In Christoph Heins historisch-chronologischem DDR-Roman Das Narrenschiff wählt die Nebenfigur Friedhelm Böttiger mit Shakespeare, Flaubert und Dostojewskis Raskolnikow und dem Verzicht auf tagesaktuelle Zeitungen den Weg, um den Veränderungen zumindest geistige Würde und Klarheit entgegenzusetzen.
Diese Haltung täuscht ihn nicht darüber hinweg, daß »die Knochen, die Sehnen, die Muskeln, alles nur noch Restbestände« sind und alles – sich und sein nahes Umfeld eingeschlossen – dem als Wandel getarnten Verfall geweiht ist. Er sieht es bei der vielleicht interessantesten Hauptfigur, Prof. Benaja Kuckuck (Bezug zum Paläontologen Professor Kuckuck aus Thomas Manns Felix Krull beabsichtigt), die an Alzheimer erkrankt und nur ein Schatten ihrer selbst ist, die symptomatisch an das kollabierende System des einstig stolzen demokratischen Sozialismus erinnert.
Es hat im Anspruch glorreicher angefangen: Die Familien Goretzka und Essner, unter ihnen natürlich ein zum Kommunisten gewandelter ehemals begeisterter Nazi, steigen in der Gründungsphase der DDR in herausragende Funktionen auf, die ihnen einen Platz am Tisch der Macht sichern. Das funktioniert durch paranoide Nähe: Alle Figuren beäugen sich skeptisch, mißtrauen sich und sind doch aufeinander angewiesen, um ihr Fortkommen, eigentlich eher ein Bestehenbleiben der Privilegien – die sie von den restlichen, einfachen DDR-Bürgern unterscheiden – zu sichern.
Die Folge ist ein grenzenloser Opportunismus, der sich in jeder – besonders der autoritären – Herrschaftsform finden läßt, die Hein mit den historisch prägenden Personen und Ereignissen des »Demokratischen Sozialismus« verknüpft.

Als ein Werk, das die DDR mit ihren Funktionären verspottet, mag Heins Narrenschiff funktionieren. – Der Titel ist identisch mit Hieronymus Boschs aussagekräftigem Gemälde, in dem sich die Insassen mit ihrem charakterisierten moralischen Verfall unsicher sind, in welche Richtung das Narrenschiff steuert.
Sebastian Brants spätmittelalterliche Moralsatire, ebenfalls mit dem Titel Narrenschiff, die Laster in ihrer mannigfaltigen Ausprägung als närrische Unvernunft charakterisiert, zu der unter anderem Schwätzerei, inbegriffen Wiederholungen, gehört, ist in der Deutung ebenfalls nicht zu vernachlässigen.
Wer sich ernsthaft und mit literarischer Tiefe mit dem Machtsystem DDR abseits des Titels und der verbundenen Assoziation (die Teile des Romans erstaunlicherweise in die Ecke eines Schlüsselromans führt) auseinandersetzen möchte, greife auf Uwe Tellkamps Der Turm oder Monika Marons Herr Aurich zurück. In diesen Fixpunkten der deutschen Literatur für den Zeitraum nach 1990 finden sich mehr Glaubwürdigkeit und literarischer Anspruch, die mit Figurenkonstellationen arbeiten, die authentischer und nicht konstruiert wirken.
Dabei kann es Hein besser: So legte er mit Der Tangospieler eine Erzählung vor, die die Absurdität der DDR-Gesellschaft verdeutlicht, in der der Historiker Hans-Peter Dallow mit den Auswirkungen des Unrechts konfrontiert ist und dem zu zahlenden Preis, wenn man in einer Diktatur als neuer Michael Kohlhaas rehabilitiert werden will. Im Vergleich ist Der Tangospieler geradezu von lebhaften Schilderungen durchdrungen, die das vorliegende Werk trocken und von der Stilistik her wie ein Geschichtsbuch aus der Sekundarstufe I wirken lassen.
Die eigentliche Motivation des 81-jährigen Hein, die trotz der Schwächen durchscheint, ist in ihrem Wesenskern eine förderliche: 36 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sind viele Facetten und Blickwinkel auf die DDR nur unzureichend aufgearbeitet – beispielsweise die Mißstände auf den Jugendwerkhöfen, den Erziehungsheimen der DDR. Sie einzeln aufzugreifen, zu literarisieren und eine notwendige Diskussion anzustoßen, ist ehrenvoll.
Inhaltlich zu überfrachten, wie Hein es aus einem verständlichen Drang und innerem Schreibdruck tut, nur damit das eine – natürlich wichtige – historische Ereignis auch noch einbezogen wird, geht auf Kosten der erzählerischen und gravierender der literarischen Qualität.
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RMH
"Inhaltlich zu überfrachten, wie Hein es aus einem verständlichen Drang und innerem Schreibdruck tut, ... , geht auf Kosten der erzählerischen und gravierender der literarischen Qualität."
Daran erkennt man, dass es selbst bei Suhrkamp an einem guten, konstruktiven Lektoriat fehlt, welches in Arbeit & Diskussion mit dem Autor auch einmal Kürzungen durchsetzen kann. Sowas kostet aber durch den dadurch bedingten, hohen Arbeitsaufwand richtig Geld, welches offenbar keiner bezahlen mag, also haut man lieber einen 750 Seiten Klopper raus, da Papier & Druck billiger sind. Zudem vermeidet es, wie geschrieben, auch Diskussionen mit dem Autor, der - im Falle von Hein - mit seinen 81 Jahren und seine "Lebenswerk", welches dahinter steht - sicher nicht einfach sind. Beim in der Besprechung genannten Tellkamp, dessen Werk "Der Turm" auch mich beeindruckt hat, fehlte ein solches Lektoriat m.M.n. ebenfalls. Beim "Der Turm" wurden für m. Geschmack der gesamte NVA Komplex & dessen Folgen viel zu breit ausgewälzt & es war am Ende auch ermüdend. Wo wird Tellkamp verlegt? Ach ja, auch bei Suhrkamp. Immerhin, Suhrkamp verlegt Tellkamp nach wie vor. Zolle für diese Selbstverständlichkeit, einen großen Autor, der heute "kontrovers" gelesen wird, dem Verlag aber keinen "Resepekt", es ist vielmehr genau der job von großen Verlagen, auch solche Autoren zu veröffentlichen.