von Jörg Seidel –
Unter den drei großen Debatten, die Peter Sloterdijk auslöste und die als nationale Skandale inszeniert wurden, ragt der Lärm über seine Rede »Regeln für den Menschenpark« – vor ausgewähltem Publikum auf Schloß Elmau gehalten – heraus. Er stellte zudem den vorläufigen Höhepunkt einer medial und nahezu maschinell eingespielten Erregungsklimax dar, deren Vorläufer der Historikerstreit um Noltes Infragestellung der Singularität (1986), die Debatte um Botho Strauß’ »Bocksgesang« (1993), Peter Handkes Parteinahme für Serbien (1996), Martin Walsers Friedenspreisrede (1998) waren.
Sloterdijks Äußerungen in einem Langinterview, drei Jahre bevor ihn der Strudel endgültig einsog, wirkten nahezu prophetisch, als er von »Pranger-Prosa« sprach, die sich im deutschen Feuilleton breitmachte, und nach den »Milieu-Aufträgen solcher Verhöhnungsübungen« fragte. Dort nahm er die inkriminierten Autoren in Schutz und definierte den Beruf des Schriftstellers als »Experimentator«, dessen Aufgabe »das Aufspüren der gefährlichen Substanzen sei, die man Themen nennt, die Tiefenthemen der Epoche«, sich diese dann selbst zu injizieren und in Selbstversuchen zum Sprechen zu bringen, »gefährliche Ansichten von gefährlichen Stoffen« auszuprobieren, sich selbst dabei beobachtend und nachlauschend, wie das klinge, was man da sagt:
Es gibt eine direkte Relation zwischen der Größe eines Autors und der Gefährlichkeit der Stoffe, die er prozessiert und meistert
Die »Milieu-Aufträge« – das ist das Frappierende und Erhellende – stammten in allen Fällen aus einer geistigen Quelle.
Sloterdijk hielt seinen Vortrag am 17. Juli 1999 zum zweiten Mal – zwei Jahre zuvor in Basel hatte es keinerlei Aufsehen gegeben. In ihm versuchte er die These zu etablieren, daß der westliche Humanismus ein Ergebnis der Buchkultur sei, denn Bücher seien Briefe an ferne Freunde. Sloterdijk verfolgte den Weg der »freundschaftsstiftenden Kommunikation« von Griechenland über Rom ins christliche Europa, stellte sich dann als Empfänger von Heideggers Brief über den Humanismus (1947) zur Verfügung, antwortete darauf, indem er Heideggers These vom Scheitern des Humanismus zwar bejahte, sich aber gegen dessen Anthropologiefeindlichkeit wehrte und unter Schützenhilfe von Nietzsche und Platon auf die Tatsache aufmerksam machte, daß Menschen seit jeher – man nennt das Kultur – plastisch aneinander und an sich selbst, zähmend und züchtend, domestizierend, also anthropotechnisch arbeiten.
Mit den neuen technischen Möglichkeiten, so Sloterdijk weiter, insbesondere der Gentechnologie, ändert sich der Charakter dieser Arbeit; es eröffne sich die Lage,
daß Menschen vor Probleme gestellt werden, die für Menschen zu schwer sind, ohne daß sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefaßt zu lassen
– und es stellt sich die Frage, ob die neuen Techniken nicht selbst in diesen Prozeß einzuspeisen wären, ob man nicht »das Spiel aktiv aufgreifen und einen Codex der Anthropotechnik zu formulieren« habe, um so »wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen.«
Eine Woche darauf vermeldete Martin Meggle in der Frankfurter Rundschau in großen Lettern, Sloterdijk habe jüdischen Denkern das Entsetzen gelehrt, in erster Linie, weil er von den »sehr verdüsterten Jahren nach 1945« gesprochen habe. Es hätte vor einem maßgeblich jüdischen Publikum einen Eklat mit Saul Friedländer gegeben – später stellte sich heraus, daß schon dies nicht der Wahrheit entsprochen hatte.
Feuilletonredakteur Rainer Stephan strebte dann am 29. Juli in der Süddeutschen Zeitung bewußt den Skandal an, indem er auf suggestive Weise im Empörungston den »Ungeist« aufspürte und Sloterdijk ad hominem schlichtweg Menschenzüchtungsphantasien und ein Elitenprojekt der Selektion unterstellte, eine Übermenschenphilosophie sozusagen. Die Eskalation trieb dann Thomas Assheuer voran, der am 2. September in der Zeit ein »Zarathustra-Projekt« auszumachen meinte, den Versuch einer »gentechnischen Revision der Menschheit«. Sloterdijk
schwebe eine demokratiefreie Arbeitsgemeinschaft aus echten Philosophen und einschlägigen Gentechnikern vor, die nicht länger moralische Fragen erörtern, sondern praktische Maßnahmen ergreifen
Sekundiert wurde diese Phantasielektüre von Reinhard Mohr im Spiegel, der »faschistische Anklänge« vernahm, einen Austausch von Gesellschaftskritik durch Gentechnologie. All das wurde noch ohne Kenntnis des Textes notiert und unterstellt, und damit war die Katze aus dem Sack. Nun waren die entscheidenden Stichworte gefallen, Roß und Reiter waren kenntlich gemacht. Carolin Emcke dampfte das Eskalat auf Sloterdijks vermeintliche Grenzüberschreitung – »wenn er bessere Menschen züchten will« – ein, und dieser Vorwurf existiert bis in unsere Tage.
Sloterdijk reagierte mit zwei offenen Briefen, der eine an Assheuer, der andere an Habermas, denn instinktsicher hatte er die »Fatwa aus Starnberg« dahinter vermutet. Plötzlich wurde eine große Struktur sichtbar: Die initialen Protagonisten, die Skandalisierer und Fehlleser Mohr, Stephan, Assheuer, Emcke sind alle geistige Kinder Jürgen Habermas’, haben bei ihm promoviert, schrieben ihm Elogen, hängen am geistigen Tropf der Frankfurter Schule. Das gilt ebenso für Axel Honneth und Christoph Menke, die 2009 den nächsten Sloterdijk- Skandal entfachten. Aber auch hinter den anderen großen Medienskandalen sind Habermas’ Umrisse sichtbar, teilweise indem er direkt eingriff (Nolte, Walser, Sloterdijk) oder Strohmänner vorschickte (Strauß ).
Nimmt man noch Habermas’ philosophische Diffamierungen gegenüber konservativen (insbesondere Heidegger und Gehlen) oder selbst postmodernen Autoren (Foucault und Derrida) hinzu, dann kann man eine breite Schneise von intellektuellen Vernichtungsversuchen wahrnehmen, die den Propheten der »kommunikativen Vernunft« und des »herrschaftsfreien Diskurses« nicht nur theoretisch, sondern auch charakterlich desavouiert. »Kommunikatives Handeln« entpuppt sich im Praxisversuch als aktive Diskurshygiene, die Frankfurter Schule als Wacht am Main. Sloterdijk erklärte im September 1999 daraufhin die Kritische Theorie für tot – eine Respektlosigkeit, die ihm viel Gegenwehr einbrachte.
In der Retrospektive habe die »Fabrikation der Debatte« ihm »ein drittes Auge eingepflanzt«, denn sie habe ihn endgültig zum Medientheoretiker gemacht; er habe »den Sieg der Lektüre über den Text« durch die »Angehörigen der rechthabenden Klasse« als Folge »zeichenbasierter Epidemien« erkannt, die das Wesen der Massenmedien ausmachten. Biographisch dürfte dieses Erlebnis eine Zäsur und einen Rechtsschwenk bedeutet haben. Es folgten in den kommenden Wochen an die 250 Beiträge in allen großen Medien, bald war die Diskussion vor Unübersichtlichkeit nicht mehr zu überblicken. Mehrere Diskursebenen schoben sich übereinander.
Texthermeneutische Versuche wurden bald von der Skandallogik überlagert, Skandal und Diskurs wurden selbst zum Thema. Was sich anfangs nach »einem Reizwort-Schema, ganz auf der Pawlowschen Ebene« abspielte, sich an einem »problemträchtigen Vokabular […] an der Syntax vorbei, an der Argumentation vorbei, an der Textarchitektonik vorbei, an der Autorenintention vorbei« künstlich erregte, verlief sich in ein breites Delta an Themen. Sloterdijk – den von Habermas erhobenen Faschismusvorwurf umdrehend – sah darin den »Späterfolg der NS-Zeit in den Nervensystemen der Nachlebenden.« Neben der Gentechnikdebatte wurde über die Frage, ob man heute noch Heidegger lesen dürfe, gestritten, über den Zustand der Kritischen Theorie, die Rolle der Philosophie als solcher und ob Sloterdijk überhaupt ein Philosoph sei, bis hin zur Metadebatte über die deutsche Debattenkultur.
Dahinter versteckten sich verschiedene Machtkämpfe. Sloterdijk war kurz zuvor Berater des Suhrkamp Verlages geworden, und Habermas mußte um sein soziologistisches Programmprofil bangen. Es war auch ein Generationenstreit, das Abdanken einer akademisch und medial etablierten Schule zugunsten einer Denkbefreiung, das Ringen zweier Philosophietypen und ‑stile – auf der einen Seite das streng formalisierte, immer moralisierende, auf der anderen das assoziative, experimentelle, metaphernreiche Denken. Es ging um Gesellschaftstheorie, Ideologiekritik, Moralphilosophie, Vernunftbegründung, letztlich analytische Philosophie versus historisierende Anthropologie, kulturkritischen Essayismus und medientheoretische Grundlegung.
Es ging auch um den Begriffskampf und die Frage nach der Tabuisierung – Sloterdijk wagte nicht nur mehrere Tabubegriffe, sein Faible für Metaphern und Neologismen, die oft griechischen oder lateinischen Ursprungs sind, dürfte auch als Reaktion auf den historischen Begriffsverschleiß und die in Frankfurt aufgestellten Verbotszonen für Wortfelder zurückzuführen sein. Und es war ein Machtkampf innerhalb der Medienwelt, aber auch der politischen Wende von der Bonner zur Berliner Republik, es ging am Grunde des Streites um Erinnerungspolitik, wie bei den vorherigen Skandalen auch – mit einem Unterschied: Sloterdijk knickte nicht ein und zog sich auch nicht zurück.
Das Ereignis bietet wichtige skandaltheoretische Einsichten. Es zeigt nicht nur, wie die Erstkommentare einen Skandal entfachen, sondern ihn auch lange Zeit in seiner Richtung bestimmen können. Unter seinen drei konstitutiven Bestandteilen – 1. Verfehlung oder deren Unterstellung, 2. Enthüllung, 3. Entrüstung – erweist sich der zweite Schritt als der primäre, denn nur die Enthüllung kann Aufmerksamkeit erzeugen, selbst dann, wenn die Verfehlung nur unterstellt wird; diese kommt ohne jene nicht in die Existenz. Die Entrüstung wiederum bleibt kontingent und arbiträr und kann nur in ihrer Wahrscheinlichkeit durch die langfristige Schaffung eines Empörungsklimas – etwa durch mediale Tabuisierungen, Sensibilisierungen, Markierungen und öffentliche Ostrakisierungen – vorbereitet werden.
Es macht zudem »die Funktion des Skandals als Herrschaftskontrolle in demokratischen Systemen« deutlich, schafft die Neusynchronisierung der Wertkategorien – insofern ist der Skandal systemstabilisierend –, offenbart »den Eklat als Ausdrucksform öffentlicher Meinungsbildung«. Aber er hat – selbst als typisch deutsches »masopolitisches Syndrom« – auch eine produktive Funktion: Der Skandal schafft »autopoetisch« die Streßgemeinschaften, die nach Sloterdijk die Basis der Nationenbildung sind – selbst wenn er keinen edukativen Mehrwert besitzt –, jene »Rituale der Labilität, in denen die deutsche Gesellschaft das stärkste Wir-Gefühl erreicht.«