Die Hoffnung, mit der enorme Finanzgefahren heraufbeschwörenden Schuldenlast könne zunächst mal jeder noch ein Stück weiterregieren, erweist sich als Trugschluß. Ganz zu schweigen vom Wortbruch, der sie auslöste.
Die „Ludwigsburger Kreiszeitung“ notiert am 26. September:
Bislang hat die Koalition nicht mehr zu bieten als die teure Illusion eines Wachstumsprojekts. Ohne Investitionen auf Pump würde das Bruttoinlandsprodukt stagnieren. Fachleute mahnen Strukturreformen, Mut und Entschlossenheit an. Das Gerede vom ‚Herbst der Reformen‘ jedoch ist und war nur eine Floskel, die Erwartungen schürte, aber wenig Substanz lieferte. Indem Bundeskanzler Friedrich Merz und Fraktionschef Jens Spahn den Begriff nun aus dem Koalitions-Sprech streichen, stellen sie sich einer Realität, die den Bürgern ohnehin schmerzlich bewußt ist: Wer so tut, als ließen sich die Versäumnisse der Politik in einer bunten Jahreszeit abräumen, obwohl zentrale Reformthemen in Kommissionen verlagert wurden, braucht sich über wachsende Politikverdrossenheit nicht zu wundern.
Es ist kein Ruck zu verspüren. Der Begriff „Strukturreform“ geht auf im geblähten Phrasenwortschatz der verdämmernden Berliner Republik. Denn mehr noch als „verbesserte Infrastruktur“ und „Bürokratieabbau“ bräuchte es – als Voraussetzung eben dafür – den Impetus eines erfrischenden Neuaufbruchs, bedürfte es einer Idee, eines „Spirits“, den im Land aber gerade niemand zu inspirieren vermag, auch nicht die AfD, deren famoser Erfolg vor allem daher rührt, zwar einzige echte „Alternative“, vor allem aber Adresse aller Frustrierten zu sein.
Verdankt sich die wachsende Wählergunst nun tatsächlich der Anziehungskraft der Partei oder wird sie vom verstärkten Widerwillen der Leute gegen Block und Brandmauer ausgelöst? Die „Omas gegen Rechts“ etwa dürften unfreiwillig eher als Wahlhelfer für die AfD gelten können, als effektiv gegen sie wirksam zu sein.
Ohne ihre Verdienste schmälern zu wollen: Die AfD schwimmt auf einer Welle der Enttäuschten und Verärgerten. Gut so. Nur sollte sie kritisch vermeiden, dabei einfach Treibgut zu werden.
Einerseits von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ der Gegner diskriminiert, stigmatisiert und kriminalisiert, ordnet sich die Partei dort, wo sie es in die Parlamente geschafft hat, auffallend wohlig in das System ein, wird von den Wir-sind-mehr-Parteien zwar immer noch geschmäht, fährt aber – wie ihre Gegner – fette Diäten ein und macht es sich in der Demokratie ganz höfisch bequem. Je mehr Abgeordnete es werden, umso ruhiger lebt es sich für die einzelnen. Hinter den ersten zwei Reihen wächst die Zahl der gechillten Hinterbänkler.
So zahlreich jedenfalls sind die Leistungsträger und lebhaft Engagierten nicht, und erklärtermaßen will die AfD gerade keine „Partei neuen Typs“ sein, sondern geriert sich, zumal die Zustimmungswerte exorbitant steigen, nur allzu gern als noch demokratischer als die Demokraten.
Wobei still zu fragen bleibt, ob die gegenwärtige multiple Krise des Landes noch demokratisch, also über das Auszählen von Stimmen und eine daraus resultierende neue Legislative und Exekutive – erst in den Ländern, irgendwann gar im Bund – zu retten ist. Seltsam, wie aufwendig einerseits zu Umfragewerten orakelt wird und welche bunte Zahlenmystik an Streifen- und Tortendiagrammen das auslöst, während es andererseits kaum je um Ideen und Inhalte geht.
Oliver Weber problematisiert in der FAZ vom 30. September den Wandel von Volks- zu Staatsparteien:
Union und SPD verlieren ihren Volksparteiencharakter und nähern sich stattdessen einem Parteientypus an, der den Verlust der gesellschaftlichen Bindungen durch mehr Nähe zum Staat kompensiert. Dass die Ämterpatronage zunimmt, ist eine unausweichliche Folge der wachsenden Entfremdung von Parteiensystem und Gesellschaft. (…) Schon Mitte der Neunzigerjahre prognostizierten die Parteiforscher Peter Mair und Richard S. Katz, dass die Volksparteien den Charakter von staatsnahen Kartellparteien annehmen würden. (…) Der direkte Weg von der Universität in die Parteizentrale ist auch deswegen häufiger geworden, weil es kaum noch ein gesellschaftliches Nahfeld der Parteien gibt, auf dem man sich zuerst bewähren könnte. (…) Doch der Verlust der gesellschaftlichen Bindungen geht unweigerlich mit einer Zunahme der Ämterpatronage einher. (…) Die Parteien, so könnte man ganz unpolemisch Forschungen zur Kartellierung des Parteiwesens zusammenfassen, werden Staatsparteien – nicht aus Korruptionsgründen oder innerer Degeneration, sondern aufgrund eines allgemeinen sozialen Wandels, der zu einer inzwischen kaum noch überbrückbaren Entfremdung von Parteien und Gesellschaft geführt hat.
Wollten und sollten wir in dieser Tendenz tatsächlich immer noch mehr Demokratie wagen oder wäre es nicht Zeit für einen Dezisionismus, der existentiell notwendige Korrekturen ganz gerade durchzieht – gegenüber der Übermigration, der Überbürokratisierung und Überideologisierung. Wäre eine solche Kraft jetzt oder später allein demokratisch legitimiert denkbar und bliebe sie lange genug an der Macht, um die nötigsten Ziele zu erreichen?
Radle ich zwischen sechs und sieben Uhr durch die Stadt, begegnen mir jene, die früh mit echter Wertschöpfung beginnen, die Handwerksfirmen, die Dienstleister. Jene, die von deren Steuern leben, trudeln erst so ab neun mit einem Thermobecher Kaffee in den Büros ein, nicht eben voller Energie, aber dafür im Sakko feinen Zwirns.
Man spürt diese Verschiebung: Immer mehr Verwalter für immer weniger Wertschöpfer. Immer mehr Politik, immer weniger Wirtschaft. Rechnet man Bundestag und Landesparlamente zusammen, gibt es in Deutschland etwa 2.500 Parlamentarier. Was für ein legislativer Luxus! Gar nicht zu reden von der Masse der Alimentierten, die aus allen Reproduktionsprozessen gänzlich herausgehalten und nur noch zur Konsumtion aufgerufen sind.
Um Bismarck aufzurufen: Mit Reden und Majoritätsbeschlüssen werden auch die gegenwärtigen großen Fragen der Zeit nicht zu entscheiden sein, auch nicht durch den Blackrock-Buchhalter Friedrich Merz. Dazu sind die Zustände hierzulande längst zu weit verkommen.
Nur: Wer sollte eine neue Autorität im Sinne illiberalerer Demokratie ausformen, wie entwickelte sie politisches Charisma gegen die „Kathedrale“ in der Lesart von Curtis Yarvin? Und woher wüchse ihr die Kraft einer Bewegung zu, die sie trägt? Da ist wenig in Sicht, weder in den staats- bzw. steuerfinanzierten Parlamenten noch im öffentlichen Dienst und selbst allzu wenig in der erfolgseuphorisierten Anhängerschaft der AfD.
Eine Partei von Kraft und Geist bräuchte die Frühaufsteher, die Leistungsträger, die Klugen, die Geistreichen und die risikobereit Mutigen, mindestens aber jene, die trotz aller Widrigkeiten mindestens ihr eigenes Leben im Griff haben.
Nur haben die Verfolgung und Diskriminierung der AfD den Nebeneffekt, daß die kritischen Intellektuellen, die meisten Handwerker und die Selbständigen gesunden Menschenverstandes, der fittere Bestand der akademischen Jugend und überhaupt der kultivierte Teil der Gesellschaft ihr weniger zuströmen, insofern sie wegen der McCarthy-Rigorosität von links um berufliche Existenz und Karriere zu fürchten haben.
Um so mehr kommen jene, die nichts zu verlieren haben – Rentner mit fehlendem Artikulationsraum, die endlich mal Ansprache finden, Lebensenttäuschte und Zukurzgekommene, die weniger sich selbst als schon immer die Umstände für ihre Mißlichkeiten verantwortlich machten, die Schwätzer und Glücksritter, die Cleveren und Ausgebufften. Es kommen zu viele, die mit Pfründen und Stellen versorgt werden wollen, aber zu wenige, die für eine Idee etwas zu riskieren bereit sind.
Eine Partei, die angepaßt auf innere Demokratie setzt, wird nicht die Besten in ihre Gremien wählen. Sie wird im fragwürdigen Verständnis des hehren Begriffs Loyalität vor allem Absprachen und Kungeleien folgen, mit denen jene nach vorn kommen, die dann ihre Vasallen versorgen können. Die Mentalität des Parteienstaates ist längst schon jene, die auch die AfD bestimmt.
Das System nivelliert diese neue Kraft erfolgreich ein; mag sein, es domestiziert sie. Und so haben es die wenigen mit Anspruch und Sendung schwer, einen möglichst radikal-korrektiven Kurs zu steuern. Etwa in diesem Zusammenhang zitiert Curtis Yarvin den Jakobiner Saint-Just: „Wer eine halbe Revolution macht, gräbt sein eigenes Grab.“
Die AfD wird in Berlin und in den Landeshauptstädten vom bisherigen Establishment zwar gehaßt, aber sie partizipiert dennoch von dem, was dieses Establishment an Komfort auch für sie eingerichtet hat.
Klar bleibt die AfD zunächst einzig wählbare Partei. Es gibt kein anderes Gegengewicht zu den Stagnateuren. Sobald sie jedoch an der Macht beteiligt ist, wird sie noch einmal die Frage zu klären haben, ob sie sich – wie längst schon in der Legislative – auch in der Exekutive so einrichten will wie jene, die sich dort schon seit Jahrzehnten sanierten und saturierten. Oder ob sie ihre Kräfte so mobilisiert, daß sich die alte und überfremdete Nation noch einmal neu zu gründen versteht.
Wir erleben, so Ijoma Mangold treffend, eine „kulturelle Schubumkehr“, einen „Vibe-shift“ (Niall Ferguson) als Ausdruck des Gesinnungswandels, der bisherige Selbstverständnisse von den Achtundsechzigern bis zur Wokeneß revidiert. Das Pendel, so Mangold, von den „woken“ Kräften mächtig angestoßen, schwingt mit voller Energie zurück.
Bisher scheint das ein selbsttragender und sich eigendynamisch forcierender Prozeß zu sein, von der AfD eher ausgenutzt als gefördert. Diese Kraft aber braucht Richtung und Ziel.
RMH
Man kann es kurz fassen:
Die Union hatte die Möglichkeit, mit der AfD nicht nur einen Herbst der Reformen zu haben, sondern eine ganze Legislaturperiode der Reformen. Chancen vertan.