Wieder einmal wird über ihre Wiedereinführung diskutiert, und erneut sind es vor allem Stimmen aus den Reihen der AfD, die sie fordern. Rüdiger Lucassen, ehemaliger Offizier und Verteidigungspolitiker der Partei, sieht in ihr ein notwendiges Signal an Wähler und Gesellschaft – ein Zeichen der Entschlossenheit, das jedoch letztlich hohl bleibt. Denn bei den AfD-Verteidigungspolitikern wird die Wehrpflicht nicht als Teil einer politischen Idee verstanden, sondern als Selbstzweck, als Symbol verwaltungstechnischer Betriebsamkeit, das den Mangel an konzeptioneller Tiefe nur notdürftig überdeckt.
Das eigentliche Problem liegt jedoch tiefer. Die Frage nach der Wehrpflicht berührt das Verhältnis von Staat, Armee und politischem Willen in seinem Kern. Sie entspringt weniger einem sicherheitspolitischen Kalkül als vielmehr einem psychologischen Bedürfnis nach Ordnung in einem Staat, der seine Wehrhaftigkeit längst politisch entkernt hat.
Wehrpflicht als Ersatzhandlung – Wer die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordert, ohne zuvor über Sinn, Zweck und Voraussetzungen einer Armee nachzudenken, verwechselt Mittel und Ziel. Eine funktionierende Wehrpflicht setzt einen Staat voraus, der weiß, wofür er seine Bürger in Uniform ruft – einen Staat also, der sich seiner selbst gewiß ist und militärische Stärke als Ausdruck seiner politischen Identität begreift. In der Gegenwart dient der Appell an Pflicht und Dienst jedoch eher dazu, die eigene Orientierungslosigkeit zu übertönen.
In konservativen und rechten Kreisen gilt die Wehrpflicht inzwischen als Symbol nationaler Geschlossenheit, während sie auf der linken Seite als Mittel gesellschaftlicher Integration angepriesen wird. Beiden Seiten ist gemeinsam, daß sie den institutionellen Niedergang der Streitkräfte mit einem moralischen Ritual zu kompensieren suchen. So wird die Wehrpflicht zum Placebo einer Gesellschaft, die die Symptome ihrer Krise lindern will, ohne ihre Ursachen – den Verlust des nationalen Selbstverständnisses, die Politisierung der Streitkräfte und die Verwandlung des Militärs in eine bürokratische Verwaltungseinheit – anzutasten.
Eine Armee, deren Führung vergreist und ideologisch durchdrungen ist, die ihren eigenen Offizieren mißtraut und deren institutionelle Struktur mehr an ein Ministerium als an eine Truppe erinnert, läßt sich durch Zwangsdienste nicht sanieren. Der Gedanke, die bloße Masse von Rekruten könne Verteidigungsfähigkeit herstellen, ist Ausdruck administrativen Denkens, nicht politischer Einsicht. Bevor also über die Wehrpflicht gesprochen werden kann, muß die Armee wieder zu einer Armee werden.
Die strukturelle Krankheit der Bundeswehr – Die Krise der Bundeswehr ist nicht technischer, sondern geistiger Natur. Seit Jahren wird sie von innen heraus geschwächt – durch ein Klima der politischen Kontrolle, durch ideologische Schulungen und die schleichende Transformation der Offizierslaufbahn in eine Verwaltungsroutine. Der Soldat ist zum Funktionär geworden, die militärische Führung zum verlängerten Arm der Bürokratie und der Dienstbegriff hat seine sittliche Dimension verloren.
Diese Entwicklung begann jedoch nicht mit der Aussetzung der Wehrpflicht, sondern bereits früher, nämlich mit der Politisierung der militärischen Führung. Wenn Loyalität zur Kartellparteien-Regierung über die Pflicht gegenüber der Nation gestellt wird, verliert die Armee ihre innere Autorität. Wenn der Militärische Abschirmdienst nicht mehr nach äußeren Bedrohungen sucht, sondern die Gesinnung der eigenen Soldaten überwacht, ist das Ergebnis keine Institution zur nationalen Selbstbehauptung mehr, sondern eine durchpolitisierte Behörde.
In einem solchen Zustand wäre die Wiedereinführung der Wehrpflicht keine Lösung, sondern eine Verschleierung des Problems. Man würde junge Menschen in eine Institution schicken, die weder Ziel noch Richtung kennt, aber präzise definierte Diversity-Leitlinien verwaltet.
Eine Armee, die ihre eigene Tradition nur noch negativ definiert, kann keine Identifikation stiften oder Wehrhaftigkeit entwickeln. Dies hat bereits der Historiker Martin van Creveld festgestellt. Die Schlagfähigkeit einer Armee hängt von der Belastbarkeit der zugrundeliegenden Idee ab.
Deshalb flohen die zahlenmäßig überlegenen und topausgerüsteten afghanischen Regierungstruppen vor den wenigen Taliban. Der Grund: Die Idee der “afghanischen Nation” war wenig verankert und unorganisch. Es wollte einfach kaum noch ein Soldat für diese Idee ins Feuer springen. Unter diesen Umständen wäre die Wehrpflicht nicht Ausdruck nationaler Wehrhaftigkeit, sondern die Fortsetzung der Verantwortungslosigkeit mit anderen Mitteln.
Politische Leere statt strategischer Vision – Gerade die AfD, die sich selbst als Gegenentwurf zur systemischen Erstarrung versteht, verliert in dieser Frage den Blick für das Wesentliche. Anstatt eigene inhaltliche Strategien zu entwickeln, reagiert sie auf Signale, Umfragen und das Verhalten der etablierten Parteien. Ihre Verteidigungspolitik bleibt reaktiv statt schöpferisch. Wer jedoch ernsthaft den Anspruch erhebt, politische Verantwortung zu übernehmen, muß über Parolen und bürokratischen Denken hinausgehende Konzepte vorlegen.
Es bedarf von Denkschriften und Weißbüchern bis hin zu strategischen Planungen – also Dokumenten, in denen konkrete Schritte beschrieben werden. Wie soll die Bundeswehr im Jahr 2030 aussehen? Welche institutionellen und geistigen Reformen sind notwendig, um sie aus der bürokratischen Erstarrung zu befreien? Wie läßt sich ein patriotisches Wehrverständnis formulieren, das Dienst und Nation wieder miteinander verknüpft? Auf all diese Fragen bleibt die AfD bis heute eine Antwort schuldig.
Politik beginnt nicht mit der Reaktion auf Ereignisse, sondern mit der gedanklichen Antizipation künftiger Möglichkeiten. Die Wehrpflicht kann nur dann eine Rolle spielen, wenn sie in ein umfassendes politisches Konzept eingebettet ist, das Sicherheit, nationale Identität und institutionelle Verantwortung miteinander verbindet. Alles andere ist Symbolpolitik.
Der Vergleich mit Österreich – In diesem Zusammenhang ist das österreichische Beispiel aufschlußreich. Zwar existiert dort die allgemeine Wehrpflicht fort, doch ist das Bundesheer faktisch kaum einsatzfähig. Finanzielle Kürzungen, fehlende politische Wertschätzung und organisatorische Trägheit haben seine Struktur ausgehöhlt. Die Pflicht besteht zwar weiterhin, doch der Geist, der sie tragen sollte, ist verschwunden.
Für Deutschland bedeutet das: Eine Wehrpflicht in einem politisierten, antinationalen System ist hohl. Sie verdeckt den Niedergang, anstatt ihn zu überwinden. Wer die Wehrpflicht fordert, muss zunächst definieren, in welchem politischen Rahmen sie wirken soll. Ohne eine geistige und institutionelle Reform des Militärs wäre sie nichts weiter als ein nostalgisches Ritual.
Gerade Lucassen und seine Mitstreiter stehen exemplarisch für dieses Mißverständnis: Sie argumentieren, als könne ein administrativer Akt politische Substanz ersetzen. Doch kein einziger Wehrpflichtiger würde die Bundeswehr in ihrem gegenwärtigen Zustand auch nur einen Deut verteidigungsfähiger machen. Wer die Wehrpflicht fordert, bevor die Armee erneuert ist, versucht, das Pferd von hinten aufzuzäumen.
Bürokratisches Denken als Ersatz für Politik – Damit verkörpert Lucassen ein allgemeines Phänomen der Gegenwart: das Eindringen bürokratischen Denkens in die politische Sphäre. Politik wird zunehmend als Verwaltung des Bestehenden und nicht mehr als Gestaltung des Kommenden verstanden. Der politische Wille wird durch Zuständigkeiten ersetzt und Entscheidungen werden nicht mehr aus Überzeugung, sondern prozedural getroffen. Wichtige Fragen versumpfen im Arbeitskreis.
Die Forderung nach Wehrpflicht offenbart daher weniger Tatkraft als geistige Müdigkeit. Sie illustriert den Zustand eines politischen Systems, das den Mut zur Entscheidung verloren hat und stattdessen den Anschein von Handlung erzeugt. Eine Wehrpflicht, die nicht das Ergebnis einer politischen Neuausrichtung ist, bleibt eine administrative Maßnahme – und ist somit ein weiteres Symptom der Krise, die sie vorgibt zu bekämpfen.
Die notwendige Umkehr der Reihenfolge – Wer über Pflicht reden will, muss zuvor über Sinn sprechen. Eine erneuerte, politisch unabhängige und geistig in nationalen Kategorien gefestigte Bundeswehr wäre die Voraussetzung für jede Form des Wehrdienstes. Diese Erneuerung verlangt drei Schritte:
- muß die militärische Führung entpolitisiert werden – Offiziere müssen wieder Diener der Nation sein, nicht Funktionäre wechselnder Regierungen.
- muß das militärische Ethos wiederhergestellt werden. Begriffe wie Ehre, Verantwortung und Opferbereitschaft dürfen keine musealen Relikte sein, sondern müssen gelebte Realität werden.
- muß eine strategische Neuordnung der Streitkräfte erfolgen, denn ihre Struktur, Ausrüstung und Ausbildung müssen von einer kohärenten sicherheitspolitischen Vision ausgehen und dürfen nicht von Parteiprogrammen, NATO-Wünschen und Haushaltslogiken bestimmt werden.
Erst wenn diese Grundlagen geschaffen sind, kann die Wehrpflicht ihren Zweck erfüllen. Alles andere wäre Beschäftigungspolitik im Tarnanzug.
Der Ernstfall des Politischen – Der eigentliche Ernstfall unserer Zeit ist nicht der Angriff von außen, sondern der Verlust innerer Klarheit. Wehrpflicht, Sicherheit und Verteidigung sind keine technischen Fragen, sondern Ausdruck politischen Selbstbewusstseins. Sie setzen einen Staat voraus, der sich als handelndes Subjekt versteht – und nicht als Objekt externer Interessen oder innerer Selbstzweifel.
Lucassen und andere Vertreter der AfD erkennen zwar die Symptome des Niedergangs, ziehen jedoch falsche Schlüsse. Sie wollen die äußere Form restaurieren, ohne den inneren Grund zu erneuern. Damit stärken sie nicht den Staat, sondern verlängern seine Schwäche. Eine reformierte Wehrpflicht kann nur dann wirken, wenn sie auf einem erneuerten Verständnis von Staatlichkeit beruht, nämlich auf der Überzeugung, dass Wehrhaftigkeit ein Ausdruck politischer Selbstbestimmung ist und nicht deren Ersatz.
Politik vor Pflicht – Die Wehrpflicht ist also nicht der Ausgangspunkt, sondern das Resultat einer politischen Ordnung. Wer sie fordert, ohne zuvor die geistigen und institutionellen Grundlagen des Staates zu erneuern, verwechselt Ursache und Wirkung. Eine Erneuerung muss beim Denken beginnen: bei der Wiederherstellung des Politischen als gestaltender Kraft und beim Verständnis des Staates als Träger seiner eigenen Würde. Mehr echte Politik, weniger Verwaltung. Mehr Inhalt, weniger Form.
Erst wenn dieser Geist wieder lebendig ist, wenn Politik mehr bedeutet als Verwaltung und Pflicht wieder aus Überzeugung erwächst, kann die Wehrpflicht mehr sein als ein Symbol. Bis dahin bleibt sie das, was sie derzeit ist: ein bequemes Gesprächsthema für Bürokraten, ein Ausdruck politischer Mutlosigkeit und ein stilles Mahnmal für den Verlust jenes Ernstes, mit dem einst über Staat und Nation gesprochen wurde.
Maiordomus
Es bleibt unbestreitbar, dass eine vernünftige Wehrpflicht einen tiefen begründenden Zusammenhang mit der Staatsidee haben muss, zum Beispiel ist es in der Schweiz "die bewaffnete Neutralität",eine Verpflichtung aus dem Wiener Kongress von 1815, wobei nicht zuletzt Russland diese Neutralität wünschte. Auch England wünschte sich eine neutrale Schweiz, in Frankreich Talleyrand. Das gute an diesem Befund ist die aktenmässig verbürgte völkerrechtliche Anerkennung, nicht nur der Schweiz, auch ihrer Staatsidee. Eine deutschnationale oder auch nur AfD-affine Staatsidee werden jedoch auswärtige Mächte nie anerkennen, zumal nichr ehemalige Siegermächte. Insofern haben Sie es in der BRD schwerer als wir Schweizer, wo freilich unter den Regierungsmitgliedern niemand Spitzenwissen über die Neutralitätsgeschichte hat, desgleichen sind ihre noch nicht pensionierten Berater oftmals auf dem Niveau ausländischer Europarechtsprofessorinnen. Übrigens mussten Väter des Grundgesetzes, die oftmals noch von Carl Schmitt beeinflusst warên, diese ihre Haltung tarnen, heute ist und wird das noch schwieriger. Dabei hat die AfD recht, insofern sie nicht ausschliessen darf, dass Deutschland eines Tages wieder eine Regierung hat, die sich an Kants praktische Vernunft hält. Einige Grundsätze von CS entsprechen derselben. Die Haltung der Partei ist insofern nicht falsch.