Vermutlich ist es auch kein „Trend“, sondern ein beständiges Phänomen. Die Studienlage ist bescheiden – es soll in der westlichen Welt 10–20% der Familien betreffen, und zu über 80% soll der Bruch von den (erwachsenen) Kindern ausgehen. Prominente Beispiele sind Angelina Jolie, Macaulay Culkin, Drew Barrymore, Rihanna, JK Rowling, eine Tochter von Elon Musk. In Deutschland haben Judith Holofernes, Sarah Connor und Heino Ferch öffentlich über den Bruch mit einem Elternteil oder einem Kind gesprochen.
Persönlich kann ich mir kaum etwas Traurigeres vorstellen – wäre ein Setting denkbar, in dem ich mich von einem meiner Kinder „lossagen“ würde? Ich kann es mir nicht ausdenken.
Und umgekehrt: Kürzlich hatte unsere Jüngste eine Freundin mitgebracht, ein sympathisches, offenkundig sehr intelligentes Mädchen. Sie hatte unsere Tochter nach dem Besuch gefragt, ob eigentlich keines ihrer älteren Geschwister „ordentlich Dissens, ich mein, wegen Politik“ mit mir habe? (Ich rede natürlich mit Gastkindern nicht über Politik, aber die Sachlage ist ja bekannt.) „Und keine von deinen erwachsenen Geschwistern hat sich je losgesagt?“
Nein. Haben sie nicht. Und das ist nicht nur “Glück“, sondern auch (darf ich so sagen?) Verdienst. Ich bin im Mikrobereich ziemlich liberal. „Gib Deinen Kindern, wenn sie klein sind, Wurzeln, und wenn sie groß sind, Flügel“, diese Binsenweisheit trifft es. Ich halte es für ein Erfolgsgeheimnis – den Großgewordenen nicht in ihre Angelegenheiten reinzuregieren.
Zurück zu Leonie Plaar. Ihr druckfrisches Buch Meine Familie, die AfD und ich liest sich als Zeugnis einer fast tödlich verwundeten Kinderseele. Leider können wir nicht wissen, ob die Autorin in höchstem Maße von außen manipuliert wurde oder ob hier mehr (aus ihrer Sicht) schiefgelaufen ist als nur genau das:
Ihre Familie wählt die AfD.
Der Verlag (Wilhelm Goldmann, Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe) hat jedenfalls offenkundig nichts unternommen, um die explosive Emotionalität der Autorin auch nur ein wenig runterzukochen.
Es ist ein Buch in „einfacher Sprache“. Alles hier ist simpel, Wiederkäuen, berechenbares Drama. Wer Frau Plaar googelt, erfährt sofort, daß sie ein „Zertifikat in Geschlechterforschung“ erworben hat. Ob sie einen echten Studienabschluß hat, bleibt offen. Sie ist, liest man, als “Speaker” und “Content Creator” bekannt unter dem Namen „Frau Löwenherz“. Was sie hier auf 184 Seiten runterschreibt an Haß und Häme, klingt hingegen sehr engherzig. Und das, obgleich sie „verdammt viele Stunden Therapie“ hinter sich hat. Dauernd „langt es“ ihr, hat ihre Geduld „ein Ende“, ist „die rote Linie überschritten“, “platzt es aus mir heraus”. Permanent ist sie „verletzt“, fällt in „Schockstarre“, hat mit einem „Arschloch“ zu tun.
Fassen wir es kurz zusammen: Frl. Plaar ist 19jährig (aber eher gezwungen, Günter-Grass-Vibes) der AfD beigetreten. Bald tritt sie (heimlich) wieder aus. Daß die AfD bei der Bundestagswahl 2013 knapp unter 5% landete – Leonies erstes Trauma: „Ich fühlte mich schuldig.“ Sie hatte ihr Kreuz nämlich doch “lieber bei einer anderen Partei” gemacht.
Ich trug mein kleines Geheimnis mit mir rum wie eine tonnenschwere Last.
Neun Jahre später rast sie im Auto zu ihrer Familie und dreht „die Musik lauter“.
„Schrei nach Liebe“ dröhnt aus den schrabbeligen [ein Wort, das es nicht gibt; Gruß, EK] Boxen und übertönt den Lärm in meinem Kopf. Ich drücke das Gaspedal nach unten und zwinge mich zu Entschlossenheit, mache mich innerlich hart für die kommend Zeit. Auch wenn es nicht die letzte Begegnung mit meinem Erzeuger werden sollte, so habe ich doch an diesem Tag die Entscheidung gefällt, endgültig den Kontakt abzubrechen.“
Man sieht, liest: Hier fährt der Wahnsinn. Frl. Plaar nennt sich „queer“ (ich schlafe mit Frauen, seit ich 15 bin, schmettert sie ihrer Mutter entgegen, einer offenkundig ganz liebevollen Frau, die bloß einen großen Fehler hat: mit Leonies „Erzeuger“ zusammenzubleiben), dabei ist sie einfach eine Lesbe – eine Tatsache, die ihre Eltern übrigens gar nicht weiter erschüttert.
Überhaupt scheint diese Familie relativ stoisch zu sein. Frl. Plaar hantiert geschäftig mit ihren Expert*innen, Journalist*innen und anderen Vertreter*innen und drückt ihren Leuten Diskussion um Diskussion auf – nicht umgekehrt. Nicht sie wird indoktriniert – ihr geht der Puls, weil ihre Verwandtschaft sich nicht indoktrinieren läßt.
Der jüngere Bruder war immer das Lieblingskind! Offenkundig auch dies eine Wunde. Auf den kleinen Bruder läßt Frl. Plaar nichts kommen. Er ist mit 19 Jahren gestorben. Wieso, weshalb, warum wird bei aller emotionalen Offenheit nicht gesagt – aber daß die Eltern alles falsch gemacht haben bei seiner Trauerfeier, das wird ausgebreitet.
Es gibt eine Menge Redundanzen (Gauland/Vogelschiß) in diesem Buch, und Björn Höcke wird x‑fach als „der Faschist Björn Höcke“ (darf man ja sagen!!) ins Feld geführt. Frl. Plaar geht fest davon aus, daß von der AfD eine Gefahr “nicht nur für Minderheiten allgemein”, sondern für ihr persönliches Leben droht.
Der Vater ist vor allem aus ökonomischen Überzeugungen Mitglied der Partei. Ein Fremdwort, das Frl. Plaar gelernt hat und gern im Mund führt, lautet “kognitive Dissonanz”. Die sieht sie vor allem bei ihrer Oma und ihrem Vater gegeben, denn die glauben tatsächlich, “dass eine Frau rein biologisch einen Mann brauche, um sich fortpflanzen zu können.” Frl. Plaar findet, ihre Familie könne nicht verlangen, daß sie bei solchen “von mir als diskriminierend empfundenen Aussagen und fragwürdigen Behauptungen den Mund” halte.
Den letzten Satz, den ich sage, bevor ich das Haus verlasse, habe ich mir nicht zurechtgelegt. Ich spreche laut aus, was ich schon eine ganze Weile vermutet, aber bisher mit aller Kraft zur Seite geschoben habe: “Das heißt, du würdest für deine finanziellen Interessen über Leichen gehen und im Zweifel sogar über meine.”
Umgekehrt kann die Autorin nicht begreifen, daß “ihr Erzeuger” “genervt” reagiert, wenn sie von verächtlich “alten weißen Männern” spricht. “Bis heute kann ich beim besten Willen [!] nicht nachvollziehen, dass jemand so gereizt auf eine so simple Bezeichnung reagiert.” Genau DAS ist kognitive Dissonanz – auch nur ein Ansatz von “gutem Willen” wird in den “Faktenchecks”, die Frl. Plaar ihren Verwandten dauernd unterbreitet, an keiner Stelle sichtbar. Letztlich:
Streit mit meinen Eltern hatte ich immer seltener. Mir war es einfach egal geworden. Nach Hass kommt Gleichgültigkeit.
Auch die einst so geliebte Oma (die sich auch nicht von der AfD lossagen will und noch besorgte Textnachrichten an die Enkelin sendet) verfällt dann dieser Fatwa.
Es geht hier nicht um politische Differenzen, sondern um moralische Unvereinbarkeit.
Frl. Plaar, sehr fair, hat ihrem “Erzeuger die Wahl gelassen”:
Wenn er noch weiter Kontakt zu mir haben wolle, wäre ein Austritt aus der AfD grundlegende Bedingung. In jedem Fall wäre ein Austritt aus der AfD aber nur ein symbolischer erster Schritt. Die absolute Grundvoraussetzung für eine erneute Annäherung wäre eine spürbare kritische Selbstreflexion meines Erzeugers und die daraus folgende Arbeit an sich selbst.
NICHTS IST SO PERSÖNLICH WIE POLITIK steht in fetten pinken Buchstaben auf der Rückseite des Buches – auf dieses schmale Brett muß man erstmal kommen.
Ich habe der Lektüre dieses Buches etwa eine Stunde gewidmet. Die ganze Story ist so vordergründig und hohl, so voller auswendiggelernter Maximen, daß ich erst zurückschäumte. Dann aber hat mich diese furchtbare Familiengeschichte sehr traurig gemacht. Was sind das für Zeiten, wo Ideologien Kinder von ihren Eltern entfremden! So ein trauriges, so ein dummes, furchtbares Buch.
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Wer’s dennoch kaufen und lesen möchte: Buchhandel. Für diesmal nicht bei uns.
Rheinlaender
Dass Kinder ihre Eltern zum Wohlgefallen der Macht aus ideologischen Gründen öffentlich denunzieren, kannte man bislang eher aus George Orwells "1984" oder aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution.