Die AfD spielt nicht nur nach demokratischen Regeln; sie sieht sich als demokratischste aller Parteien, und mindestens ihr Erfolg in der Demokratie gibt ihr vorerst recht.
Inwiefern nun aber die geheiligte Demokratie die Probleme der Zeit, insbesondere die Migrationskrise, lösen kann, wird sich weisen. Skepsis sei angeraten.
Der Konstanzer Europarecht-Professor Daniel Thym etwa wies in der FAZ vom 2. September nach, wie schwierig es rein juristisch wäre, zur Grundidee der Flüchtlingskonvention zurückzukehren, so denn überhaupt der politische Wille dazu bestände.
(…) Die Menschenrechtsdogmatik gewährleistet heute, anders als früher, viele Verfahrensgarantien. Das bewirkt, daß die Gesetzgebung diese nicht mehr ohne weiteres abschaffen kann. Die Ausdehnung des Rechts erfaßte auch das Schutzniveau, vor allem das ‚Refoulement-Verbot‘, also das Verbot des Zurückschickens (…).
Thym zeigt dann eindrucksvoll, wie aufwendig eine Revision wäre, wenn man sich nicht – wie in anderen Ländern durchaus üblich – ganz dezisionistisch das Recht nähme, sich nicht an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu halten.
Ganz abgesehen von diesem Problem:
Demokratie als Ausdrucksform des politischen Utilitarismus verfährt mathematisch, etwa beim stupiden Addieren von Wählerstimmen und Parlamentssitzen für Koalitionsbildungen. Quantifizierend also, nicht qualifizierend. Man soll das gut und gerecht finden, selbst wenn sich nun aus politischem Pragmatismus so verschiedene Kräfte wie die CDU und das BSW zusammenraufen.
Der Wähler selbst gilt als mündig, das Wahlvolk als souverän. Beides wird voraussetzungslos so angenommen – offenbar in Ergebnis dessen, was seit der Aufklärung als „grundvereinbart“ gilt. Mündigkeit meint, der Bürger könne kraft kritischen Urteilsvermögens für sich selbst sprechen und Entscheidungen treffen. Die Demokratie und überhaupt die freiheitlich-demokratische Grundordnung berücksichtigten dies am ehesten. Heißt es.
Hat diese Annahme aber Geltung, wenn – unter anderem wegen des völlig dysfunktionalen Bildungssystems – immer weniger Absolventen von Schulen, selbst des sogenannten Gymnasiums, die Minimalanforderungen des Lesens, Schreibens und Rechnens erfüllen? Und wenn sowieso kaum jemand der Generation TikTok noch willens ist, einen längeren Text zu lesen? Wenn bloßes Meinen völlig hinreichend ist, um in der sakrosankten Demokratie „seiner Stimme Gewicht zu geben“, obwohl bloßes Meinen vom Wissen oder gar Urteilen unterschieden werden müßte?
Die Glorifizierung der Demokratie ist problematisch. Geschichtlich führte sie eigendynamisch in Stagnationsphasen und Krisen, in denen – wie heute – kaum mehr die Lösung drängendster Fragen möglich erschien, jedenfalls gerade nicht demokratisch. Das rief tiefe Korrekturbedürfnisse und damit vitale Korrekturkräfte auf, die outside the box dachten und so harte wie gefährliche Entscheidungen trafen, indem sie sich gerade nicht als Parteien, sondern als Bewegungen verstanden und die Demokratie außerparlamentarisch angriffen.
Das war oft mit dramatischen Veränderungen und Opfern verbunden und verlief infolge der Abschaffung von Gewaltenteilungen, der checks an balances sowie der Kontroll- und Schutzmechanismen extrem riskant, ja katastrophal.
Den Verteidigern unserer zunehmend sklerotischen Demokratie ist deren Selbstgefährdung intuitiv bewußt; daher stigmatisieren sie hypersensibel alle Kritiker des gegenwärtigen demokratischen Bestandes als „Faschisten“, vermutlich selbst perplex, weil die Demokratie mit der von ihnen betriebenen Gleichschaltung von Kräften Sympathien einbüßt und kaum mehr funktioniert, gerade ja dann nicht, wenn die einzig lebendige Opposition ausgeschlossen wird und Verunglimpfung und Denunziation als Zivilcourage gelten.
Zum anderen schließen sich die Demokratie-Nutznießer selbst in ihrer politischen Wagenburg ein und heben das Spektrum des einst noch Verschiedenen und Vielfältigen auf. Sie tun dies vermeintlich, um die Demokratie zu schützen, so der propagandistische Selbstbetrug.
Leitbegriffe wie Toleranz, Vielfalt und Diskurs verkommen zur Phrase, zum pauschalen Bekenntnis – und klingen wie Pfeifen im Walde. Das Establishment der Berliner Republik wird unausgesprochen wissen und sogar bedauern, daß Pluralismus und Toleranz spürbar fehlen, insofern beides nurmehr für die die angepaßte Gefolgschaft gilt, die sich ja ohnehin im artigen Bekenntnis zur moribunden (Schein-)Demokratie einig ist.
Je weniger an der Agitation stimmt, um so eindringlicher werden deren Beschwörungsformeln. Längst wirkt alles dienstgrau wie der Bundespräsident, es soll aber als “bunt” gelten. Des Kaisers neue Kleider … -
Wohl richtig: Der Faschismus entstand innerhalb von Krisenzeiten als Korrekturkraft gegenüber insuffizienten Demokratien – in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts u. a. „klassisch“ in Italien, Spanien, Portugal. Man belese sich bei Ernst Nolte und Armin Mohler.
Und er hob Demokratien aus den Angeln, substantiell (zunächst) in seinem Sinne erfolgreich, aber um den Preis von Tragödien – und selbst über kurz oder lang tragisch scheiternd. Den Boden für radikale und charismatischen Bewegungen bereitete grundsätzlich aber die Demokratie in ihren Krisen selbst.
Dort hinein führten jedoch allzu verfestigte „Grundvereinbarungen“ mit suggerierter Ewigkeitsgarantie, die sich als zu unflexibel und nicht mehr revidierbar erwiesen hatten, ausgehend unter anderem von einem problematischen Menschenbild und immer fragwürdiger gewordenen oder maßlosen Gesellschafts‑, also Gerechtigkeitsvorstellungen.
Demokratien können ebenso erstarren wie Diktaturen. Die Berliner Republik ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Ihre Exponenten ähneln bis in Gestus, Rhetorik und Physiognomie hinein längst Funktionären und Ideologen, während in den Medien die Grenze zwischen Bericht und Kommentar aufgehoben wird.
Die Bürger spüren, daß Entscheidendes nicht mehr stimmt: Die Töne werden schriller, die Aussagen sollen kränken, Empfindlichkeiten nehmen zu, zurückgelehnte Diskussionen sind unmöglich; und dann geht ein nicht mehr zu überwindender Riß durch das Land und die Familien. Alles scheint auf einen Konflikt und dräuende Veränderungen zuzulaufen. Die Beherrschten wollen, die Herrschenden können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Revolutionäre Situation?
Nur erscheint die Angst vor faschistischen Kräften gegenwärtig völlig absurd. Selbst wer sich die wünschen sollte, muß erkennen, daß es sie nicht gibt. Es fehlt eine kritische, gar zornige Jugend. Gibt es sie schon aus demographischen Gründen der Zahl nach nicht, so mangelt es ihr gänzlich an subkulturellen Ideen und charismatischen Führungspersönlichkeiten, an Energie und Fitneß sowieso, so auch am Mumm, den Rubikon zu überschreiten.
Jene, die aber quasifaschistisch auftrumpfen, wirken wie Karikaturen ihrer selbst und werden sich gerade in der AfD gegen Rentnerbeige und Demokratiebeflissenheit nicht durchsetzen können. Mit Tucholsky bemerkt: Revolutionen finden auch für die AfD nur im Saale statt, und Schlachten werden allenfalls auf Sitzungen geschlagen.
Vielmehr gelingt es selbst dem desolaten Establishment nach wie vor, Teile der Jugend für sich einzuspannen, ohne daß die selbstkritisch zu bemerken scheint, wie sie dabei zu einer Art Staatsjugend degeneriert. Abgesehen davon, daß es Jugendliche sind, die besonders zahlreich in Depression geraten, weil sie an einem apokalyptischen Weltbild leiden, ausgelöst u. a. von Klima- und Umweltängsten oder bedingt von empfundener Überforderung an den sedierenden Ganztagsschulen, die authentisches Leben und Erleben verhindern.
Die hysterischen Reaktionen auf die AfD erfolgen, weil den „Demokraten“ gar nicht mehr vorstellbar ist, daß lebhafte und grundsätzliche Kritik durch eine Opposition das Lebenselixier der Demokratie ist – oder mindestens das einer Idee von Demokratie, die nicht nur in Deutschland erlischt oder sich als Illusion erweist.
Wohl oder übel schafft sich die Demokratie ihre Opponenten selbst. Wer diese Opposition verunglimpft, wer sie kriminalisiert und möglichst verbieten will, der unterminiert die Demokratie, die er zu verteidigen vorgibt. Die Opposition jedoch ist damit nicht aus der Welt; sie findet ihre Wege.
Majestyk
Was kann die Demokratie dafür, daß man sie als Etikettenschwindel betreibt und auf strikte Gewaltenteilung, Souveränität und freie Medien gleich ganz pfeift?
Auch wenn demokratiefeindliche Kräfte sich des Staates bemächtigt haben und ihre kulturelle Hegemonie mit üblen Tricks verteidigen wird mich dies nicht zu einem Demokratiefeind werden lassen, bei aller Verzweiflung über meine Mitmenschen.
Für mich ist das Kernproblem nicht die Demokratie, sondern die Staatstiefe. Deswegen möchte ich auch nicht, daß die Zügel vom Leviathan einfach weitergereicht werden, sondern der Staat auf seine Kernaufgaben zurückgebaut wird. So manches andere Problem dürfte sich damit von selbst lösen.