Kritik der Woche (78): Das Narrenschiff

von Dirk Brockschmidt -- Wenn die äußere Welt zusammenbricht, ist der Rückgriff auf die bewährten Klassiker die Wahl, um innere Stabilität herzustellen, um die unvermeidbaren Veränderungen – die Auflösung des Staates und die damit verbundene Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens – zu ertragen.

In Chris­toph Heins his­to­risch-chro­no­lo­gi­schem DDR-Roman Das Nar­ren­schiff wählt die Neben­fi­gur Fried­helm Böt­ti­ger mit Shake­speare, Flau­bert und Dos­to­jew­skis Ras­kol­ni­kow und dem Ver­zicht auf tages­ak­tu­el­le Zei­tun­gen den Weg, um den Ver­än­de­run­gen zumin­dest geis­ti­ge Wür­de und Klar­heit entgegenzusetzen.

Die­se Hal­tung täuscht ihn nicht dar­über hin­weg, daß »die Kno­chen, die Seh­nen, die Mus­keln, alles nur noch Rest­be­stän­de« sind und alles – sich und sein nahes Umfeld ein­ge­schlos­sen – dem als Wan­del getarn­ten Ver­fall geweiht ist. Er sieht es bei der viel­leicht inter­es­san­tes­ten Haupt­fi­gur, Prof. Bena­ja Kuckuck (Bezug zum Palä­on­to­lo­gen Pro­fes­sor Kuckuck aus Tho­mas Manns Felix Krull beab­sich­tigt), die an Alz­hei­mer erkrankt und nur ein Schat­ten ihrer selbst ist, die sym­pto­ma­tisch an das kol­la­bie­ren­de Sys­tem des eins­tig stol­zen demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus erinnert.

Es hat im Anspruch glor­rei­cher ange­fan­gen: Die Fami­li­en Goretz­ka und Ess­ner, unter ihnen natür­lich ein zum Kom­mu­nis­ten gewan­del­ter ehe­mals begeis­ter­ter Nazi, stei­gen in der Grün­dungs­pha­se der DDR in her­aus­ra­gen­de Funk­tio­nen auf, die ihnen einen Platz am Tisch der Macht sichern. Das funk­tio­niert durch para­no­ide Nähe: Alle Figu­ren beäu­gen sich skep­tisch, miß­trau­en sich und sind doch auf­ein­an­der ange­wie­sen, um ihr Fort­kom­men, eigent­lich eher ein Bestehen­blei­ben der Pri­vi­le­gi­en – die sie von den rest­li­chen, ein­fa­chen DDR-Bür­gern unter­schei­den – zu sichern.

Die Fol­ge ist ein gren­zen­lo­ser Oppor­tu­nis­mus, der sich in jeder – beson­ders der auto­ri­tä­ren – Herr­schafts­form fin­den läßt, die Hein mit den his­to­risch prä­gen­den Per­so­nen und Ereig­nis­sen des »Demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus« verknüpft.

Im Anspruch, einen umfas­sen­den Roman in chro­no­lo­gi­scher Abfol­ge mit weni­gen Per­so­nen zu ver­fas­sen, liegt die Her­aus­for­de­rung, die Hein nicht erfüllt: Es gelingt nicht wirk­lich, die 44 Jah­re der SED-Herr­schaft dar­zu­stel­len, ech­te Geschich­te mit fik­tio­na­len Figu­ren zu ver­bin­den und ihnen gleich­zei­tig lite­ra­ri­sche Tie­fe zu ver­lei­hen, die eine Iden­ti­fi­ka­ti­on mög­lich macht.

Als ein Werk, das die DDR mit ihren Funk­tio­nä­ren ver­spot­tet, mag Heins Nar­ren­schiff funk­tio­nie­ren. – Der Titel ist iden­tisch mit Hie­ro­ny­mus Boschs aus­sa­ge­kräf­ti­gem Gemäl­de, in dem sich die Insas­sen mit ihrem cha­rak­te­ri­sier­ten mora­li­schen Ver­fall unsi­cher sind, in wel­che Rich­tung das Nar­ren­schiff steuert.

Sebas­ti­an Brants spät­mit­tel­al­ter­li­che Moral­sa­ti­re, eben­falls mit dem Titel Nar­ren­schiff, die Las­ter in ihrer man­nig­fal­ti­gen Aus­prä­gung als när­ri­sche Unver­nunft cha­rak­te­ri­siert, zu der unter ande­rem Schwät­ze­rei, inbe­grif­fen Wie­der­ho­lun­gen, gehört, ist in der Deu­tung eben­falls nicht zu vernachlässigen.

Wer sich ernst­haft und mit lite­ra­ri­scher Tie­fe mit dem Macht­sys­tem DDR abseits des Titels und der ver­bun­de­nen Asso­zia­ti­on (die Tei­le des Romans erstaun­li­cher­wei­se in die Ecke eines Schlüs­sel­ro­mans führt) aus­ein­an­der­set­zen möch­te, grei­fe auf Uwe Tell­kamps Der Turm oder Moni­ka Marons Herr Aurich zurück. In die­sen Fix­punk­ten der deut­schen Lite­ra­tur für den Zeit­raum nach 1990 fin­den sich mehr Glaub­wür­dig­keit und lite­ra­ri­scher Anspruch, die mit Figu­ren­kon­stel­la­tio­nen arbei­ten, die authen­ti­scher und nicht kon­stru­iert wirken.

Dabei kann es Hein bes­ser: So leg­te er mit Der Tan­go­spie­ler eine Erzäh­lung vor, die die Absur­di­tät der DDR-Gesell­schaft ver­deut­licht, in der der His­to­ri­ker Hans-Peter Dal­low mit den Aus­wir­kun­gen des Unrechts kon­fron­tiert ist und dem zu zah­len­den Preis, wenn man in einer Dik­ta­tur als neu­er Micha­el Kohl­haas reha­bi­li­tiert wer­den will. Im Ver­gleich ist Der Tan­go­spie­ler gera­de­zu von leb­haf­ten Schil­de­run­gen durch­drun­gen, die das vor­lie­gen­de Werk tro­cken und von der Sti­lis­tik her wie ein Geschichts­buch aus der Sekun­dar­stu­fe I wir­ken lassen.

Die eigent­li­che Moti­va­ti­on des 81-jäh­ri­gen Hein, die trotz der Schwä­chen durch­scheint, ist in ihrem Wesens­kern eine för­der­li­che: 36 Jah­re nach dem Fall der Ber­li­ner Mau­er sind vie­le Facet­ten und Blick­win­kel auf die DDR nur unzu­rei­chend auf­ge­ar­bei­tet – bei­spiels­wei­se die Miß­stän­de auf den Jugend­werk­hö­fen, den Erzie­hungs­hei­men der DDR. Sie ein­zeln auf­zu­grei­fen, zu lite­r­a­ri­sie­ren und eine not­wen­di­ge Dis­kus­si­on anzu­sto­ßen, ist ehrenvoll.

Inhalt­lich zu über­frach­ten, wie Hein es aus einem ver­ständ­li­chen Drang und inne­rem Schreib­druck tut, nur damit das eine – natür­lich wich­ti­ge – his­to­ri­sche Ereig­nis auch noch ein­be­zo­gen wird, geht auf Kos­ten der erzäh­le­ri­schen und gra­vie­ren­der der lite­ra­ri­schen Qualität.

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Chris­toph Hein: Das Nar­ren­schiff, Suhr­kamp: Ber­lin 2025 – hier bestel­len.

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Kommentare (2)

RMH

30. August 2025 12:35

"Inhaltlich zu überfrachten, wie Hein es aus einem verständlichen Drang und innerem Schreibdruck tut, ... , geht auf Kosten der erzählerischen und gravierender der literarischen Qualität."
Daran erkennt man, dass es selbst bei Suhrkamp an einem guten, konstruktiven Lektoriat fehlt, welches in Arbeit & Diskussion mit dem Autor auch einmal Kürzungen durchsetzen kann. Sowas kostet aber durch den dadurch bedingten, hohen Arbeitsaufwand richtig Geld, welches offenbar keiner bezahlen mag, also haut man lieber einen 750 Seiten Klopper raus, da Papier & Druck billiger sind. Zudem vermeidet es, wie geschrieben, auch Diskussionen mit dem Autor, der - im Falle von Hein - mit seinen 81 Jahren und seine "Lebenswerk", welches dahinter steht - sicher nicht einfach sind. Beim in der Besprechung genannten Tellkamp, dessen Werk "Der Turm" auch mich beeindruckt hat, fehlte ein solches Lektoriat m.M.n. ebenfalls. Beim "Der Turm" wurden für m. Geschmack der gesamte NVA Komplex & dessen Folgen viel zu breit ausgewälzt & es war am Ende auch ermüdend. Wo wird Tellkamp verlegt? Ach ja, auch bei Suhrkamp. Immerhin, Suhrkamp verlegt Tellkamp nach wie vor. Zolle für diese Selbstverständlichkeit, einen großen Autor, der heute "kontrovers" gelesen wird, dem Verlag aber keinen "Resepekt", es ist vielmehr genau der job von großen Verlagen, auch solche Autoren zu veröffentlichen.

Laurenz

30. August 2025 17:03

@RMH ... ohne daß ich Ihnen widersprechen will, denke, Sie haben Recht, kommt es aber auf die Art des Buches an. Tolkien meinte zum "Ring", er hätte nur einen einzigen Fehler, er sei zu kurz.