auch eine ungeheure Anmaßung.
In Österreich geht das so weit, daß Dialekt und Hochsprache jeweils als Distinktionsgewinne gesehen werden; Doderer hat das in den „Dämonen“ in die eine Richtung (Überwindung der „Dialektgrenze“ - Leonhard Kakabsa), Broch in seinem Hofmannsthal-Essay in die andere Richtung (Adel und Volk verbünden sich gegen das Bürgertum im Dialekt – Ochs auf Lerchenau) beschrieben.
Ich wehre mich ganz einfach gegen eine bestimmte Art von Reduktionismus (von Jörg Seidel in diesem Zusammenhang schon öfter vertreten); Überwindung einer Herkunft ist eben AUCH Befreiung, und Distanz läßt mich die Vielfalt der – in diesem Fall – Dialekte und Idiome genießen, während ich meinen Herkunftsdialekt auch als (ironisches) Zitat verwenden kann.
Das große Ganze unserer Kulturnation ist mir dabei einfach zu wichtig – und ich weiß, daß meine ausschließlich Dialekt sprechenden Landsleute nie einen Hölderlin oder Hebel oder Kleist oder Fontane werden schätzen oder verstehen können.

Diogenes

22. August 2024 06:14

(...)
Teil 3/4"(...) Das entscheidende Indiz ist (für mich) die Unfähigkeit der Deutschen, auf Entwicklungen (technisch; soziologisch) mit eigenen Wortschöpfungen zu reagieren und hemmungslos Anglizismen zu verwenden. (...) "Oh, my mistake". (...)" - HagenAlternat
 
Und dieses sinnverwirrende (im Sinne von Sprachhygiene) Falschsprech oder "Denglisch" das weder das eine noch das andere ist, steht im direkten Zusammenhang zum "Vasallen/Satrapien"-Status/Stand der Besatzerkonstrukte "Bundesrepublik D.", "Republik Ö." und der "BRD" angegliederten "DDR". Es ist die Indoktrinierung durch die Großmedien (in Fernsehen, Rundfunk und Presse) und den staatlichen Lehrkörper im Sinne der Feindmächte, die deutsches Leben von Kindesbeinen an diese und deren (VSA-) "(Un)Kultur" verherrlichen lassen (Fremdvolk verherrlichen, über das eigene Volk und dessen (Lebens)Interessen stellen, das Deutschtum mit antideutscher (Marxistische/Bolschewistische Methodik) Agitation ("was ist deutsch?") ständig infrage stellen und im Eigenstand verwurzelte Kultur verleugnen (Selbstbeschäftigung). (...)

Diogenes

22. August 2024 06:14

(...)
Teil 4/4
Es sei auch an die Erziehung im Sinne des "Westens/VSA" (aber auch damals des "Roten Ostens") erinnert, welche uns nach wie vor zum Spielball zweier Propagandablöcke macht (die Frage: bist du für VSA (warum kürzen Deutsche VSA auf Englisch "USA" ab und merken diesen automatisierten Anglizismus nicht mal mehr?) oder Putin-Russland?). Nebenbei sei noch an die "Operation Mockingbird" beim Thema Staatsbürgererziehung  erinnert, von der "Besatzerpresse" des Axel-Springer-Konzerns gar nicht zu sprechen (Kritik an Israel ist im Arbeitsvertrag verboten. Also sind bisher offiziell 40.000 tote Palästinenser im all zu bekannten (Un)Sinne umzudeuten: Sind ja selber schuld - so ähnlich wie die Opfer beim "Bombenholocaust" (im Wortsinne: durch Bomben total verbrannt) von Dresden, die in die Hunderttausende gehen, selber "schuld" seien. 
 
 

Diogenes

22. August 2024 07:44

Verherrlichung/Übernahme von Anglizismen und Verdrängung der Mundart als Krankheitssymptom deutschmasochistischen Fremdextremismus: Der mangelhafte/fehlende Ausdruck deutscher Menschen Ausländisches (Englisches/Amerikanisches) in ein sinnhaftes Bildnis des eigenen Wortschatzes zu bringen und zu be-kleiden (keine 1:1 Übersetzung sondern weltanschauliche Sinnerfassung be-zeichnen/um-schreiben; die Wirklichkeit des Dinges) und einfach nur die ausländischen Fremdworte zu übernehmen, ist auch ein Zeichen für Dekadenz/Faulheit/Trägheit des dt. Geistes (oder allgemein der dt. Geistes- und Gefühlswelt). Das Nichtanstrengen als Will<->kommen (heißt willentlich-einladend: kommt hinein, mein Geist steht euch offen. Keine mentale Abwehr) ist krankes/gestörtes Volksempfinden. Die Frage: Als was empfinden wir uns? Als Anhängsel ausländischer Mächte, deren nützlicher Fürsprecher die Polit-Kosmopolitenbande aus Antideutschen mit ihrem aus dem Volk - aus der Art schlagenden - entwurzelten Gleichheitswahn ist, welcher alles Deutsche Tragende wegdiskutieren will (der Selbsthass verleugnet das Selbst, will die Selbstaufgabe deutscher Dinge Nation; so fängt das Sprachliche an sich selbst zu erniedrigen (keine Wertschätzung, kein Respektieren))? 

Valjean72

22. August 2024 09:39

Vielen Dank für diesen Artikel.
 
Ich bin gebürtiger Oberpfälzer, habe einst in Sachsen (Zittau & Leipzig) studiert, lebe seit 18 Jahren* in der französischen Schweiz und arbeite mittlerweile in Bern.
 
Bei jüngeren bundesdeutschen Kollegen hier in Bern fällt auf, dass fast gar keine regionale Klangfärbung mehr wahrzunehmen ist und ein doch recht steril wirkendes Standarddeutsch gesprochen wird, natürlich mit reichlich Anglizismen durchsetzt. M'Gladbach, Lindau, München, Saarland, Braunschweig ... und doch fast kein vernehmbarer Unterschied der Sprache.
 
Die Schweizer Kollegen sprechen untereinander ganz natürlich in Berndeutsch (Bärndütsch) und schätzen meine nordbairische Klangfärbung, bzw. Dialektanwandlung, eben weil es nicht so unterkühlt klingt wie dieses heimatlos-blutarme Standarddeutsch unserer Zeit.
 
---
*meine Heimat ist und bleibt meine Geburtsstadt Amberg, sowie die umgebende Region. Irgendwann kehre ich zurück.

Liselotte

22. August 2024 10:08

@Monika: ich war auch mal halb beleidigt, als mich ein Wirt in Südbaden fragte "wa witt ääs?" - da er aber ein freundlich zugewandtes Gesicht machte, konnte es wohl keine Beleidigung sein. Später dämmerte mir, daß das von "äs Maitschi", das Mädchen, abgeleitet war, und noch später erfuhr ich, daß "erzen" als Anrede älter ist als "duzen" und "siezen". 

Liselotte

22. August 2024 10:11

@Franz Bettinger: weil sie es in den luftleeren Raum stellen und nicht im Zusammenhang mit einem überzeugenden Beispiel bringen. 

Klaus Kunde

22. August 2024 12:20

Dialekt als gesprochenes Wort, geschriebenes, zumindest in Deutschland, stets als Hochsprache. Gut so, erspart Komplikationen bei der Bildung. Das war nicht immer so. Der Dialekt, dem Wandel der Generationen unterworfen; meine Großmutter sprach noch Berlinisch mit zahlreichen französischen Idiomen und abenteuerlicher Grammatik, Vater Berlinisch mit Gott sei Dank korrekter und Dikta, die sich längst verloren haben. Berlinisch als Teil meiner sozialen und historischen Existenz, in Schule, Hochschule und Beruf unerwünscht. Nun als alter Zausel bin ich wieder frei in Wortwahl und Dialekt, erstaunlich als einziger im Bekanntenkreis, auch Berliner Stammpersonal, der sich das erlaubt. Es gilt unausgesprochen, Dialekt, vor allem Berlinisch, als Tonfall der Proleten und Verlierer. In Migrantenghettos längst überlagert durch Kanak Sprak. Zugewanderte Westdeutsche mit importierter Mundart, wer sollte es ihnen verübeln. Noch schlimmer, das um sich greifen der akzentfreie Hochsprache, besonders trendy in der Ökobourgeoisie und des sich aus ihr speisenden Establishment. Weil Plattform zum nervigen Gendern?

Le Chasseur

22. August 2024 12:43

@Liselotte"Digger/Digga" ist kein Anglizismus, sondern leitet sich von "Dicker" ab.

Laurenz

22. August 2024 13:19

@Links ist, wo der Daumen rechts ist .... Deutschsprachige besitzen keine Hochsprache, auch die Deutschen & Burgenlandkroaten Österreichs nicht. Fahren Sie doch mal nach Luxemburg. Die Luxemburger nehmen nicht mal an der Dudenkommission teil & schreiben Deutsch so, wie sie es sprechen. Der Dialekt klingt ähnlich, wie der des Saarlands & Rheinland Pfalz in der weiteren Region um Trier. Die Deutschen der Schweiz sind diejenigen, die mehrheitlich ihren jeweiligen Dialekt noch im Alltag nutzen.

Liselotte

22. August 2024 14:16

@Diogenes: gegen die Zuschreibung "Unfähigkeit der Deutschen" möchte ich mich eindringlich verwahren. Deutsch war schon oft überkrautet mit Fremdvokabular, dagegen halfen Aktivitäten wie Fruchtbringende Gesellschaft und Neue Deutsche Welle. Man muß die halt aber auch mit Freude betreiben und nicht mit einem schiefen Mundwinkel von vornherein alle möglichen Nachsprecher abschrecken.

Adler und Drache

22. August 2024 14:29

Dann mal ein zünftiges "Servus!" an den Verfasser - ich bin in nur 20 km Entfernung von Ihnen, Herr Seidel, aufgewachsen, in einem jener Bergdörfer (bei "Neikirng") ... und wohne nun auch wieder hier. 
(Grüßt man in Klingenthal überhaupt mit "Servus"? Da wären wir ja schon mitten im Thema ...)
Mir ist der Verlust des Dialekts bei meinen Kindern aufgefallen, die ein recht ordentliches Hochdeutsch zuwege bringen, während ich mir das hart antrainieren musste (eine sofortige automatische Reaktion beim Heimatbesuch war das Verschleifen des Antrainierten und Wiederzurückfallen in den Schnabel, der einem nun mal gewachsen ist - mittlerweile gleicht es einem Dammbruch).
Das ist schon mal der erste Grund: die Elterngeneration bemüht sich um ein allgemeinverständliches Hochdeutsch, weil man, wenn man nicht im "alten Neste" bleibt, einfach verstanden können werden muss. Dann kommt hinzu, dass man einen Ehepartner wählt, der vielfach eben nicht mehr aus derselben Ecke kommt und das dialektale Sprechen nicht teilen kann, es schafft hier gerade keine Intimität, sondern Abgrenzung. Der Einfluss des Englischen ist unbestritten.
Das Vogtländische war aber schon zur Zeit meiner Kindheit im Aussterben, also Ende der 70er/Anfang der 80er; wenn die Alten so richtig loslegten, verstand selbst ich kaum noch was. 
 

Liselotte

22. August 2024 14:34

@Valjean: Auch meine Nichte spricht so ein ortloses Hochdeutsch. Scheint neben dem in manchen Ortsteilen verbreiteten gräßlichen Knaksprak (ein verstümmeltes Deutsch mit türkisch-gutturalen Vokalen) die neuere Entwicklung zu sein.

Adler und Drache

22. August 2024 14:36

@Jörg Seidel
Korrektur: 40 km, nicht 20 km
"sorry"

Carsten Lucke

22. August 2024 14:54

@ Maiordomus
Dank für Ihren Hinweis auf Tina Goldschmidt - einfach nur köstlich, die Dame ! Habe länger schon nicht mehr so gelacht.
Mochte die Sachsen ihres Dialekts wegen schon immer. Selbst, wenn sie mal Unfug erzählen, ist's irgendwie erträglicher.

Valjean72

22. August 2024 14:56

@links ist ... : "meinen (zugegebenermaßen schrecklichen) Herkunftsdialekt"
 
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Ich wundere mich, wie Sie so abfällig über ihren Herkunftsdialekt sprechen können. Das ist wohl eine links-liberale Eigenart ...
 
"Das große Ganze unserer Kulturnation ist mir dabei einfach zu wichtig – und ich weiß, daß meine ausschließlich Dialekt sprechenden Landsleute nie einen Hölderlin oder Hebel oder Kleist oder Fontane werden schätzen oder verstehen können."
 
Hier treffen Sie allerdings einen wichtigen Punkt und auch ich bin keineswegs - und alles andere als - ein Gegner des Hochdeutschen als gemeinsamer Klammer unserer deutschen Länder, als Träger der gemeinsamen Hochkultur.
 
Beides ist mE wichtig, dialektale Verwurzelung in der Herkunftsregion als auch die Beherrschung des Hochdeutschen. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass Hölderlin fleissig geschwäbelt haben wird im Alltag.

tearjerker

22. August 2024 15:04

Meine Eltern hatten in der Grundschule Mitschüler, die bei ihrer Einschulung noch gar keine Hochsprache, sondern nur niederdeutsch gesprochen haben. Die angebliche Bewahrung der Dialektsprache findet nicht mehr statt, da 99% der Hiesigen Dialekt gar nicht mehr im Alltag sprechen, während hier noch vor 35 Jahren auf dem Land die alten Seilschaften daran zu erkennen waren wie sie das Maul verdrehten. Die Elterngeneration hielt es für geboten, nur das böhmische Amts- und Kanzlei-Deutsch mit den Kindern zu sprechen, denn es sollte ja was aus ihnen werden. Alles für Status und Anspruch  weggeworfen. Die Prioritäten sind klar. Immerhin gilt, dass diejenigen, die mit Dialekten aufgewachsen sind, in der Regel andere deutsche Dialekte ziemlich gut verstehen. Die Freunde mit nicht deutschprachigen Eltern kapitulieren da bereits vor Hoch-Sprachfärbung. Das ging mit höchstens in der Schweiz so, wo ich beim ländlichen Luzerner, Berner und Thuner Deutsch weitgehend raus bin. Da läuft es anders. Warum?

Hesperiolus

22. August 2024 15:29

Zur Dialektdämmerung gehört als Zombie-Zwilling jenes „seelenlosen Bundessprechs“ gleichwidrig der aufziehehende Kriechnebel des Multiethnolekts, der Fellachensprache, des Anti-Dialekts als Slum des Seins. - Zu Leonhard Kakabsa sei nebenbei bemerkt auch auf den "Kampf mit Gach`s Sprache", jene "Sprach-Mauer", verwiesen.

Beta Jas

22. August 2024 15:41

@Diogenes
Was haben Ihre sehr speziellen Ausführungen mit dem Umstand zutun das die Dialekte am verschwinden sind und durch das Hochdeutsche immer mehr ersetzt werden sowie sächsisch vom Klang her besonders ist, erstrecht seit Maik G. peinlich wirkt.
Übrigens; Die Zahl der Toten im Gazastreifen, stammt vom Gesundheitsministerium in Gaza. Das halte ich nicht für sehr glaubwürdig. Zweites; Axel Springer hatte Wert auf die Aussöhnung zwischen dem deutschen und jüdischen Volk gelegt. Finde ich gut, er war trotz dieser Haltung als ein Rechter verschrien.

RMH

22. August 2024 16:48

"Distinktionsgewinne" @links ist ... Das ist ein wesentlicher Punkt in der Debatte. Mit einem Dialekt kann man sich auch wunderbar von dem schrecklichen Deutschland distanzieren. Österreich kann sich einbilden, nicht zu Deutschland zu gehören & die Holländer & Friesen, vereint in den Niederlanden, spucken bei einem Punkt ihrer Hymne daher auf den Boden, obwohl sie ehrlicherweise einfach Deutsche sind, egal, was sie machen. Die Bayern können sich bayerisch & Italien & Frankreich zugeneigt fühlen, nur ja nichts mit dem schmuddeligen Deutschland zu tun haben etc. - mit den "Saupreißn". Schon das Fränkische wird dann in den Landesmedien regelmäßig verwendet, wenn man einen Deppen & Dummsabbler darstellen will. Teile & herrsche. Bei Honecker, dem im Saarland Aufgewachsenen, fragte man sich auch, warum er sich so einen seltsamen Sprech angewöhnt hatte (Frage an die Sachsen: Hatte das ernsthaft etwas mit sächsisch zu tun? Mit Saarländisch auf jeden Fall rein gar nichts). Auch hier ging es um Distinktion, nur ja nichts mit dem miesen Stück Sch... namens Deutschland zu tun haben wollen. So berechtigt & richtig die Pflege von Dialekten & regionalen Brauchtum ist, ein Rückfall in miefige, kleinstaatliche Provinzialität sollte damit nicht verbunden sein.

kikl

22. August 2024 18:01

Ich vermute, dass die sprachliche Isolation von Regionen von ihrer Umgebung die Ausbildung von Dialekten befördert. Mit den Massenmedien verschwindet die sprachliche Isolation und damit der Dialekt. 
Ein Indiz dafür ist folgende Beobachtung: In Großstädten sind Dialekte meist weit weniger ausgeprägt als in der Umgebung der Großstadt. Der Grund dafür ist, dass die Großstadt weit weniger sprachlich isoliert ist als das Dorf im Umfeld.
PS: Bergvölker sind prädestiniert für starke Dialekte, weil die Reise von Dorf zu Dorf sehr beschwerlich ist. Dort ist die sprachliche Isolation besonders groß. 

Diogenes

22. August 2024 22:28

"Was haben Ihre (...)" - Beta Jas
 
Ich zitiere mal aus dem zensierten Teil 1/4 den letzten Abschnitt:  "(...) - Die Flucht in Ersatz-Nation (darum die Begeisterung für den Ukraine-Krieg bei den Antideutschen), in dem Fall ist das "Denglisch"-Kauderwelsch und Aussterben der dt. Mundarten (der Zungenschlag der Heimat) ein Symptom der Erkrankung und nicht die Ursache (der Erreger/Erzeuger). Die Wirkung (das Symptom) ist der Lichtschein der Quelle (Ursache) auf der Wand. Daher: Man kann Hundert Wände kaputt hauen, der Lichtpunkt erscheint trotzdem immer wieder, so lange die Ursache nicht abgeschaltet wird." - Die Krankheit benenne ich nach meiner Wortschöpfung "Fremdextremismus" (Fremdvolk verherrlichen, Sucht nach Ersatz-Identität) und "Deutschmasochismus" (Heimat, Volk und Nation verleugnen, wegreden) als phänomenologisches Wirkungsresultat der "Ihr Deutschen seid die Bösen"-Injektion durch die Feindmächte in den 3-4 Dunkeljahren nach Mai 1945 und darauf, welche bis heute an einen religiösen Selbstzersetzungskult ähnlich dem Klimawahn erinnert. Sektenhaft.
 
"(...) Finde ich gut, er war trotz dieser Haltung als ein Rechter verschrien." - Beta Jas
 
Wenn Sie sich den "Rechts/Links"-Scheindualismus zu eigen machen ist das nicht meine Sache. Ich denke nicht in dia|bolischen Begriffen deren einziger Zweck es ist das Volk in Parteien zu spalten und mit sich selber zu beschäftigen.

Laurenz

22. August 2024 23:08

Als Kleinkind lernte ich als erste Sprache den Dialekt der Umgebung meiner Geburtsstadt Lohr am Main, also unter-fränkisch. Mein Hirn zaubert aber nur noch einzelne Worte dieses Dialekts hervor oder kurze Sätze. Verstehen ist überhaupt kein Problem. Da ich bis auf 2,5 Jahre Hannover, mein ganzens Leben im Raum Frankfurt am Main verbrachte, woran auch 7 Jahre Mainzer Altstadt nichts änderten, geht mir der Dialekt, den man als Südhessisch bezeichnen kann, also Frankfurd, Darmstadd, Offebach, leicht von der Zunge. Für das harte R aus dem Raum Limburg-Diez mußten auch Henni Nachtsheim & Gerd Knebel (Badesalz) vermutlich ein bißchen üben. https://youtu.be/WNjfl4sJyiU  Leider sind die gesammelten Söder-Lieder aus dem Nockherberg, verkörpert durch Stephan Zinner (bis 2019), vielleicht auch wegen "Höherer Gewalt", aus dem Netz geflogen. Als Oberbayer hatte der Schauspieler Zinner das fRängische aus dem Raum Nürnberg ganz gut drauf. Hier 2 Kostproben. https://youtu.be/Z4pj2RJki2c & https://youtu.be/HAxEiyIeyA0

Lara

23. August 2024 06:21

Im Jahre 1948, als Deutsche aus Ungarn in die tiefste Provinz des "Mansfelder Landes" vertrieben, vermieden es meine Eltern, ihren donauschwäbischen Dialekt in der Öffentlichkeit zu sprechen. Dies war wohl Teil ihres Verständnisses, sich möglichst schnell zu integrieren bzw. nicht als fremd erkannt zu werden.Interessant in diesem Zusammenhang ist, wie sich dieser donauschwäbische Dialekt im Verlauf der Besiedelung aus Dialekten der Herkunftsregionen der Kolonisten geformt hat. Dabei spielte die Zahl der Zuwanderer aus einer bestimmten Regionen Deutschlands eine entscheidende Rolle, wieviele Anteile dieses Donauschwäbische an hessischen, allemannischen, bayrischen und schwäbischen Dialektelementen hatte.
Übertragen auf die Entwicklung der Sprache in Deutschland bedeutet dies nichts Gutes.

Monika

23. August 2024 07:01

@Lieselotte, Ich liebe das westpfälzische "ääs" und wende es auch gerne an. Es ist sozusagen mein Pronomen. 😀Bei meiner Einschulung sprach ich noch kein Hochdeutsch, sondern Frankfurter Mundart. Mir gedenkt ( =pfälzisch) ewig, wie ich am Schulanfang zur Lehrerin, Fräulein Hofmann, sagte: "Habbe Sie mal en Labbe, mein Disch is so babbisch". Sie lachte sehr. Mir war aber schon klar, dass man so nicht schreibt. Das Frankfurter SCH ( Chemie=Schemie, Schina usw.) kriegt man sei Lebe lang ned raus. Des geht ned verlustig. 😀

Diogenes

23. August 2024 07:41

"Unfähigkeit der Deutschen" - Liselotte
 
Es liegt ein Schatten der Trägheit auf dem dt. Geist, der den mentalen Abwehrreflex gegen ausländische, bösartige Einflüsse ausschaltet. Dieses Phänomen geht nicht auf Jahrhunderte der Selbstbeschäftigung im deutschen Klein-Klein zurück oder hat mit dem Aufkommen des Automobilverkehrs an sich zu tun. Der Rückfall in Regionalismus (Separierung) oder das Rauskommen aus dem eigenen Dorf und Niederlassen in einer anderen Region Deutschlands (meist aus Arbeitsplatzgründen) sind nur der Transporter/Träger (Beschleuniger) des Phänomens das ich ausgiebig bezeichnet und umschrieben habe. Die Selbstaufgabe kommt doch nicht von Ungefähr oder aus dem Ungenau, sondern deren Schärfe kennt sogar ein Datum. Die Kriegsniederlage und ihre Folgen bis ins Heute hinein konnten nie als Volk massenpsychologisch verarbeitet werden (die einseitig-ideologische Teilung in "Opfer und Täter", in "Gut und Böse", in "Schwarz und Weiß", ohne Obsidian-Grautöne, kommt ja nicht aus uns Deutschen selber heraus, sondern wurde in uns als Volksbewusstsein durch Psychologische Kriegsführung eingepflanzt). 

Olmo

23. August 2024 08:29

Ich spreche keinen Dialekt und beneide immer ein bisschen die Originale. Ich bin gleich doppelt entwurzelt. Bin ich in Deutschland fühle ich mich nach anfänglichem Enthusiasmus bald fremd, zurück in Italien ist es vertrauter, doch ich bin fremd. 

Olmo

23. August 2024 09:06

Auch in Dialekten findet sich Einfluss aus fremden Sprachen. Zum Beispiel im lombardischen Dialekt meiner Frau: 
Tomaten, auf Italienisch pomodori, im Dialekt tumatas. Kartoffel: auf Italienisch patata, im Dialekt pom da terr. Ich vermute, die tumatas kommen aus dem Spanischen, der pom da terr aus dem Französischen. Ich bin da natürlich kein Experte. 
Mein Schwiegervater klagt auch über das Aussterben des Dialekts. Wer soll ihn noch sprechen? Erst kamen die Süditaliener, jetzt die Pakistani, Afrikaner und Araber. Auf der Piazza hört man mittlerweile mehr Urdu als den lokalen Dialekt. Mein Schwiegervater leidet unter dem zunehmenden Heimatverlust, und nicht nur er. Ich weiß von einer Schulklasse in der zehn Buben sind. Sechs davon aus Pakistan, einer aus China, und einer aus Marroko, zwei Italiener. 
Und die Tochter hat auch noch einen Deutschen geheiratet, doch ich bin integriert,  und wenn ich beim Kartenspielen mal einen halben Satz im Dialekt raushaue, freut sich die ganze Verwandtschaft. 
 
 .

Laurenz

23. August 2024 09:48

@Olmo ... Eignen Sie  Sich einfach einen Dialekt an. In Passau gab es sogar mal einen Studiengang für Bayrisch. https://youtu.be/W-IgKVvrxzA?list=PL7NK-aaU5FRZhl7YyQKdNCTEn4WXBKZvX
@Monika .. He Meidscher, des heist ned verlustig, sonnern 's geid ned verlustisch.

Klaus Kunde

23. August 2024 10:35

Noch einmal zum Berlinisch: Bemerkenswert, während in West-Berlin der Dialekt bereits seiner Kümmerexistenz entgegensah, war ich erstaunt, wie sehr die Brüder und Schwestern aus dem Ostteil ihn noch lebendig gehalten hatten. Auch in Kreisen der Intelligenzija, so wohl der Begriff für Studierte. Vermutlich leicht erklärbar: Während West-Berlin längst Zuzugsströmen ausgesetzt war, damals sog. Gastarbeiter aus dem europäischen Ausland und Deutschen aus dem weit entlegenen Westen, blieb der Ostteil bis zum Mauerfall ein eher sprachlich abgeschottetes Habitat, das etwa Sächsisch und Ähnliches leicht absorbieren konnte. Damals ging ich bei mir Unbekannten leicht als Berliner Ossi durch.

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