Raymond Unger: Habe ich genug getan?

Ach, unsere Toten. Todesnachrichten von Mitstreitern – und seien es ferne – berühren uns stets jäh. Es folgt leider meist: das große Vergessen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wir neh­men stets einen »Draht nach oben« an, dort sind die Ver­stor­be­nen auf­ge­ho­ben! Gun­nar Kai­ser, dem die­ses Buch zuge­eig­net ist, dürf­te ihn gehabt haben. Die­ser nicht­lin­ke Influen­cer­phi­lo­soph ist im Herbst 2023 nur 47jährig einer Krebs­er­kran­kung erlegen.

Kai­ser hat­te zeit­le­bens enor­me Reich­wei­te, zuletzt vor allem in den sozia­len Medi­en – »vor Coro­na« war er auch im Main­stream gut ange­se­hen. Durch sei­ne gründ­lich durch­dach­ten Stel­lung­nah­men wäh­rend der »Plan­de­mie« wur­de er zu einem Out­law – aber wie! Sein groß­ar­ti­ges, weil all­um­fas­sen­des Buch Der Kult (über den »Coro­na-Kult«, vgl. ­sezession.de vom 23. Juni 2022) wur­de zum Vade­me­cum über die poli­ti­schen Gren­zen hinweg.

Leser erwar­te­ten nun die Aus­ga­be sei­nes post­hu­men Buches, das der Euro­pa Ver­lag lan­ge vor Kai­sers Tod bereits ange­kün­digt hat­te. Das ist Frag­ment geblie­ben und wird nun nicht gedruckt. Hin­ge­gen hat Kai­sers Kol­le­ge Ray­mund Unger, der selbst mit Die Wie­der­gut­ma­cher (2018) eine Art Stan­dard­werk über neu­deut­sche »Bewäl­ti­gungs­ar­beit« ver­faßt hat­te, ein Erin­ne­rungs­büch­lein an den Selbst­den­ker und Non­kon­for­mis­ten geschrieben.

Es liest sich zwie­späl­tig. Wir erfah­ren rein gar nichts über das Woher und das eigent­li­che War­um Gun­nar Kai­sers. Wie er auf­ge­wach­sen ist, wie er leb­te, wel­che Lek­tü­ren ihn präg­ten, was sei­ne Weg­schnei­sen waren? Um es hart zu sagen: Wir wis­sen nach dem Lese­durch­gang nicht mal, ob Kai­ser West- oder Ost­deut­scher war, ob er schwul war und ob er je ein Stu­di­um abge­schlos­sen hat. »Der Auf­stieg ­Kai­sers ging ein­her mit dem Abstieg der Frei­heit«, schreibt Unger, der wie Kai­ser gewis­ser­ma­ßen ein Spät­be­kehr­ter ist.

Unger fokus­siert sich auf die letz­ten Lebens­jah­re Kai­sers, zumal dies auch der Zeit­raum war, wo bei­de zusam­men­ka­men. Es ist lei­der zuviel »ich«, »mir«, »mei­ner«, »mich« in Ungers Betrach­tung. Immer wie­der rekur­riert er auf eige­ne Bei­trä­ge. Bedau­er­lich, wenn nicht gar schimpf­lich, ist vor allem, daß Unger sei­ten­lang die (krank­heits­be­dingt) schwächs­ten Bei­trä­ge des Inter­net­phi­lo­so­phen vor­führt – um dann zu kon­sta­tie­ren, daß der (kran­ke) ­Kai­ser hier nicht wirk­lich in Form war.

Am Ende sei­nes kur­zen Lebens prä­sen­tier­te Gun­nar Kai­ser sich recht jäh als from­mer Katho­lik. »Habe ich genug gebe­tet, habe ich genug getan für mein See­len­heil?« Sol­che durch­aus gewich­ti­gen Aus­sa­gen wer­den von Unger eher psy­cho­lo­gi­siert, denn, na ja, Kai­ser »lieb­te schö­ne Frau­en und Fuß­ball« und zock­te oft tagelang.

Die The­se, daß Kai­ser von Geheim­diens­ten infi­ziert wor­den sein könn­te, greift Unger kurz auf. Zuletzt meint er, daß »Gun­nars Krank­heit« nicht zuletzt sei­ner poli­ti­schen Ohn­macht geschul­det sei. Es habe die­ses Miß­ver­hält­nis zwi­schen »Anstren­gung und Ertrag« gege­ben. Man kennt es! ­Unger hat ein gutes Erin­ne­rungs­buch geschrie­ben, aber kein sehr gutes. Möge uns Gun­nar Kai­ser als Dis­si­dent in dau­ern­der Erin­ne­rung bleiben!

– –

Ray­mond Unger: Habe ich genug getan? In memo­ri­am Gun­nar Kai­ser, Mün­chen: Euro­pa Ver­lag 2024. 190 S., 17 €

 

Die­ses Buch kön­nen Sie auf antaios.de bestellen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)