Kritik der Woche (71): Wie Deutschland tickt

Wahlforscher sind keine neutralen Instanzen. In der jüngeren Geschichte der BRD mischten sie kräftig mit.

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Ein Bei­spiel ist Mat­thi­as Jung, der im Zäsur­jahr 2015 Kanz­le­rin Ange­la Mer­kel einen „Moder­ni­sie­rungs­kurs“, also eine Sub­or­di­na­ti­on unter die links­li­be­ra­le Hege­mo­nie, anemp­foh­len haben soll – „Refu­gees wel­co­me“ inklu­si­ve. Fried­rich Merz hin­ge­gen läßt sich Impul­se bevor­zugt von Rena­te Köcher ver­ab­rei­chen; die Allens­bach-Che­fin hat ihren Bei­trag dazu geleis­tet, daß Merz im Wahl­kampf 2025 stär­ker wirt­schaft­li­che Fra­gen adres­sier­te, bevor er – reich­lich spät, zu spät – die Migra­ti­ons­pro­ble­ma­tik ins Visier nahm.

Und auch Her­mann Bin­kert ist Neu­tra­li­tät nicht nach­zu­sa­gen: Der Markt- und Mei­nungs­for­scher wird mit sei­nem Insti­tut INSA fest von Bild und Bild am Sonn­tag sowie ins­be­son­de­re von eher libe­ral­kon­ser­va­tiv posi­tio­nier­ten Auf­trag­ge­bern wie der AfD bemüht. Die­se klei­ne anzu­neh­men­de poli­ti­sche Schlag­sei­te schmä­lert nicht den Erfolg sei­ner Arbeit: Bei der Bun­des­tags­wahl vom 23. Febru­ar war INSA bei­spiels­wei­se mit den wöchent­li­chen Sonn­tags­fra­gen näher am dann tat­säch­lich fest­ge­stell­ten amt­li­chen Wahl­er­geb­nis als die Kon­kur­renz von For­sa bis Allen­stein, von der For­schungs­grup­pe Wah­len bis zu Infra­test dipmap.

Jetzt berich­tet Bin­kert in Buch­form von sei­nen Tätig­kei­ten, sei­nem Berufs­ethos, aber auch davon, was sei­ne Mit­ar­bei­ter über die Denk­wei­se der Deut­schen über die Jah­re hin­weg ana­ly­siert haben: Wie Deutsch­land tickt. Ein Mei­nungs­for­scher packt aus.

Wer bei dem rei­ße­ri­schen Unter­ti­tel Ent­hül­lungs­pro­sa befürch­tet, kann beru­higt wer­den: Die vor­lie­gen­de Schrift ist klug, poin­tiert und nüch­tern zugleich abgefaßt.

Bin­kert posi­tio­niert sich dabei selbst „außer­halb der poli­ti­schen Are­na“ – man müs­se sich als Wahl- und Mei­nungs­for­scher „zurück­neh­men“, „nicht selbst Poli­tik sein“, nicht ver­su­chen, „Mei­nung zu machen“. Das klingt über den Din­gen schwe­bend und nobel, hält aber dem Rea­li­täts­check bei kaum einem Insti­tut stand. Das ist nicht schlimm: Es gibt nun mal kei­ne Neu­tra­li­tät, weder in den Insti­tu­tio­nen des Staa­tes noch in den Insti­tu­ten der Wahl­for­schung. Über­all, wo Men­schen mit Poli­tik zu schaf­fen haben, flie­ßen bewuß­te und unbe­wuß­te Stand­punk­te und Prä­gun­gen mit ein.

Auch bei Bin­kert selbst wird das schla­gend, spä­tes­tens dann, wenn er die nach Ansicht einer rela­ti­ven Mehr­heit der Deut­schen bedroh­te Mei­nungs­frei­heit mit dem unver­meid­li­chen Igna­zio Silo­ne abhan­delt: „Wenn der Faschis­mus wie­der­kehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschis­mus.‘ Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus.‘“

Liest man der­lei poli­tisch-his­to­risch ent­stell­te Dau­er­bren­ner des begriff­lo­sen Libe­ral­kon­ser­va­tis­mus, wünscht man sich, Her­mann Bin­kert hät­te sei­ne eige­ne Maxi­me der unpo­li­ti­schen Dar­brin­gung und Ana­ly­se poli­ti­scher Fak­ten gehal­ten. Aber, und das ist die gute Nach­richt: Bin­kerts ent­spre­chen­de Aus­rei­ßer ins Gru­sel­ka­bi­nett des Empö­rungs­ges­tus sind an einer Hand abzu­zäh­len; sie schmä­lern nicht den Wert sei­ner Schrift, die gemäß dem Bin­kert-Dik­tum „Wir blei­ben Ler­nen­de“ viel Lehr­rei­ches für wirk­lich noch jeden ein­zel­nen Real- und Meta­po­li­ti­ker bereithält.

Dabei han­delt es sich um Inhalt­li­ches, aber auch um Zah­len. Bin­kert ver­mißt das gesam­te Gelän­de der Mei­nungs­for­schung und stellt – auch visu­ell anspre­chend und ein­leuch­tend dar­ge­stellt – dar, was die Deut­schen bewegt: The­men, Ängs­te, Sor­gen und Pro­gno­sen wer­den ana­ly­siert und nach Alters­grup­pen, Ost vs. West, Geschlech­tern und Par­tei­prä­fe­ren­zen ent­spre­chend auf­ge­schlüs­selt. Die Durch­drin­gungs­tie­fe ist eben­so beacht­lich wie die hier wohl­tu­en­de Zurück­hal­tung Bin­kerts: Jeder Leser kann, je nach sub­jek­ti­vem Stand­punkt, die ent­spre­chen­den Zah­len, die Bin­kerts Insti­tut erhob, für sich gewich­ten und einordnen.

Bin­kert, und das darf man ihm nach der Lek­tü­re sei­nes Wer­kes abneh­men, will wirk­lich infor­mie­ren, nicht beleh­ren. Er zeigt, wie die Deut­schen ticken: „unter­schied­lich“. Die­se banal klin­gen­de Schluß­fol­ge­rung des Autors ent­hält Spreng­kraft inso­fern, als daß Bin­kert anhand des Daten­ma­te­ria­les zei­gen kann, wie die feh­len­de Akzep­tanz die­ser deut­schen Viel­stim­mig­keit Unzu­frie­den­heit und „Spal­tung“ for­ciert. In Zei­ten wie die­sen ver­läßt man frei­lich schon mit der­lei Erkennt­nis­sen den selbst behaup­te­ten Weg der „Neu­tra­li­tät“.

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Her­mann Bin­kert: Wie Deutsch­land tickt. Ein Mei­nungs­for­scher packt aus, Basel 2025. 248 S., 24.90 € – hier bestel­len

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Kai­ser hat auf der Som­mer­aka­de­mie in Schnell­ro­da, The­ma “Arbeit”, einen Vor­trag über das The­ma “Arbeit, Wohl­stand, AfD” gehal­ten. Hier ist der Mitschnitt.

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (7)

Simplicius Teutsch

1. November 2025 17:58

@ Benedikt Kaiser: „Er zeigt, wie die Deutschen ticken.“
 
Ich weiß es auch so. Schnarchende Schlafschafe oder billige Opportunisten. Und am rechten Rand wir, am linken Rand die Deutschlandabschaffer. Die Macht liegt bei den Linken.

Majestyk

2. November 2025 13:20

Ich halte Meinungsforschung für einen irreführenden Begriff. Eigentlich müßte es Meinungssteuerung heißen, wenn nicht gar Meinungsmanipulation, immerhin geht es doch darum, den Menschen über Umfragen mitzuteilen, was sie denken sollen, wenn sie konform sein wollen.. 

Gracchus

2. November 2025 23:37

"Dauerbrenner des begrifflosen Liberal-Konservatvismus" - ist gut. Ich lese darin eine Anspielung auf Carl Schmitt und seiner These von der Neutralisierung des Politischen. Im Grunde war die BRD politisch neutralisiert, der Liberal-Konservatvismus als BRD-Gewächs ist daher letztlich unpolitisch, nun steht er aber - um die "Linke" zu entmachten und sodann wieder in Ruhe seine privaten Geschäfte betreiben zu können - vor der Notwendigkeit sich zu politisieren. Deshalb wirkt das so halbgar.

Ulrike

4. November 2025 14:26

Binkert, und das darf man ihm nach der Lektüre seines Werkes abnehmen, will wirklich informieren, nicht belehren.“ Das klingt gut und ist selten geworden... Die Junge Freiheit hat gerade das Ergebnis einer INSA-Umfrage veröffentlicht, in der u. a. die Frage gestellt wurde „Welche der folgenden Medienarten nutzen Sie hauptsächlich, um sich über politische Nachrichten zu informieren?“ (Diagramm ganz unten im Artikel): Die absolute Mehrheit aller Befragten, und auch die relative Mehrheit der AfD-Anhänger, nennt den ÖRR bzw. die Leitmedien als Quelle, gefolgt von den Sozialen Medien, welche ja auch eher wenig neutral berichten. „Alternative Medien“ und „andere Informationsquellen“, die zumindest eine andere Sicht auf die wichtigsten Probleme bieten, werden als Informationsquelle nur in einem geringen Umfang genannt. Das Ergebnis der Umfrage könnte man so interpretieren, daß eine reine, unkommentierte Information bzw. die Nutzung verschiedener Sichtweisen auf ein Thema, nur wenig erwünscht ist.

RMH

5. November 2025 07:48

In früheren Zeiten befragten die Herrscher ihre Astrologen, die mit viel Brimborium die Sterne deuteten & den Zeitpunkt für Schlachten & andere Entscheidungen, Krönungen etc auszuleuchten versuchten. In der Demokratie muss man nun die, welche die Stimme abgeben, um danach nichts mehr zu sagen zu haben, "erforschen", statistisch erfassen, bewerten um sie so nutzbar zu machen. Die "Demoskopen" haben, wie die antiken Haruspices, in die Eingeweide des vermeintlichen "Souveräns", der amorphen Wählerschaft zu blicken und kund zu tun, wo es "auf der Leber liegt" oder nicht. Vor den Wahlen wird sodann ein "mehrheitsfähiges" Programm gemäß den Prognosen, Trends & Auswertungen der "Demoskopie" festgelegt & mithin beginnt die bekannte Herrschaft der Lüge, denn nach der Wahl wird die Mehrheit nicht mehr beim Volk gesucht, sondern im Parlament & den Parteien, die sich für zuständig halten & in der Bunzelrepublik eben noch nicht einmal bei allen Parteien, die vom "Volk" gewählt wurden, sondern nur innerhalb des Clubs, der sich für alleine "legitmiert" hält. Jedes Wahlprogramm steht "natürlich" unter dem "Vorbehalt" der Parlamentsmehrheitsfindung - und so kann Merz eben weiter eines nach dem anderen seiner Wahlversprechen ausmerzen statt umsetzen, Macht ist Macht und bei der nächsten Wahl dann eben nochmal das gleiche Spiel.

Majestyk

5. November 2025 13:43

Ich habe das schon mal angerissen, vor Urzeiten war ich mal eine Weile freier Mitarbeiter beim Lokalradio. Damals stand der ansäßige Fußballzweitligist vor der Insolvenz und es ging um die Frage, ob die Stadt als Retter einspringen soll und konkret die Baukosten für den geplanten Stadionneubau übernehmen. Ich sollte eine Umfrage machen, was die Menschen auf der Straße so denken. Der Tenor war eindeutig, nahezu niemand sah ein, daß die Bürger nun für die Mißwirtschaft des Vereins haften sollen. Fast alle meinten, dann solle man doch die Gehälter der Profis kürzen. Genauso sah dann meine fertige Umfrage aus. Dummerweise ist diese so abends auch auf Sendung gegangen, der ebenfalls freie Moderator hatte die Umfrage tatsächlich gesendet und entsprechend anmoderiert. Am nächsten Tag durfte ich beim Chefredakteur antanzen. Die Telefone liefen heiß, Verwaltungsrat, Rathaus, Vereinsführung, die ortsansäßige politische Parteiprominenz. Damals wurde mir beigebracht, daß man Umfragen steuert, man so fragt wie man das Ergebnis haben will, entsprechend die zu Befragenden auswählt und man den Rest am Schneidetisch erledigt.
Umfragen und Prognosen sollen Konformitätsdruck erzeugen. Nichts davon ist neutral oder objektiv. So beginnt "unsere Demokratie", für die man die richtige Clubmitgliedschaft braucht. Wie Mboko Lumumbe es im Nebenfaden treffend formuliert: "Der "Kampf gegen rechts" ist eine Form des Faschismus." Er ist aber vor allem Entmachtung des eigentlichen Souveräns. 

dojon86

8. November 2025 09:41

@Simplicius Teutsch Das Volk, das sind die vielen leeren Nullen, die gern sich beifügt, wer sich fühlt als Zahl, doch wegstreicht, kommt's zum Teilen in der Rechnung.