Sein Verfasser, Paul Kingsnorth, hat ihn bereits vor acht Jahren veröffentlicht. Daß er erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden ist und in der Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz Berlin erscheint, tut ihm keinen Abbruch: Die Gedanken, die Kingsnorth in selbstergründendem, zornigem, hoffnungslosem und vor allem ehrlichem Ton vorträgt, sind nicht an aktuelle Ereignisse gebunden. Es sind Gedanken, die sich jeder, der die Oberfläche nicht mit den tieferen Schichten verwechselt, längst gemacht hat und wohl immer wieder macht.
Kingsnorth verzweifelt an der Zerstörung der Welt. Gut ist, daß er diese Welt von Anfang an herunterbricht auf seine Welt, seine unmittelbare Umgebung, auf das also, was seinen Alltag, sein Leben ausmacht und worauf er überhaupt die Hand legen kann. Zerstörung, das meint: die unaufhaltsame und planmäßige Ausbeutung und Vernutzung von allem Schönen, Geordneten, Gegebenen, aber auch Wilden und Ungebahnten durch die Gefräßigkeit des Menschen.
Die Ableitungen, die Kingsnorth aus dieser Lage vornimmt, sind zum einen brachial, zum anderen lähmend: Man landet entweder bei Ted Kaczynski oder bei den Namenlosen, die aus ihrer Verzweiflung dennoch ein ganzes Leben abzuleiten versuchen. Auf den einen bezieht sich Kingsnorth. Von den anderen kennt er welche, ganz sicher, und vielleicht versucht er, selbst ein solcher zu sein. Jedenfalls beschreibt er einen Weg dorthin.
Ich will nicht nur andeuten, ich kenne den Vorwurf, man raune nur, wenn man nicht klar sage, worauf hinaus man wolle. Aber ein Wort zum Raunen: Längst nicht alles, was gesagt werden muß, kann mit klaren Begriffen auf den Punkt gebracht, kann abgelegt werden wie eine Akte. Es gibt ein umkreisendes, ein assoziatives Denken und Sagen, dessen Präzision nicht im deutlichen Umriß, sondern im wiederholten Hinweis auf den Kern der Sache besteht. So etwas gelingt mit Geschichten und mit Fetzen und Bruchstücken aus dem unaufgeräumten, wilden Erfahrungs- und Leseschatz suchender Menschen sehr viel besser als dadurch, daß man sich aus der Ablage aufgeräumter Naturen bediente.
Wer sind diejenigen, die ich oben erwähnte: diese »Namenlosen, die aus ihrer Verzweiflung dennoch ein ganzes Leben abzuleiten versuchen«? Ich kann das nicht exakt fassen, kann nur sagen: Es steckt in diesen Lebensentwürfen viel von dem, was man als »das wahre Leben im Falschen« schon vor fünfzig Jahren umkreiste und wahlweise mit einem »zurück zur Natur« und einer Selbsteinpassung in »die Wildnis« und einen gleichgültigen Naturkreislauf übersetzte. Damit sind wir wieder bei Kaczynski: Er hätte ein solcher Namenloser werden können, bleiben können, aber es kam ganz anders, und das hat ihn weltbekannt gemacht – und zu einem, mit dem man nicht fertig wird.
Für uns hat vor allem Martin Lichtmesz ausführlich über diesen Mann geschrieben, über diesen hochbegabten Mathematiker, der eines Tages sein Büro verließ, um in einer Waldhütte zu verschwinden. Zum Terroristen, zum Unabomber wurde er erst, als ihm die Welt, vor der er geflohen war, seinen Rückzugsort zerstörte.
Kingsnorth rekapituliert auf den ersten Seiten seines schmalen Bändchens beide Kippunkte im Leben Kaczynskis: Im Alter von 24 Jahren habe ihn die Erkenntnis gelähmt, daß es keine Möglichkeit geben werde, der modernen Zivilisation zu entkommen, also der von ihr aufgestellten Fortschrittsfalle, ihren brillanten Methoden der Manipulation, ihrer rücksichtslosen und unersättlichen Vernutzung, also dem, was Erhart Kästner (den Kaczynski nicht kennen konnte) die »Welt-Ausrechnung« nannte und die »Entsiegelung von allem«.
Martin Lichtmesz hat in seinem Kaplaken-Essay Smarte Welt den Begriff der Entsiegelung nicht verwendet, aber genau diesen Vorgang beschrieben. Ihn traf der Schlag, als ihm vor Jahren klarwurde, daß er niemals mehr in einer Welt leben würde, in der die Menschen nicht drahtlos verdrahtet, mobil transparent, erreichbar, auffindbar sein würden – ohne Chance, sich zu verstecken und zu verbergen, umstellt von einem Gestell, in dem fast jeder aus Spieltrieb, Eitelkeit und Naivität auf eine entkleidende Art und Weise gläsern sei – und damit ausgeliefert.
Kaczynski hatte das schon vor fünfzig Jahren gesehen und seine Gedanken in dem berühmten Essay Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft zusammengefaßt. Im Gegensatz zu uns allen hat er sich danach für einen radikalen Rückzug in ein Leben als Selbstversorger entschieden und dann, als ihn die Weltvernutzung nicht in Ruhe ließ, für eine radikale Gegenwehr: Er verschickte Rohrbomben, die seine Opfer töteten oder schwer verwundeten, und er tat es, bis man ihn faßte und wegsperrte. Er starb vor gut zwei Jahren im Gefängnis.
Kingsnorth lehnt einen solchen Weg natürlich ab, aber er gibt in seinem Essay seinem Verständnis für radikale Entscheidungen Ausdruck. Sein Text ist voller Anspielungen auf Bücher und Autoren, die er studierte, um die eigene Weltanschauung nicht nur bestätigt zu finden und abzusichern, sondern nach Wegen in eine bessere Zukunft zu suchen und dem Gestell, der Versuchsanordnung, der Fortschrittsfalle zu entkommen: Jaques Ellul und Ivan Illich, D. H. Lawrence und C. S. Lewis, Neil Postman und sogar Edward Goldsmith, dessen Werk Der Weg kaum mehr jemand kennt und der doch darin schon alles Grundlegende ausgeführt hat, wovon unsere Technik‑, Fortschritts- und Konsumkritik zehrt und worauf sie gegründet ist. Der Weg – was für ein zuversichtlicher Titel im Gegensatz zu Kingsnorth’ Dunkler Ökologie, diesem Gang in den Schatten, diesem Schritt fort von allen großangelegten Organisationsbemühungen hin auf ein Stück Land, an eine Böschung, ins Unterholz, in einen Winkel, in die Wälder, dieser Flucht vor der Vernutzung.
Auf eine der eindrücklichen Passagen des Textes stößt man, wenn Kingsnorth den Einbruch dieser Vernutzung, dieser Übergriffigkeit in den Winkel schildert, in dem Kaczynski sich verkrochen hatte. Er wollte von dort aus die totale Durchdringung der Welt nicht mehr wahrnehmen – und sah genau diese Welt dennoch anbranden, sah es und hatte keine Chance, den Damm noch höher zu bauen. Es muß in der Nähe der Hütte, die Kaczynski sich gebaut hatte, ein Plateau gegeben haben, einen Lieblingsort, einen, der eben spendete und nicht verplant war, und eines Tages, als Kaczynski sich dorthin zurückziehen wollte, um Kraft zu schöpfen, sah er, daß man gerade im Begriff war, eine Straße über dieses kleine Plateau zu bauen und es dadurch zu zerstören:
Sie können sich einfach nicht vorstellen, wie wütend ich war. Von da an beschloß ich, daß ich, anstatt mir noch weitere Überlebenstechniken anzutrainieren, es dem System heimzahlen würde. Rache.
Das sind die Worte Kaczynskis. Kingsnorth zitiert sie nur, um von einer inneren Weggabelung aus, die keinem von uns unbekannt ist, den Abzweig in einen erbitterten, rücksichtslosen, gewaltsamen Rachefeldzug zu beschreiben. Natürlich empfiehlt er nicht, diesen Weg einzuschlagen – niemand von uns empfiehlt so etwas. Aber gewiß denkt der ein oder andere so schonungslos wie möglich darüber nach, ob die Konsequenzen, die wir aus der Verheerung der Welt ziehen, radikal genug sind. Es gibt ja Wege genug, die weit, weit ab von dem Kaczynskis verlaufen und dennoch radikal sind.
Ich denke etwa an junge Leute, die für einige Monate auf Bäumen wohnen, um zu verhindern, daß man sie fälle. Es ist mir egal, ob diese jungen Leute von den Medien gehätschelt und von der Klimabewegung vereinnahmt werden und ob sie von ihren Bäumen herunter dummes Zeug gegen rechts und für Diversity quatschen. Denn wenn sie zu Ende geredet haben, sind die Reporter und die Kameras weg, und dann kommen einsame Tage, und die Öffentlichkeit hat sich zwar erregt und eine Spende dagelassen: Wochenlang aber auf einer Astgabel zu sitzen und auszuharren, um etwas zu retten – das ist weit entfernt von jedem realpolitischen Kalkül und jeder situativen Inszenierung, und deswegen ist es radikal, ein radikales Zeichen, ein hilfloses, radikales Zeichen, jedenfalls auch einer der Wege, die von jenem Punkt aus wegführen, von wo aus Kaczynski in die Drogerie marschierte und sich Salpeter besorgte.
Kingsnorth: Er setzt sich weder auf Bäume, noch verschickt er Bomben. Sein Text ist aber ebenso wie das eine und das andere ein Abschied von der Überzeugung, daß es sich lohne, im politischen Raum weiterhin etwas aufzubauen, überhaupt: auf ihn zu bauen. Nicht die Gegner der Ökologie, des Natur- und Heimatschutzes haben Kingsnorth entwaffnet und ihm die Zuversicht genommen. Es waren die Schlaueren und die Gewieften innerhalb seiner Bewegung selbst.
Das ist nämlich der entscheidende Schnitt, den Kingsnorth macht. Er erklärt die ökologische Bewegung für gescheitert. Sie sei aufgegangen in etwas, das er als »Neoumweltschutz« bezeichnet und das sich von der frühen, graswurzeligen Umweltbewegung fundamental unterscheide: Während das Urgrüne der Natur, der Wildnis, der Kreatur einen Eigenwert zugesprochen habe, eine nicht bezifferbare seelische, ganzheitliche, unergründliche, spirituelle und dadurch aus sich heraus spendende Kraft, taxierten die Neoumweltschützer die Natur als etwas, das einen Nutzen für die Menschheit habe und deswegen nachhaltig auf den Menschen hin ausgerichtet, geordnet und grün bewirtschaftet werden müsse.
Der Neoumweltschutz, von dem er schreibt: Das ist der grüne Kapitalismus, das ist die klimaneutrale Rendite, das grüngewaschene Investment, der Emissionshandel, die absurde Weltklimakonferenz, die, wenn sie zusammentritt, mehr Ressource verbraucht als eine ganze Stadt in einem Jahr. Auch diese Erkenntnisse sind alles andere als neu: daß es nämlich noch nie sinnvoll und logisch war, das Zuviel mit »noch mehr« einzudämmen und zu reduzieren.
Es wird Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen. Soviel analytischer Furor, soviel Beschreibung nicht gangbarer Wege: Wohin wendet sich nun aber Herr Kingsnorth? Zunächst verwirft er noch einmal gründlich, zieht Zähne – und das ist ein längeres Zitat wert:
Wenn man glaubt, daß wir uns wie magisch mit neuen Ideen oder neuen Technologien aus der Fortschrittsfalle befreien können, dann verschwenden wir nur unsere Zeit. Wenn man glaubt, daß das übliche ›politische Engagement‹ heutzutage noch funktioniert, obwohl es doch schon gestern nicht funktioniert hat, dann verschwendet man nur seine Zeit. Wenn man tatsächlich glaubt, daß sich die Maschine reformieren, zähmen oder zerstören läßt, dann verschwendet man nur seine Zeit. Wenn man Jäger und Sammler romantisiert oder Bomben an die Besitzer von Computergeschäften verschickt, dann verschwendet man nur seine Zeit. Und so stehe ich nun also hier und frage mich: Was wäre an diesem Punkt der Geschichte eigentlich keine Zeitverschwendung?
In der Tat, das ist die Frage. Bloß: Was nun kommt, nämlich »fünf vorläufige Antworten«, ist nichts anderes als eine Kapitulationserklärung. In Kürze lauten die Vorschläge, die Kingsnorth macht, wie folgt: erstens Rückzug, um »der Maschine alle Unterstützung zu verweigern, die Schrauben noch enger zu drehen«; zweitens: »nichtmenschliches Leben schützen«; drittens: »Machen Sie sich die Hände schmutzig«, will sagen: das meiste selbst machen und dabei lernen, was real ist; viertens: der Natur einen Wert zusprechen, der weit über ihre Nützlichkeit hinausgeht; und fünftens: Rückzugsorte bauen.
Das war’s, das gab es aber alles schon, das ist alles schon vorgeschlagen und von einzelnen, manchen, vielen umgesetzt worden, und gültig ausformuliert ist es auch schon längst, und zwar auch bereits und beredt in jenem resignativen Ton, in dem Kingsnorth es vorträgt.
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um das Entstehen einer persönlichen Philosophie für eine dunkle Zeit – um eine dunkle Ökologie.
Das ist immerhin ein Begriff, und man blickt auf Versuche, sich und das, was man schützen kann, in den Schatten zu retten, in den Windschatten: in eine Hütte, ein uninteressantes Stückchen Land, an etwas, das links liegen blieb, das nicht der großen Rede wert ist.
Verschwinden also, Rückzugsorte aufsuchen. Wie entkommt Kingsnorth? Er beschreibt, und das ist glaubhaft, die Technik einer belastbaren Lebensfreude: Er eröffnet seinen Text mit der Beschreibung einer Sense und schließt ihn, indem er einen Tag schildert, an dem er mit dieser Sense Heu macht – eine Arbeit, die ihn begeistert und mit Freude erfüllt, nicht zuletzt deshalb, weil es an einer Sense seit tausend Jahren nichts mehr zu verbessern gebe und weil sie ihrer abartigen Tochter, der Motorsense, in jeder Hinsicht überlegen sei – funktional, aber vor allem aus der Perspektive dessen, der die Natur nicht mit stinkenden, lauten Mordwerkzeugen traktieren und ihr die Seele austreiben wolle.
Was ist nun das Lesenswerte an diesem schmalen Text, der vieles rekapituliert, was längst vorliegt? Um es ein wenig pathetisch auszudrücken: Er holt uns zurück an die Wegkreuzung, an der die Verzweifelten stehen – diejenigen, denen beim Blick auf die Massengesellschaft, den Massenkonsum, das Immer-Mehr für immer mehr die Zuversicht abhanden gekommen ist, hier könne noch etwas eingedämmt und im großen Stil geordnet werden.
Und mehr: Kingsnorth gehörte natürlich auch zu denjenigen, die die Dinge nicht nur geschehen lassen wollten, sondern zu verbessern, umzugestalten und Politik zu betreiben versuchten. Aber nun hält er von alledem nichts mehr. In seiner Verzweiflung ist Kingsnorth zum Glück nicht zum Zyniker geworden, zu einem, der sich weiterhin beteiligt und zugleich darüber spottet. Er ist ernsthaft geblieben und möchte das, was er bedacht hat, durch eine Lebensentscheidung legitimieren. Jedoch hat die Verzweiflung seinen Blickwinkel verengt. Er sieht nur noch radikale Rache und radikalen Rückzug. Das eine lehnt er ab, das andere empfiehlt er. Das ist sein Ausweg aus der Verzweiflung. Ein Drittes gibt es nach seinem Dafürhalten nicht mehr. Seine Abscheu gilt zweifellos denjenigen, die den Motor hochjagen und dies grün bemänteln; warnen und beraten aber möchte er alle, die noch immer meinen, man müsse auf den Zug aufspringen, um ihn zu steuern und zu bremsen.
Dunkle Ökologie ist also ein Text, der uns aus diesem Zug zerrt und noch einmal an die Kreuzung stellt. Er holt uns aus dem politischen zurück in den vorpolitischen Raum, das ist sein Verdienst. Aber der Schnitt, den er macht, ist zu radikal, zu sehr aus der eigenen, der persönlichen Lage des Autors heraus gedacht und vollzogen. Ich selbst halte es für notwendig, durch Texte wie den von Kingsnorth aus dem Zug geholt und erneut an die Kreuzung gestellt zu werden. Jedoch sollten wir dort nicht als Verzweifelte stehen.
Das ist nämlich der Irrtum, dem Kingsnorth aufsitzt: An der Kreuzung stehen nicht nur Verzweifelte. Unter anderem wir stehen an dieser Kreuzung (von der aus Kingsnorth nur noch Wege in die Rache und den Rückzug skizziert), und wir stehen dort noch immer als diejenigen, die vom Ich zu abstrahieren verstehen. Das ist eine grundsätzlich andere Haltung: Wir sind diejenigen, die immer wieder grundsätzlich darüber nachdenken, wie die Beschreibung unserer Lebensaufgabe im Sinne des Ganzen lautet. Wir ziehen uns nicht zurück in eine Nicht-Beteiligung, an einen Rückzugsort, umbrandet, nicht haltbar auf Dauer.
Wir stehen nicht ohne Grund immer wieder an der Kreuzung, an die uns auch die Lektüre der Dunklen Ökologie versetzt. Jedoch unterzeichnen wir, indem wir rekapitulieren, keine Kapitulation, sondern vergewissern uns unserer Aufgabe: Wir haben von dort aus einen Weg vorzugeben, der weder in Rache noch Rückzug mündet, sondern den vorpolitischen Raum nicht gegen den Raum der Politik ausspielt. Wir begeben uns immer wieder dorthin, wo es auch in vermeintlich aussichtsloser Lage um die Ordnung des Staates, des Gemeinwesens geht – um das, was gedeihlich ist für diejenigen, die als Volk eine selbstbewußte Nation zu formulieren und ihr eine angemessene Gestalt zu geben haben.
Das sind keine Durchhalteparolen. Das ist, solange wir im Wir denken, das Notwendige, die Aufgabe. Ich kann Kingsnorth verstehen, und vielleicht kommt es irgendwann zu seiner Art Rückzug. Aber: jetzt noch nicht, und dies nicht, obwohl beispielsweise ich mich im vorpolitischen Raum sehr viel wohler fühle als in der Politik.
Ein Wort also zu diesem vorpolitischen Raum: Das »vor« bedeutet nicht, daß der damit bezeichnete Raum auf das Feld des Politischen hinweise und hinführe. Es bedeutet, daß er vor aller Politik besteht und nichtübertragbare Verhaltenslehren ausgebildet hat. In ihm ist es wild, undiszipliniert, gewagt, in ihm werden Dinge geformt und geordnet, die mit der Politik nichts zu tun haben, und es ist ratsam, daß die Politik die Finger vom vorpolitischen Raum läßt und aus diesem Urwald keinen Forst zu machen versucht.
Andersherum hat sich dieser Raum davor zu hüten, das, was in ihm jäh aufblitzen und magnetisch werden kann, auf das Feld der Politik zu transportieren und sie nach Maßstäben zu beurteilen, die dort nicht gelten können. Im vorpolitischen Raum geht es nicht um die Formierung einer Massengesellschaft. Es geht in ihm um die Rückbindung an etwas, das vor jeder Politik liegt und diejenigen, die Politik betreiben, hoffentlich immer wieder zurück an die Kreuzung holt: Es geht darum, nicht vor allem zu funktionieren, sondern das, was da läuft und abläuft, nicht für den unabänderlichen Gang der Zeit zu halten.
Formung ist möglich. Das lehrt der vorpolitische Raum, gerade dann, wenn wir die Unübersichtlichkeit, das Chaotische und ineinander verstrickte moderner Massengesellschaften als etwas wahrnehmen, das der Politik, der Ordnungsbemühung entzogen ist, und wenn wir daran verzweifeln wollen. Denn im vorpolitischen Raum gelingen die Dinge. Dort geht es um konkrete Formgebung, Lust am Moment, an der Gestaltung der kleinen Sache, an der Verwirklichung von etwas, das nicht da wäre, täte man es nicht. Das ist keine Blindheit für das Große und Ganze. Nur wird die Frage anders gestellt: Was habe ich in der Hand, was kann ich formen, was wird mir gelingen?
Viel zu sehr ist doch der vorpolitische Raum auf das hin ausgerichtet worden, was die Politik zu sein hat – und vor allem der »politische Arm«. Denn dort muß man sich am Betrieb beteiligen, muß ihn vergrößern und bespielen. Wildnis ist dort nicht, dafür viel Aufgeräumtes, viel Kompromiß und Tun-als-ob.
Aber auch jenseits aller Partei bedeutet Politik: einen Vernutzungsabschnitt organisieren und optimieren, hier den deutschen, andernorts einen anderen. Was bedeutet das? Vernutzungsabschnitt – das ist, was die gefräßige Massengesellschaft tut (Vernutzung) und was jeder Staat für sich abzusichern hat (seinen Abschnitt in der Welt). Die Frage ist, inwiefern wir unseren Vernutzungsabschnitt (sprich: unser Land) auf eine bessere Weise einzurichten verstehen als andere. Aber ein Vernutzungsabschnitt bleibt es allemal, auch wir kratzen aus der Welt zusammen, was wir zu brauchen vermeinen und was in hohem Maße einem sehr sinnlosen Konsum zum Opfer fällt.
Das darf der vorpolitische Raum nicht wollen. Hier muß er einen Schnitt machen, an diesem Punkt ist er unkorrumpierbar, und nur dann ist er: der Raum für eine dunkle Ökologie, für einen Roman, ein Kunstwerk, der Sinn eines anarchischen Impulses, der schmutziger Hände und der von Rückzugsorten.
Laßt uns den vorpolitischen Raum vor der Politik und ihrem Zugriff retten, vor der Vernutzung und der Einberechnung seines Potentials – und vor zuviel Zuversicht. Wer grundsätzlich denkt und wach wahrnimmt, beteiligt sich an manchem, obwohl er es besser weiß. Das hat seine eigene Würde. Aber Politik ist nicht alles, längst nicht, und die Kraft für sie kommt anderswo her. Davon können diejenigen Politiker berichten, die nicht nur Politiker sind.
Deshalb, meine Freunde: Wir treffen uns an der Wegkreuzung und im Unterholz, immer wieder. Nicht wahr?
–
Die Hörfassung dieses Textes findet sich hier.
Dunkle Ökologie von Paul Kingsnorth kann man hier bestellen.
