Dieser Hintergrund, so die Verheißung, würde verblassen, fände man sich nur gut im Zielland aufgenommen, seine Herkunft wie einen alten Mantel abstreifend und zurücklassend.
Ich selbst bin Migrant wider Willen, komme ich doch aus einem untergegangenen Land, einem Beitrittsgebiet, dessen Beitritt ich nicht mit beschloß, während wiederum jene vielen, die ihn euphorisiert herbeisehnten, nicht unbedingt im Land ihrer Ziele ankamen.
Was sich im September 1989 im Palais Lobkowicz begab, der BRD-Botschaft auf der Prager Kleinseite, war das Lampedusa der DDR-Flüchtlinge, denen Außenminister Hans Dietrich Genscher, passenderweise in einer Gloriole aus Scheinwerferlicht, dort als der Erlöser auf dem Balkon erschien. Wie sich meine Landsleute im Garten der Botschaft aufgeführt hatten, war mir damals übrigens höchst peinlich; ich schämte mich für sie, für eine, wie ich es empfand, würdelose Bittstellerei in Nachbars Garten.
Wir alle – die begeisterten wie die skeptischen Neu-Bundesbürger – benötigten dann mindestens ein Jahrzehnt, um zu erkennen, daß es jenes Deutschland, das wir meinten erwarten zu dürfen oder erwarten zu müssen, längst nicht mehr gab.
Kaum jemand hätte angenommen, daß die deutsche Nachkriegsrepublik-West ihr reiches Erbe letztlich ausschlagen und sogar ihre einstige ökonomische und finanzielle Stärke noch drangeben würde, ja daß es ihr im Ergebnis einer in ihrem Innern 1968 ff. längst vollzogenen anderen Wende, von uns DDRlern in den Siebzigern unbemerkt und unverstanden, gar nicht mehr darum ging, sich überhaupt noch als die Nation des deutschen Volkes zu verstehen, sondern als eine sich neu bestimmende Wohlfahrtsagentur und Wertegemeinschaft, die in einem globalen, also abstrakten Ganzen aufzugehen hoffte.
Man wollte erst „Europäer“ sein, dann „Weltbürgerschaft“ – und für beides die Rolle eines Klassenprimus spielen, der oberstreberhaft Vielfalt, Toleranz, Inklusion und Teilhabe sowie allumfassende Gerechtigkeit beschwor, so erweckt, selbstüberzeugt und energisch, wie er vor Jahrzehnten noch martialischer Welteroberer war.
Die einstige, desaströs gescheiterte Selbstüberhebung und die darauf folgende alliierte Kuratel bedingten eine traumatische Prägung, die wiederum neurotisch mit zwanghaft inszenierten Gedenk- und Betroffenheitsritualen in der Weise quasireligiöser Dauerliturgie kompensiert werden sollte. Und mit der Öffnung der Grenzen für alle, die in den Restbeständen unseres Sozialsystems Vorteile erkennen.
Je linksidentitärer die Politik aller etablierter Parteien grundiert wurde, um so bizarrer gestalteten sich die Verrenkungen, als globaler Retter und Bewahrer des „Humanitären“ aufzutrumpfen.
Mein Migrationshintergrund ist jedenfalls nicht nebensächlich; seine Wirkung verringerte sich nicht, im Gegenteil, sie verstärkte sich. Sollte ich meine Identität bestimmen, so hängt sie viel weniger, ja fast gar nicht von dem Staatswesen ab, dem ich aus historischen und mehr noch juristischen Gründen zugeordnet wurde. Ich bin viel mehr Ex-DDRler, also Ostdeutscher, wie es heute pauschal heißt, und eher ein altgewordenes Prignitzer Dorfkind als ein Teil des Kollektivs der „Anständigen“ und des „Wir sind mehr!“ von Neu-Deutschland.
Der Staat, dem ich zufiel, zieh meine Generation, die etwa zur sogenannten Wiedervereinigung Berufsausbildung und Studium absolvierte hatte, zunächst überheblich der völligen Inkompetenz und verhinderte später ebenso arrogant – und insbesondere eine freimütige Kommunikation kalt ausschließend – meinen Verbleib in einem Beruf, in dem ich mich mindestens ja bewährt hatte.
Weshalb also sollte ich mich mit diesem „Gemeinwesen“ und gar noch mit seiner Administration identifizieren? Nein, zum Glück verfüge ich über starken Migrationshintergrund, und offenbar empfindet dies ein Großteil meiner einstigen Landsleute aus den sogenannten fünf neuen Ländern ebenso.
Zu Recht werfen uns die anderen, werfen uns die Weltanschauungskongregationen und deren Agitationstrupps der „Zivilgesellschaft“ ja vor, wir wären nie angekommen, wir wären retardierte Ewiggestrige, verblieben tumb und blöde in unseren Provinz- und Clanstrukturen und zeigten uns resilient gegenüber hochdosierter politischer Bildung wie sogar unbotmäßig gegen die Obrigkeit und deren Chefideologen und Medien.
Das von einem verdrängten historischen Trauma bestimmte Selbstverständnis der äußerlich moralistisch auftrumpfenden Berliner Republik reagiert auf uns allergisch, indem es uns zuschreibt, wir wären „rechtsextremistisch“ und potentiell Nazis, also genau das Böse in Gestalt, was diese Republik und ihre Bekenner von sich abzuspalten wünschen.
Tragisch oder nicht:
Mich kennzeichnet weit mehr mein Herkommen als etwa ein Angekommensein. Zugegeben, ich konnte ab 1990 endlich die Bücher lesen, die ich lesen wollte. Sie wären in der DDR/SED-Diktatur noch ideeller Sprengstoff gewesen; in der Nachwende jedoch interessierten sie weniger als die wöchentlichen Discounter-Sonderangebote.
Immerhin gab es endlich richtig gute Fahrräder und all die Materialien und Werkzeuge, sich sein Refugium so funktionstüchtig wie schick zu gestalten. Wir standen jetzt nicht mehr nach den Waren, sondern diese standen nach uns an.
Aber für das, wofür ich dankbar bin, habe ich selbst etwas geleistet und meinen Teil bezahlt; ich nahm nichts umsonst, meldete keine „Bedarfe“ an und benötigte weder „Förderstrukturen“ noch „Nachteilsausgleiche“ oder „Teilhabegarantien“. Wo ich je erfolgreich war, dort auf antizyklische Weise und in existentialistischer Wahrnehmung meiner unmittelbaren Verantwortung gegenüber meinen Nächsten, den mir einst anvertrauten Schülern etwa, und mir selbst.
Schopenhauer, Camus, Luhmann und einige andere gedankliche Gewährsleute waren mir – ebenso wie die Literatur als großer Beispiel- und Vergleichsgeber – stets wichtiger als die letztlich so tragischen oder unfreiwillig tragikomischen Führungskräfte der Bundespolitik, an denen mich ihre shakespearesche Figuralität interessiert. Man denke nur an die aktuelle Clownerie um die Personalie Jens Spahn.
Meiner Herkunft verdanke ich ein Sensorium, das mich die Neu-Ideologisierung des neuen Deutschlands als Problem empfinden ließ, als dramatische Auseinanderdrift von Schein und Sein, von Behauptung und Tatsache.
Hielt ich Freiheit und Demokratie schon immer für ungenaue und romantisierte Begriffe bzw. Zuschreibungen, ja sogar für mystischen Wortschatz, der Einbindung in ein Herrschaftsverhältnis zu verschleiern und schönzureden versucht, habe ich an „Rechtsstaatlichkeit“ – über die Sicherung basalen Strafrechts hinaus – nie geglaubt.
Mich verwundert nach wie vor, mit welch naivem Grundvertrauen davon durchweg die Rede ist. Man bleibe besser bei Thomas Hobbes‘ Diktum: Auctoritas, non veritas, facit legem. Demokratie, das ist zuerst Herrschaft, der gegenüber man sich nun mal zu verhalten hat, gerade dann, wenn man bisher noch keiner Regierung, ob nun in der DDR oder in der BRD, je seine Stimme oder gar Zustimmung gab.
Die Muttersprache blieb mir, das Vaterland verschwand. Man bleibt Migrant; dann weiß man am ehesten, wer man ist.

Laurenz
@HB ... Da sind Sie aber schief gewickelt, HB. Nach Ihrer Logik wären meine Eltern noch Bürger des III. Reichs, Beide vor dem Krieg geboren. Meine Mutter lebt sogar zum & mit Glück noch. Was man bei der faktischen Übernahme der DDR durch die BRD & (insgeheimen) ideologischen Übernahme der BRD durch die DDR, bemängeln kann, ist das schlechte Verhandlungsergebnis der DDR-Delegation beim Einigungsvertrag. Das mag mit der mangelnden Übung zu tun haben, weil es im real existierenden Sozialismus selten etwas zu verhandeln gab. Ich hätte zumindest mal Schalck-Golodkowski vorgeschickt, um mit den BRD-Kaschberln zu verhandeln. Gehe davon aus, der hatte in der DDR die meiste Übung damit. Der stärkste Trumpf der DDR war, daß Kohl unter Erfolgsdruck stand. Daß die Deutsche Nachwende-Scheißhaus-Nummer so dumm gelaufen ist, haben wir nicht nur den Bekloppten aus den "alten" Ländern zu verdanken, sondern auch Ihresgleichen aus den sogenannten "Neuen". Das mit den gebrochenen Erwerbsbiographien der Ex-DDR-Bürger & politischen Eigenheiten der DDR hätte man durchaus besser regeln können. Hätte, hätte, Simson-Kette. Jetzt sind wir wieder mal, schicksalhaft miteinander verbunden, & zwar am Arsch der Waldfee.