Es gibt wohl kaum jemanden im alternativ-rechten Spektrum, dem der Name Julius Evola unbekannt ist oder der den zauberischen Titel seines berühmtesten Werkes, Revolte gegen die moderne Welt (1934), noch nie gehört hat.
Für die meisten ist Evola allerdings nicht mehr als ein »Mem«, mit dem sich eine besonders elitäre und radikale Attitüde signalisieren läßt, während ihn die wenigsten tatsächlich gelesen und verstanden haben.
Evola ist kein einfacher Autor und Denker. Speziell die Lektüre der Revolte ist nicht unbedingt ein Vergnügen, sondern eine Art Bergbesteigung, deren Mühen am Ende mit einem ungeahnten und erhabenen Ausblick »von oben« belohnt werden.
Trotz seines Titels, der zur Aktion aufzurufen scheint, ist das Buch politisch-pragmatisch gesehen »nutzlos«, auch wenn es zu einem politischen Problem Stellung nimmt, für das ein anderer viel herbeizitierter rechter Denker, Oswald Spengler, das Schlagwort geliefert hat: Man mag es »Untergang des Abendlandes« oder mit Evolas Lehrmeister René Guénon »Krise der modernen Welt« nennen – es bezeichnet den großen Bogen: die Frage nach den Ursachen des Verfalls und des Sterbens der europäischen Zivilisation beantwortet Evola mit einem grandiosen, im erweiterten Wortsinne meta-politischen, mythischen Entwurf, der für sich absolute geistige Autorität beansprucht, beruhend auf »initiatisch« erworbenem, sicherem Wissen.
Gestorben ist Giulio Cesare Andrea Evola, genannt »Julius«, vor fünfzig Jahren, in den frühen Nachmittagsstunden des 11. Juni 1974, in seiner bescheidenen Wohnung im Rom. Seit einem russischen Bombenangriff auf Wien im Januar 1945 querschnittgelähmt, bat er, »vom Schreibtisch weg an das Fenster geführt zu werden, von wo man den heiligen Hügel Gianicolo (dem Janus geweiht, dem zwiegesichtigen Gott, der in diese und jene Welt blickt) sehen konnte« (H. T. Hakl).
Es war sein Wunsch, so gut es eben ging, »aufrecht« zu sterben. Die Urne mit seiner Asche wurde in einer Gletscherspalte des Monte Rosa in den Waliser Alpen versenkt. Evola war in seiner Jugend begeisterter Bergsteiger gewesen, aber wie bei allen anderen Dingen in seinem Leben ging es ihm dabei um eine spirituelle Erfahrung, nicht um Sport oder Abenteuer.
Der Berg verbindet mit dem Ewigen, Zeitlosen, Göttlichen, weiht in eine Seins- und Sichtweise ein, die buchstäblich »über den Dingen steht«. Evolas Ideal war »das Oben«, das Unbewegte und Unverrückbare, die »felsenfeste« Wahrheit, die durch nichts erschüttert werden kann, das Klare, Kristallene, Reine, Helle und Kalte des Himmels und des Eises.
Die Geschichte von Evolas »aufrechtem« Sterben gehört zum festen Bestandteil der Legendenbildung um einen Mann, über dessen äußeres Leben nur wenig bekannt ist. Die weitverbreitete Angabe, der am 19. Mai 1898 in Rom geborene Evola sei ein »Baron aus sizilianischem Landadel« gewesen, stimmt vermutlich nicht, auch wenn sie angesichts der ikonischen Fotos des herrisch in die Ferne blickenden Denkers mit dem Monokel recht plausibel klingt.
Womöglich war der »Baron« nur ein Ehrentitel, wie auch der »Professore«, mit dem ihn Anhänger und Freunde ehrfürchtig ansprachen. Akademische Titel verachtete er ebenso wie jegliche Form der konventionellen bourgeoisen Existenz, ein Grund, warum er niemals einen herkömmlichen Beruf ergriff, heiratete oder Kinder zeugte. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit journalistischen Tätigkeiten und Übersetzungen.
Der wohl schillerndste und neben Guénon bekannteste Vertreter der »Integralen Tradition« hatte sein schöpferisches Dasein als rebellischer Künstler begonnen, der nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Artillerieoffizier gedient hatte, in der Nachfolge Rimbauds auf Französisch dichtete, mit dem Dadaismus sympathisierte und futuristische Gemälde schuf. Mit 24 Jahren gab er die Kunst auf und widmete sich ausschließlich seinem schriftstellerischen Werk.
Einer »philosophischen« folgte eine »esoterische« Phase, und mit seiner rabiat antikatholischen Schrift Heidnischer Imperialismus (1928, dt. 1933) betrat auch ein »politischer« Evola die Bühne. Trotz seines heutigen Images und seiner späteren »Verstrickungen« war Evola zu keinem Zeitpunkt ein »Faschist«. In der Tat kritisierte er die Ideologie und die Herrschaftspraxis des Faschismus bereits Mitte der zwanziger Jahre scharf »von rechts«, insbesondere seinen Mangel an Spiritualität, seine »populistischen« Elemente und seinen »patriotischen Mythos«.
Einen nennenswerten Einfluß auf die Politik des Regimes hatte er zu keinem Zeitpunkt, auch wenn er schließlich in etlichen faschistischen Zeitschriften publizierte und am 14. September 1943 sogar in der Wolfsschanze bei einem Zusammentreffen von Hitler und Mussolini anwesend war, als Dolmetscher und Begleiter des Politikers Giovanni Preziosi.
Vor dem Krieg hatte Evola auch versucht, im deutschsprachigen Raum zu reüssieren. Er knüpfte Kontakte zu geistesverwandten Köpfen wie Edgar Julius Jung, Karl Anton Prinz Rohan und Othmar Spann. In den »rassekundlichen« Büchern seines Freundes Ludwig Ferdinand Clauß taucht er als »sizilianischer Baron, gesellschaftlich spielend«, auf. Er traf auf Carl Schmitt und Gottfried Benn, der die Revolte in einer Besprechung enthusiastisch pries, und hielt 1938 eine Vortragsreise vor Gliederungen der SS.
Ein Gutachten von Karl Maria Willigut, dem Runenmystiker mit psychiatrischer Behandlungsgeschichte, stufte ihn als »reaktionären Römer« ein, der aus der Sicht des Nationalsozialismus auf gar keinen Fall gefördert werden dürfe. Nach dem Krieg wurde er 1951 vom christdemokratischen italienischen Staat wegen »Verherrlichung des Faschismus« vor Gericht gestellt und nach sechsmonatiger Untersuchungshaft freigesprochen.
Um Evolas Denken zu begreifen, müßte man bei seiner von Carlo Michelstaedter übernommenen Grundidee eines autarken, unerschütterlichen, sich selbst genügenden »Ichs« beginnen, in dem sich eine innere Macht zusammenballe, die eine radikale Freiheit und Unabhängigkeit möglich mache. Es geht nicht nur um bloße »Stoa«, sondern um einen Seins- und Bewußtseinszustand, der das Individuum mit einer absoluten Wahrheit verbindet und dadurch unkorrumpierbar macht. Dieses Grundprinzip vertiefte Evola mit Fichte und Schelling, mit Meister Eckhart, fernöstlichen Weisheitslehren und hermetischer Esoterik, um bei einem, wie er es nannte, »magischen Idealismus« anzugelangen.
Dies bildet den Kontext, aus dem die Revolte gegen die moderne Welt erwachsen ist. Hier geht nicht, wie bei Spengler, bloß der Zyklus einer Hochkultur zu Ende, der Bogen wird viel, viel weiter zurückgeschlagen, bis in Zeiten, die vor der Geschichte liegen (die selbst schon ein Produkt des Zerfalls ist). Evola folgt darin der Lehre von den »vier Weltzeitaltern«, die einen stetigen Abstieg der Menschheit aus dem »goldenen« Zeitalter der Einheit mit den »Göttern« bis zum »eisernen« Zeitalter der maximalen Entfernung von ihnen beschreibt, dem »Kali-Yuga« der Hindus und der »Wolfszeit-Schwertzeit« der Edda.
Der »modernen« Welt steht nicht etwa das Bild eines historischen Gipfelpunkts gegenüber, sondern die »Welt der Tradition«, universal gültiger, transzendenter Prinzipien, die sich in den Überlieferungen der Kulturen der ganzen Welt widerspiegeln. Die »Tradition« kennzeichnet eine Art kosmische, metaphysische Ordnung, in der die »Welt des Seins« und die »Welt des Werdens«, des Ewigen und des Vergänglichen, des Himmels und der Erde, des Männlichen und des Weiblichen miteinander in Einklang stehen.
Die Verkörperung dieser geistigen Ordnung in der Zeit ist der sakrale König, der Mittelpunkt und Zentrum des traditionalen Staates und zugleich ein priesterlicher »Brückenbauer« zwischen »Oben« und »Unten« ist. Evolas traditionale Welt ist streng hierarchisch gegliedert, sie ist die kompromißlose Antithese zur abnormen modernen Welt mit ihren egalitären, humanistischen, demokratischen, individualistischen, »progressiven« Ideen.
Mit der »Welt der Tradition« als Bezugspunkt, dem alle Maßstäbe entnommen werden, schuf der Antikatholik Evola eine idealrechte, platonische Konzeption, die jener des Katholiken Erik von Kuehnelt-Leddihn, der den »Baron« persönlich kannte und schätzte, verblüffend ähnelt. »Explizit« politische Bücher mit Gegenwartsbezug schrieb er im Grunde nur zwei: Menschen inmitten von Ruinen (1953, dt. 1991) und seinen Begleiter Den Tiger reiten (1961, dt. 1997). Der »Tiger«, den es zu »reiten« gilt, bis er von selbst zusammenbricht, ist die Moderne, der Reiter ist der Mensch der Tradition, der sich mit der Zeit, in der er leben muß, zu arrangieren und abzufinden hat. Mehr gibt es im Grunde nicht zu tun, da politischer Aktivismus das Fatum des Kali-Yuga nicht aufhalten kann.
Diese »Apoliteia«, die Distanz und Enthaltung von allem Politischen, erschien Evola nach dem Krieg als die einzig mögliche und würdige Haltung. Wer trotz allem »aufrecht« bleibt, »wird auch im Kali-Yuga Früchte erlangen können, die für Menschen anderer Zeitalter kaum erreichbar waren.« Oder wie Stefan George zu Ernst Robert Curtius sagte: »Wir müssen erst durch die vollendete Zersetzung hindurch. Aber dann kommt’s wieder besser.«