Aus uns wurden nur ganz ausnahmsweise Entscheidungsträger, wir gelangten eher selten in die erste Reihe. Über die harten Brüche hinweg hatten wir unsere eigenen Geschicke zu bestimmen, bestimmten jedoch kaum über andere. So lebt es sich nicht nur einfacher, sondern häufig redlicher.
Als ich 1990, nachdem hinter der DDR gerade die Türen zugefallen waren, meine erste Lehrerstelle antrat, begrüßte der neue, der Wendegewinner-Schulrat uns letzte Ost-Absolventen mit kaltem Unverständnis: Wir sollten uns mit unseren Abschlüssen – ich etwa mit einem Diplom der Karl-Marx-Universität Leipzig – keine großen Hoffnungen machen, es kämen jetzt ganz andere Pädagogen an die Schulen.
Wer kam? Jene, die unsere neuen Vorbilder sein sollten, Westlehrer, die „drüben“ noch nicht versorgt waren – schon etwas ältlich, umso mehr aber berufsjugendlich wirkend und vor allem „eher links“, also Sozialdemokratie-light, dabei nebenher so ein bißchen christlich, geprägt jedenfalls von der achtundsechziger Pädagogik politischer Menschenliebe: freie Unterrichtsformen, anything goes, fördern statt fordern, einen Klassensatz Gudrun Pausewang dabei und einen Anti-Atomkraft-Aufkleber auf dem Gebrauchtwagen.
Ähnlich pseudocoole Figuren fluteten gleichfalls die gewendeten Ämter, also das, was hinfort „öffentlicher Dienst“ zu heißen hatte – dort dann mehr CDU-light, karriereorientierte Jungpromovierte, die Referatsleiter, Ministerialdirektoren und Staatsekretäre wurden, während wir irritierten DDRler mit Existenzrettung beschäftigt waren und innerlich in eine Art Reservation strebten, gerade als Zeitzeugen von Wende und Wiedervereinigung noch viel zu dicht dran und daher gar nicht realisierend, was da gerade 1989/90 geschehen war. Alle sprachen von Aufbruch, während wir eher schlecht als recht mit den Abbrüchen zurechtzukommen versuchten. Daher wählten viele PDS, die damalige Regionalpartei Ost.
Wichtig waren Juristen, aber mit Jurisprudenz kannten wir uns am wenigsten aus. Daß das Leben verrechtlicht wurde, sollte im neuen Rechtsstaat uns alten Unrechtsstaatlern Sicherheit geben, aber dafür mußten wir erst Fühlung entwickeln. Legalität ist nun mal nicht gleich Moralität.
Formulierten wir unsere Irritation, hieß es, wir sollten mal nicht jammern, denn nun hätten wir doch die D‑Mark und die Freiheit noch dazu; jetzt könnten wir mal Verantwortung übernehmen und endlich was leisten.
Daß wir mit unserer Erziehung und Prägung mitunter mehr zu leisten verstanden als unsere West-Vorbilder, bekamen wir, zunächst allzu verzagt, erst nach etwa zehn Jahren mit. Als Lehrer hatten wir dann gleichfalls verstanden, daß eine Hauptschule längst keine Hauptschule, eine Realschule keine Realschule und vor allem das Gymnasium überhaupt kein Gymnasium mehr war.
Wir erkannten verspätet: Die uns übernehmende Bundesrepublik erwies sich als ein Scheinriese. Aufgewachsen mit klarem Feindbild und Karl-Eduard von Schnitzler, hatten wir eine Art kraftvolles Adenauer-Deutschland erwartet, aber das war offenbar schon lange vor der DDR untergegangen. Überhaupt: Daß aus Feinden im Kalten Krieg nun sofort Freunde werden sollten, stimmte uns skeptisch.
Gewinner und Verlierer zu erkennen, das war einfacher und realistischer. Wir waren die befreiten Verlierer, kumpelten daher ostalgisch eher untereinander herum (“Lebt denn der alte Holzmichel noch?”) – und verstanden uns schneller mit den Verlierern West als mit den erfolgreichen Lokatoren von dort. Zu akzeptieren war: Die Gewinner West waren generös; sie bezahlten uns eine Menge, wenn sie dabei nur ihren eigenen Schnitt machen konnten.
Die neuen administrativen Entscheidungsträger schienen tatsächlich „eher links“, vor allem aber eher weich – und sie dünnten aus, was hüben wie drüben noch an Substanz vorhanden sein mochte. Der erreichte bundesdeutschen Komfort war ihnen von Kindheit an allzu selbstverständlich; was zu seiner Sicherstellung nötig war, harte und ausdauernde Arbeit, das hatten sie – von ihren Eltern entfremdet und eher Verbraucher als Bürger – längst vergessen.
Wir aber hatten mit dem eigenen Wandel zu tun: Phänomenal zunächst, wie das Leben auf dem Lande erstarb: Unsere Dörfer fielen ins Schweigen, alles Lebendige erlosch: Stillegungsflächen wurden prämiert, den Rest bewirtschafteten effiziente Agrar-Genossenschaften, die dank neuer Technik und industrieller Landwirtschaft kaum noch Leute brauchten.
Zuerst machte die Post dicht, dann der Konsum-Dorfladen, nachdem er gerade noch Marlboro-Man an die Scheiben geklebt hatte; wegen des Geburteneinbruchs schloß dann die Schule, schließlich – zu teuer geworden – die Kneipe. Die Kirche, letztmalig zur Wende scheinlebendig, hatte sich in den Neunzigern gleichfalls erledigt. Übrig blieben der Zigarettenautomat und die Feuerwehr, die tragikomische Erntefeste ausrichtete, obwohl niemand mehr irgendwas erntete.
Daß unsere einstige Industrie – ja, inneffizient, ja, allzu dreckig und marode, wie man uns beständig erklärte – über die Treuhand meist in eine triste Brache überging, paßte dazu. Blieben die „Leuchttürme“ der Innovationen, Dresden, Leipzig, Jena, blieb das seltsam bizarre Party-Berlin – ja, „arm, aber sexy“, wie sein schwuler Bürgermeister es werbewirksam pointierte. Ost-Berlin wurde Kult. Das hieß: Prenzlauer Berg und Friedrichshain wurden vom – wiederum eher linken und eher grünen – Neubürgertum aus Kreuzberg und Neukölln gentrifiziert.
Aber auf dem Lande war‘s ein schöner Tod. Wer noch Geld hatte, putzte als Baumarktkunde Haus und Anwesen raus und zog sich dann darin zurück, zumal rundum ohnehin nichts mehr lief. Ebenso hübschten sich kraft Solizuschlag unsere Klein- und Mittelstädte auf, ahmten Kulissen von kunstgewerblich-pittoreskem Westcharme nach, verwalteten Armut und Arbeitslosigkeit und begannen ruhig zu vergreisen.
Gewonnen hatten ein paar Aufsteiger, all die Amtsleiter samt Entourage, dazu die von der öffentlichen Hand geatzte Vereinsbosse des Sozialbereichs, letztlich – verdientermaßen – engagierte Freiberufler wie Steuerberater, Ärzte, Advokaten. Deren Residenzen nahmen sich wie Südstaatenvillen mitten in der stillen Tristesse aus.
Wir lernten zurechtzukommen; wir kamen zurecht. Wie immer, indem wir uns nicht ganz vorn anstellten. „Werdet ihr auch abgewickelt?“ Das war so untereinander eine der neuen Fragen. Erstmal also ABM. Wenigstens was. Hauptsache nicht „abgewickelt“ werden.
Zunächst sorgten wir für unsere vielfach aus ihren Berufen gefallenen Eltern, die noch perplexer waren als wir selbst, dann kümmerten wir uns um das Minimum eigener Sicherheit. Mehr als Selbstbewußtsein und Coolneß brachten wir, erst verzögert bemerkt, fachliche Kompetenzen mit, und wir konnten alle immerhin sicher lesen, schreiben und rechnen. Daß wir allein schon damit echte Vorteile hatten, war so ja nicht zu erwarten gewesen.
Die pragmatische Menschenkenntnis geht, so Kant, „auf das, was er, als frei handelndes Wesen, aus sich selber macht oder machen kann und soll.“ – Man will hoffen, dies möge sich auch ganz alltäglich verstehen lassen, dieser Gedanke, daß der Mensch „sein eigener letzter Zweck ist“, und eben nicht zuerst das, was irgendwer, etwa die Politik, von ihm erwartet oder was allein materiellen Gewinn verheißt.
Die neuerdings als wichtig geltenden Präsentationstechniken ahmten wir ungelenk nach, wußten aber doch, daß die beste Präsentation nach wie vor echtes Können ist – jedenfalls dort, wo es wirklich noch darauf ankommt. Ab den Nullerjahren beherrschten wir die bundesdeutschen Codes ebenso wie die überkommenen, an denen wir uns Ostler gegenseitig erkannten. Immer wieder entspannend, jemanden vom eigenen Stammesverband zu treffen, dem man das eigene Herkommen nicht erst umständlich erklären mußte.
Aber Schluß mit den bösen Klischees. Nachdem meine Generation etwa ab den Nullerjahren endlich wieder bei Bewußtsein war, lernte sie, was noch jede Alterskohorte zu lernen hatte: Daß abseits der Show letztlich doch weiter mit Moltke gilt: Mehr Sein als Scheinen!
Damit jedoch, daß schon ab Mitte der Zehnerjahre, ganz so wie in der End-DDR, die Penetranz der politischen Phrase alles dominieren würde, war gar nicht zu rechnen gewesen. Plötzlich wieder totes Vokabular mit verschrobener Semantik, die überhaupt nicht meinte, was ihre Zeichen vorgaben: „Toleranz“ und „Vielfalt“ etwa, dazu „Weltoffenheit“, „Buntheit“, „Achtsamkeit“. Damit staffierte sich die Herrschaft aus, zog Regenbogenflaggen auf, hielt aber erlebbar gar nichts mehr vom Diskurs mit Andersdenkenden, nichts von Offenheit und Argumentation auf Augenhöhe.
Der Polit-Karrierist Steinmeier personifizierte die neue Republik – etwas bräsig, ganz in Worthülsen eingeschlungen, dabei aber der Zeremonienmeister der selbsterklärt Anständigen. Komisch nur, daß sich selbst Grönemeyer und allerlei Anti-Rechts-Bands hinter so einer doch mediokren Figur versammelten und sich dabei weiterhin „eher links“ und „alternativ“ wähnten.
Die als Anpasser zum Establishment hielten, zu dem, was die Berliner Republik unter Demokratie verstand, galten plötzlich als die „Couragierten“, gerade dort, wo keinerlei Courage nötig war, während Kritiker denunziert wurden, als „rassistisch“, „gesichert rechtsextremistisch“, mindestens als „Verdachtsfälle“. –
Verblüffend, wie einfach Herrschaft funktioniert, damals wie heute – nach klassischem Freund-Feind-Schema des allseits geschmähten Carl Schmitt. Fehlt nur das passende Stasi-Wort von der notwendigen „Zersetzung“ des Gegners, von dem es damals wie heute heißt, er wäre schwer zu bekämpfen, höchst perfide und allüberall. Kurios: Am härtesten agieren jene, die ansonsten die ganze Welt umarmen wollen, also, „eher links“, die Grünen.
Wir in den Sechzigern Geborenen, heute auch dem Alter nach Sechziger, kommen klar. Daß uns die Lehrer vorm Abitur streng verhießen, wir würden – mit dann enormer Verantwortung – die „sozialistische Elite des anbrechenden neuen Jahrtausends“, hatten wir selbst mit FDJ-Bluse so nicht geglaubt. Aber ebensowenig konnten wir erwarten, welcher neue „Erfahrungsraum“ da ab 1990 vor uns lag. Famose Kontingenz! Man weiß wirklich nie, was man kriegt, aber daraus hat man zu gestalten. Oder wenigstens irgendwie seine Haut zu retten, zumal kein sattes Erbe zu erwarten war.
Gerade mit unsrer Erfahrung war klar, worauf es der der Herrschaft gegenüber ankam: Distanz! Nicht wieder sich vereinnahmen und hinäffen lassen.
Eben nicht den Phrasen und Transparenten Glauben schenken und vor allem wissen, daß Politik meist ein zweifelhaftes Geschäft ist. Weil sie die Defekte des Menschen einerseits offenbart, sie aber gleichzeitig verschleiern will, gerät sie unweigerlich zur Peinlichkeit. Wenn die vermeintlich „Anständigen“ schreien „Wir sind mehr!“, dann kann etwas Entscheidendes nicht stimmen.
Wobei am peinlichsten jene wirken, die das Hohelied auf den guten Menschen und seine Vernunft singen, obwohl sie an sich zuallererst selbst mitbekommen müßten, daß der Mensch solch ein Glanzstück nicht ist. Das vor allem erklärt die intuitiv sichere Ablehnung der sich selbst zu Vorbildern gerierenden Grünen durch die sogenannten einfachen Menschen.
Erfrischend desillusioniert behauptet: Selbst die AfD wird weder den Osten noch überhaupt den Menschen erlösen. Sie wird – leider wahrscheinlich – den Weg aller Parteien gehen, jenen der Stellenjäger und Pfründnergemeinschaften und mutmaßlich einer Anpassung, die aktuell „Melonisierung“ heißt.
Weshalb sollte sie die einzige politische Kraft sein, die – zumal in der „Demokratie“ – in ganz anderer Richtung unterwegs ist? Das System schafft sich seine Opportunisten, es schleift ab, gleicht an und normiert. Als Opposition wird man der „Alternative“ zeitweilig etwas Alternatives zutrauen dürfen und kann sich dabei all die neuen Selbstprofilierer schon mal kritisch anschauen.
Wer von ihnen wirklich redlich und befähigt ist, wird sich zwangsläufig verschleißen. Übrig bleiben die, die in Parteien immer übrigbleiben, die lauen Mittelmäßigen, für die es wunschgemäß ein Stück nach oben geht, wo sie sich aber meist als Karikaturen ihrer selbst ausnehmen, da sie ihr natürliches Wesen gegen die begehrte Rolle tauschten.
Offizielle Politik vermeidet den Blick auf die Nachtseite des Menschen. Daher die Verstellerei. Sie macht dem Wähler Komplimente, suggeriert ihm, er wäre ein Vernunftwesen, und sie verklärt sich selbst. Das faszinierend Dunkle taugt nicht für Flyer und Grinsgesicht-Plakate. Kann man verstehen, dennoch darf man diesen Verkürzungen nicht glauben.
Mehr denn je gilt: Wer wirklich etwas kann, geht eher nicht in die Politik. Die notwendige Arbeit wartet anderswo. Politik ist keine Arbeit, sie lebt von der Arbeit anderer, trägt feinen Zwirn und bewegt sich in dicken Karossen. Ebensowenig können Sitzungen als Kämpfe gelten, denn gekämpft wird nicht in ergonomischen Parlaments-Drehsesseln.
Stimmen und Zuspruch wachsen, bis eine Partei in Verantwortung kommt; danach fällt beides, kommt nur darauf an, wie tief.
Ja, aber was denn dann? Wiederholend provokant: Bei sich bleiben. Das Mögliche in seinem übersichtlichen Radius versuchen, Verantwortung für die Allernächsten übernehmen, dort aber verbindlich. Weiter hellwach sein, aufmerksam nachsinnen, sich orientieren, durchaus die ganz langen und ergiebigen Texte lesen als TikTok-Klamauk für Antworten halten.
Und bloß nicht dem Menschen gram sein, nur weil er immer wieder irregeht. Das genau ist seine und so auch die eigene Natur. Wer in oder mit der Politik Erlösung erhofft, sitzt einem tragischen Trugschluß auf. Von jeher und mit oder ohne Religion gilt es, aus Höherem und Ewigerem heraus zu leben, gerade wenn man tief im Alltag steckt.
Laurenz
@HB ... Jedem, den das im Westen bisher interessierte, erzählen Sie hier ja nichts Neues. Das hat etwas mit Deutscher Naivität zu tun. Kein Schwein in der DDR schaute danach, was er sich mit der BRD ins Haus holt. Verhandeln hatte in der DDR ja keiner lernen müssen. Die DDR hätte sich x-fach teurer, inklusive u.a. kulturellen Inhalten, verkaufen können. Hatte aber anscheinend erstmal keinen interessiert. Das Dorfsterben ist keine individuelle Geschichte der einstigen Neuen Länder, sondern betrifft ganz Europa. Das hat vor allem etwas mit der Organisation von Arbeit zu tun. Diese drückt den politischen Willen aus, den man wiederum hätte verhandeln können. Die sozialistische Sau-Wirtschaft der damaligen DDR & der BRD heute, konnte & kann jeder Trottel an einfachen Zahlen & Zuständen festmachen. Weder in der Sowjetunion, noch in der DDR schaute einer zum Genossen Deng, der quasi ohne politische Veränderung China ökonomisch erfolgreich neu organisierte. Das haben die Deutschen in der einstigen DDR verkackt & die Deutschen der BRD verlernt. Immer wieder gut: Oliver Kirchner... https://www.youtube.com/shorts/imF3MT0cnng?feature=share