Natürlich hatte Björn Höcke damit gerechnet. Er ist ja nicht naiv, ist keiner, der an den vollständigen Respekt der Macht vor dem Recht glaubt. Er hofft auf diese respektvolle Haltung, aber er geht nicht in allen Fällen von ihr aus. Zu deutlich ist der Unmut der “Kartellparteien” mit dem Souverän, also dem Volk geworden, das aus ihrer Sicht in Teilen, in sperrminoritätsgroßen Teilen, unbelehrbar zu sein scheint und die Falschen wählt.
Höcke zeigte sich, als er am Telefon vom Tag im Parlament erzählte, als jemand, der dem Recht eine Kraft zuspricht, die unabhängig von jeder Macht vorhanden sein müsse. Man könnte sagen, daß er dem Rechtspositivismus seinen gebührenden Platz einräumt, und mehr: daß er diese Vorstellung von einer Eigenkraft des Rechts sogar verteidigen möchte, denn ohne sie wäre alles Regelwerk stets nur Machtauslegungen unterworfen und würde eines ganz sicher nicht mehr tun: etwas regeln.
Wir alle glauben, wenn wir uns an Regelungen und Gesetze halten, daß sie nicht willkürlich außer Kraft gesetzt werden dürfen – vor allem nicht von denen, die sie festlegten. Die Einhaltung der Geschäftsordnung eines Parlaments mag denen, die nach verlorener Wahl Kröten schlucken müssen, nicht leicht fallen. Aber sie müssen schlucken und einhalten, denn wenn sie es nicht tun, ist ihre Gesetzgebung und sind ihre Maßnahmen brüchig und nicht mehr aus sich heraus verbindlich.
Der postdemokratische Unmut erstreckt sich also längst auch auf die Geschäftsordnung, die sich jedes Parlament gibt und die den Umgang politischer Gegner im parlamentarischen Betrieb mäßigend und zähmend regeln soll: Es sind Wortgefechte, die im Plenarsaal ausgetragen werden, und sie folgen Abläufen, in denen keiner niedergebrüllt oder ständig unterbrochen werden darf.
Viel ist dieser Tage wieder von der Würde Hoher Häuser die Rede, die in Gefahr sei, weil die Ostwahlen Fraktionen einer Partei zu Riesen gemacht hätten, deren Ziel es sei, demokratische Verfahren auszuhebeln und einen Systemwechsel vorzubereiten.
Niemand glaubt das im Ernst, aber alle tun so. Das hat Gründe: Die linksgrüne Transformationspolitik trifft seit zehn Jahren auf wachsenden Widerstand, und wo den Altparteien die Argumente ausgehen, wird alternative Politik zum Demokratieproblem erklärt. Dabei sollte bereits der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung für jeden, den die Politikverdrossenheit verdroß, ein Grund zur Freude sein: Es geht wohl wieder um etwas, es stehen echte Unterschiede zur Wahl.
Postdemokratischer Unmut: Das ist der Unmut derer, die lieber führen und bestimmen und nicht verhandeln und korrigieren wollen. Es hat sich bei den Altparteien die Überzeugung festgesetzt, man sei in den wesentlichen Fragen zu nahe beieinander, als daß noch ernsthaft gewählt werden müßte. Man könnte diese Atmosphäre mit der Aufteilung eines Kuchens durch jemanden vergleichen, dem man zuvor die Augen verband.
Postdemokratischer Unmut: Das ist der Offenbarungseid, den Leute leisten, die bereit sind, für den Erhalt ihrer parlamentarischen Macht Verfahrensweisen und Verhaltensregeln zu ignorieren – und es nicht zugeben wollen.
Worüber sprechen wir, wenn wir in die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags schauen?
1. Der älteste gewählte Abgeordnete eröffnet und leitet als Alterspräsident die Sitzung bis zu dem Moment, in dem ein Landtagspräsident gewählt ist und die Geschäfte übernehmen kann.
2. Der Alterspräsident stellt zunächst die Anwesenheit aller Abgeordneter per Namensnennung und Zuruf und danach die Beschlußfähigkeit fest. Anschließend fordert er die stärkste Fraktion auf, einen Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten vorzuschlagen.
3. Es ist seit der Paulskirchenversammlung von 1848 Gepflogenheit und sogenanntes Verfassungsgewohnheitsrecht, daß die stärkste Fraktion nicht nur das Vorschlagsrecht hat, sondern mit ihrem Kandidaten das Amt des Parlamentspräsidenten auch bekleiden kann.
Entscheidend ist zweierlei: In Thüringen ist die Kontinuität der Geschäftsordnung gesetzlich festgeschrieben. Das bedeutet: In der konstituierenden Sitzung darf es unter der Leitung des Alterspräsidenten keinerlei Änderungen der Geschäftsordnung geben. Sie wird aus dem vorherigen Landtag in Kontinuität übernommen und kann erst nach der Konstitution des neuen Landtags, also im Laufe der neuen Legislaturperiode geändert werden.
Zweitens sieht diese Geschäftsordnung kein Vorschlagsrecht der schwächeren Fraktionen vor, auch nicht nach zwei, drei, fünf oder zehn gescheiterten Wahlgängen. Findet sich, wie wohl im Falle des Vorschlags eines AfD-Kandidaten durch die AfD, keine Mehrheit, könnte bis zum Sanktnimmerleinstag ergebnislos weitergewählt werden: Keine andere Partei kann einen ihr genehmen Kandidaten vorschlagen.
Welcher Gestaltungsspielraum kann daraus für die AfD entstehen? Um die Konstitution des Landtags zu erreichen und Konstruktivität zu signalisieren, könnte die AfD den Kandidaten einer anderen Partei vorschlagen und ihm zur Mehrheit verhelfen. Dies hätte natürlich seinen Preis; man könnte es als kleine, geglückte Koalitionsverhandlung werten, denn was in Absprachen in einem Fall gelang, könnte auch in anderen Fällen gelingen.
Aber wir sprechen nicht über Ministerien, aus denen heraus eine fundamental andere Einwanderungs- oder Bildungs- oder Finanzpolitik etabliert werden könnte. Wir sprechen über ein Verwaltungsamt in einem Parlament, über die Leitung von Sitzungen und über ein waches Auge, das über die Einhaltung der Geschäftsordnung und die Wahrung des Anstands wacht und dabei wie herausgelöst aus der eigenen Fraktion eine neutrale Position einzunehmen hat.
Den Wahlverlierern, den “Kartellparteien”, wie Höcke sie nennt, war aber bereits die streng befristete Übernahme der Amtsgeschäfte durch den AfD-Alterspräsidenten Jürgen Treutler etwas, das sie nicht ertragen wollten. Sie agieren dem Bedeutungszuwachs der AfD gegenüber durchschaubar und wie Leute, die den einfallslosen Wunsch verspüren, eine Mauer zu errichten.
Denn für sie ist nun seltsamerweise der “Ernstfall” eingetreten, auf den sie nicht vorbereitet waren und für den ihnen die Geschäftsordnung nicht genügend antidemokratischen “Spielraum” gewährt.
Diese Vorgänge sind nicht ganz ohne Präzedenz: Als im Westen Anfang der Achtziger die Grünen aufkamen und in die Parlamente einzogen, dachten die damaligen drei Altparteien auch über Änderungen und Beugungen von Geschäftsordnungen nach und unterstellten Systemgefährdung. Jedoch gelang die Entzauberung rasch: Der Parlamentarismus saugte die Grünen ein.
Der Anspruch der AfD läßt sich in zweifacher Hinsicht mit dem der Grünen von damals nicht vergleichen: Die Machtbasis der AfD ist in Thüringen längst weit größer als sie für die Grünen je war, egal wo. Gleichzeitig ist das politische Programm der AfD nachgerade milde im Vergleich zu dem, was die Grünen damals wollten.
Es war Höcke, als er berichtete, wichtig zu betonen, daß sich die installierte “Alternative zur Alternative”, das Bündnis Sahra Wagenknecht, nicht im Geringsten vom Verhalten der Altparteien absetzte. Vielmehr bildete das BSW zusammen mit der Linkspartei einen lauten Block. Wen wundert es? Man zog noch vor einem Jahr in derselben Partei am selben Strang und regierte in Thüringen sogar.
Auch in den Reihen der CDU-Abgeordneten haben sich wohl keine Absetzbewegungen und Risse gezeigt. Die Dynamik im Saal war die einer Sortierung in Freund und Feind. Für die AfD-Abgeordneten, zumal für die Neulinge im Parlament, war es eine Feuertaufe: Wie wirkt es, wenn man körperlich spürt, daß man nicht dazugehören soll, obwohl man zu etwas antrat, das genau so vorgesehen war – und gewann?
Konstituierende Sitzung, Würde des Hauses: Der Alterspräsident wurde fortwährend auf ehrabschneidende Weise unterbrochen und herablassend “belehrt” darüber, daß er zulassen müsse, was er gar nicht zulassen kann: Änderungen der Geschäftsordnung noch vor der Wahl des Landtagspräsidenten.
Aber Jürgen Treutler ist von den alten Hasen der AfD gut auf diese schweren Stunden vorbereitet worden: Er blieb ruhig und gab die Macht über den Ablauf nicht aus der Hand. Er half dabei, erneut das zu tun, was nur gelingen kann, wenn man so stark geworden ist wie die AfD in Thüringen oder in Brandenburg: den politischen Gegner zu einem Verhalten zu zwingen, das ihn entweder kompromißbereit zeigt oder ihn “zur Kenntlichkeit entstellt”.
Die Vorlage ist ja denkbar simpel: Diejenigen, die nun einen AfD-Landtagspräsidenten akzeptieren müßten, können das Gesetz ignorieren oder sich dem Recht beugen. Stattdessen führen sie einen Affentanz mit halb verrutschter Demokratiemaske auf, der zwischen bedrohlich und lächerlich schwankt. Denn unter der Maske kommt ein Gesicht zum Vorschein, das behauptet, der Rechtsstaat sei nur dann einer, wenn er den eigenen Vorstellungen diene.
In der Lage selbst mag die Konfrontation im Landtag für die AfD wieder schwer zu ertragen sein. Aber es ist notwendig, daß es so kommt und daß es so verfahren ist. Leuten wie Mario Voigt (CDU), Katja Wolf (BSW) und Bodo Ramelow (Linke) möchte man doch nichts verdanken. Sie sind es, die in Panik geraten sind am Wahlabend, sie sind es, die mit der Absicht, eine Mauer zu errichten, eine Brandmauer, mit der Kelle in der Hand vor ihrem Pfusch stehen.
Das Landesverfassungsgericht in Weimar ist nun angerufen und muß entscheiden. Es wird der AfD recht geben müssen, wenn es sich nicht zur Rechtsbeugung entschließen will. Wer weiß, wie sehr Parteien um ihren Proporz in der Besetzung höchster Richterämter ringen, kann sich vorstellen, welcher Druck nun auf diesen Richtern lastet: Man erwartet von ihnen, daß sie “liefern”.
Postdemokratischer Unmut in Erfurt: Er ist gefährlich, aber vor allem ein Zeichen von verrannter Hilflosigkeit. Das Schönste dabei ist: Niemand, der mitzuwirken hat, kann sich von der Bühne stehlen. Dafür sorgen Höcke und seine Leute.
Laurenz
Man fragt sich, warum der Alterspräsident die Unruhestifter (mit Hilfe der Saal-Mitarbeiter) nicht des Plenarsaales verwiesen hat.
Hier das Interview mit einem müden Höcke im Deutschlandkurier. https://youtu.be/PjECNPL0jOE