Sascha Z. ist Soldat. Aus Berufung, sagt er, das sei mehr noch als Überzeugung. Den Einzelkämpferlehrgang hat der ernsthafte dreißigjährige Panzergrenadier, den seine Stubenkameraden als „völlig humorlos“ bezeichneten, erstklassig bestanden. Das beste Ergebnis seit zehn Jahren, beschieden ihm die Ausbilder.
Längst hält sich Sascha eine eigene Wohnung am derzeitigen Einsatzort. Ein kleines privates Fitneß-Studio mit diversen Bänken und Hanteln ergänzt das Mobiliar. Am Bettrand und auf der Toilette stapeln sich Männermagazine, Dossiers und Anleitungen zum Muskelaufbau.
Sascha leidet unter seiner Schmalbrüstigkeit. Das würde der wortkarge Mann nie eingestehen. Zwischen Bücherregalen, in der penibel gerichteten Küche und über dem Bett des Junggesellen hängen große Sesamstraßen-Plakate. Ernie und das Quietsche-Entchen, Miss Piggy hysterischen Blicks, Oskar, der frech aus der Mülltonne lugt.
Ganz neu ist die Klage über eine infantile und zunehmend regredierende Gesellschaft nicht. In den späten 1960ern wurde im Rahmen von Alexander Mitscherlichs Kritik und Vision einer vaterlosen Gesellschaft eine allgemein konstatierte Reifungshemmung nahezu schlagworttauglich.
Später bemerkte Neil Postman in Das Verschwinden der Kindheit, daß es nur eine Frage der Perspektive sei, ob Kindheit oder Erwachsenenalter verschwänden und konstatierte zwischen Säuglingsalter und Senilität eine langgestreckte dritte Lebensstufe: die des „Kind-Erwachsenen“.
Mitte der Neunziger, im Zuge der massenhaften Versorgung deutscher Haushalte mit Privatfernsehen und den entsprechenden Blödelprogrammen und Voyeurshows, erschienen zahlreiche Bücher zur „kindlichen Gesellschaft“, und der Spiegel titelte mit dem Schreckensbild eines Morbus Infantilitatis.
Vor einem halben Jahr sorgte ein Aufmacher auf den Lifestyle-Seiten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung für Wirbel. Der Hohn, mit dem Matthias Heinen dort die Masse der altersmäßig längst erwachsenen „Endlospubertierenden“ bedachte, trieb den Redakteur der beachtenswerten und sonst recht nüchtern argumentierenden Internetseite www.single-dasein.de zur Weißglut und einem flammenden Manifest: „Wir Infantilisten sind nicht infantil, sondern infantilistisch!“ wurde da in Fettdruck gebrüllt, und: „Uns Infantilisten gehört die Zukunft, die Vergangenheit überlassen wir gerne euch.“
Erhellend ergänzt durch Analyse und O‑Töne der infantilen Generation wurde Heinens Artikel im übrigen durch das Kursbuch Die Dreißigjährigen vom Dezember 2003 – das Dilemma der gelangweilten Pop-Generation ohne „abenteuerliche Herzen“ wird hier greifbar.
Die Kritik an Infantilismusvorwürfen wiederum ist so alt wie das eigentliche Symptom: Erstens, so argumentieren gerne die Sozialdemokratie und ihre wissenschaftlichen Adepten (etwa Ulrich Beck), seien Gemeinsinn und soziales Engagement unter jungen Erwachsenen niemals stärker ausgeprägt gewesen als derzeit.
Außeracht gelassen wird dabei, daß gesellschaftliches Engagement sich heute weitgehend auf vereinzelte, überindividualisierte Zusammenhänge beschränkt und das Private wie das Gemeinschaftsganze ebensowenig tangiert, wie es etwas über vollmenschliche Reife aussagt.
Eine ehrenamtliche Tätigkeit für Amnesty International oder Greenpeace zieht eben nicht nach sich, daß der alten Frau oder der hochschwangeren in der U‑Bahn der Platz überlassen wird. Auch schwindende Manieren sind ein Aspekt der Unreife.
Zweitens, sagen die „Infantilisten“, wurden Naivität, Verspieltheit, das enthemmte Laufenlassen der Emotionen von modernen Kunstströmungen und gesamtgesellschaftlich von den rebellierenden Achtundsechzigern geradezu eingefordert und wirkten letztlich „kulturprägend“.
Rebellion aber ist heute passé, ihre Fragmente versanden in schlingensiefschem Dadaismus, im Linksspießertum der Jusos (Stimme und Rede von Niels Annen verbildlichen doch mehr einen halbkindlichen Schlipsträger denn einen jungen Mann) oder in demokratisch fest strukturierten NGOs, und vor allem mangelt es an Subjekten mit entsprechender – rebellischer – Veranlagung.
Das juvenil Aufbegehrende ist heute einer Vermeidungshaltung gewichen. Der große Studentenprotest des vergangenen Winters: Das war nicht mehr als der risikofreie Trotz pöbelnder Halberwachsener mit vollausgeprägten Nehmerqualitäten – Vater Staat hat zu sorgen und dabei größtmögliche Zwanglosigkeit zu gewähren.
Fett und impotent werden: Was Winston Churchill dereinst den Deutschen wünschte, hat sich längst weltumspannend erfüllt. Das Schwinden der „Großen Erzählung“, die Auslöschung gemeinschaftsstiftender, identitätsbildender Mythen, die im Rahmen der Postmoderne-Diskussion so begrüßt wie von anderer Seite beklagt wurde, das anything goes als Gebot wegbrechender Grenzen in jeglicher Hinsicht, hat nicht zu einem furiosen Ausgreifen des Individuums, zum beherzten und neu ermöglichten Wagen großer Schritte geführt – zumindest nicht in der Sphäre des Privaten.
Die wurde um so enger geschnürt, je bedrohlicher die aus den Fugen geratene Welt den Menschen auf sich, die eigene Verantwortung und Potenz, zurückwarf. Der Zusammenbruch des „indoeuropäisch-jüdisch-islamischen Triebkontrollsystems“ (Robert Bly) hat den Menschen nicht zur Mündigkeit befreit, er hat im Gegenteil eine Rückentwicklung in kindliche Verhaltensmuster begünstigt.
An die Stelle der vertikalen Orientierung – an Gott, am Mythos, an einer Ältesten-Kultur – ist der horizontale Blick, der stets unsichere Seitenblick und die Macht der peer group getreten. Die Resultate beschrieb bereits Alexander Mitscherlich treffend, heute bewahrheiten sie sich in ihrer Maximierung.
Durch das Schwinden des Begriffs der Reifung als kollektiv anerkannte und geforderte Entwicklung des Individuums entstehen „Moment-Persönlichkeiten“, die ihre Impulse allein aus der situativen Bedingtheit entlehnen. Der derart angepaßte, „außengeleitete“ Mensch lebt letztlich eine kollektive Neurose – ohne den Ausgleich persönlichen Unbehagens.
Denn bequem ist das Verharren in infantilen Rastern allemal. Zeiten des Friedens legen solches Verhalten nah.
Stephan Schlak nennt im Kursbuch 154 diesen freiwillig unmündigen Lebensstil im Vergleich mit dem Typus der „unbedingten“ jungen Männer der Vorvätergeneration, vor deren hochgestimmtem Idealismus „nur die letzten Fragen bestanden“ eine „flexible Kultur des Bedingtseins“:
Der Dreißigjährige von heute läuft nicht so sehr Gefahr, daß er sich wie seine unbedingten Vorgänger aus den zwanziger Jahren schuldig macht – sondern schon eher umgekehrt: daß er seine Unschuld nie verliert.
Dirk A. ist der Prototyp eines „Machers“. Mit achtzehn raus aus dem mütterlichen Nest, mit 28 das fünfte eigene Auto – selbstverständlich in stetig aufsteigenden Kategorien. Studium auf der Überholspur, bereits währenddessen Aufbau einer bald überaus erfolgreichen Selbständigkeit im Sicherheitsbereich.
Seit einiger Zeit bekleidet der Vierunddreißigjährige einen hochdotierten Managerposten einer großen Kommunikationsfirma. Privat lebt er das, was Gesellschaftskundler „serielle Monogamie“ nennen, feste Bindungen, die recht regelmäßig im Drei- bis Vierjahresrhythmus abwechseln.
Mit Freundin Ina, 35, und wie Frank bewußt kinderlos, hat er zwischen Neujahr und Ostern fünfmal den Kinderfilm „Findet Nemo“ gesehen, zweimal Kino, mittlerweile DVD. „ Das ist bei uns zum Kult geworden“, und überhaupt: All Age möchte er solche Konsumgüter genannt haben, die sich doch an Kinder wie Erwachsene gleichermaßen richteten.
Daß die Zahl längst erwachsener Nesthocker im „Hotel Mama“ in den letzten beiden Jahrzehnten rapide angestiegen ist, ist das eine. Planlose Langzeitstudenten und solche, die drei Jahre und länger ohne zeitökonomische Abwägung an ihren Promotionsarbeiten sitzen, gehören längst zum gesellschaftlichen Bild.
Sie demonstrieren auffällige Vermeidungshaltungen, mangelnde Entscheidungsfreude und die Unfähigkeit, einen Punkt zu setzen. Aber auch der äußerlich angepaßte, gar erfolgreiche Erwachsene, durchaus veranlagt, sich mit stromlinienförmiger Intelligenz beruflichen Erfordernissen anzupassen, bildet im initiationsfreien Raum der Postmoderne sein kindliches Refugium als Rückzugsmöglichkeit aus.
Das fragmentarische Ich nutzt diese regressiven Elemente als Abwehrhaltung und Ort der Schonung in überfordernden Situationen – und seien dies die Lebensumstände allgemein. Die Neigung zum Kinderfilm, zum Janoschposter und kinderlosen Disneyland-Ausflug wäre dann eine legitime Nische, wenn solch temporäre Hinwendung zum Infantilen mit entspannter Unbeschwertheit, Leichtigkeit und kindlicher Freude einherginge.
Allein: die Fähigkeit zum Staunen, die Anlage zur Weiterentwicklung und mentalen Durchdringung des vorgeblich Bestaunten fehlen und sind einem habituellen Unernst gewichen. Der kommt nicht nur im humorlosen Blödel- und Comedy-Trend zum Tragen, sondern wirkt sich auch jenseits der Privatsphäre aus.
Während eine wenige Jahre währende Adoleszenzphase mit ihrer Neigung zu Albernheit (gibt es eigentlich Untersuchungen über Anrufbeantworter-Moderationen Zwanzig- bis Fünfunddreißgjähriger?) und Renitenz bis hin zur Asozialität keine weitereichenden Folgen für das Wertegerüst einer Gemeinschaft zeitigen kann, so ändert sich das mit dem Anstieg der Summe endlospubertierender Jugendlicher im mittleren Erwachsenenalter.
Denn was gebiert die Generation der Infantilen? Im Zweifelsfall: gar nichts. Dabei gehen – siehe obigen Fall – beruflicher Erfolg und private Regressionstendenzen gern Hand in Hand: Der Zwang zu Mobilität und unbedingter Flexibilität vermag die Ausbildung eines festen Wesenskerns zu hemmen und allgemeine Bindungslosigkeit zu fördern.
Treffend beschreibt Volker Marquardt die Sparte der New Economy als Chance, auch ohne Studium und Anzug zum wirtschaftlichen Aufsteiger zu werden – und dabei noch einmal die Jugend zu verlängern:
Genau in dem Alter, in dem wir uns eigentlich für einen festen Job in dieser Wirtschaftswelt hätten entscheiden müssen, bot uns die New Economy eine Hintertür. Opa hatte immer vom Ernst des Lebens gesprochen, aber der kam nie. Das Leben blieb ein Kinderspiel.
Gefragt waren Eigenschaften, die auf der Basis der üblichen Achtziger-Jahre-Sozialisation längst eingeübt waren, das „ Netzwerken mit Freunden, das Spielerische, das Flexible und das Funktionieren in instabilen Strukturen … Alles, was uns vorher als Mangel ausgelegt wurde, zahlte sich nun aus. Unsere Verspieltheit, weil die ganze Wirtschaft eine Spielwiese werden sollte. Unsere Unerfahrenheit, die plötzlich die Quelle für neue Ideen war. Unsere Unstetigkeit, da wir ohnehin jedes halbe Jahr einen neuen Job angeboten bekamen.“
Zeitgleich zu Marquardts launiger und lesenswerter Lifestyle-Analyse der breiten Generation Dauerjugendlicher hat der Berliner Argon-Verlag im übrigen die zum Peinlichen tendierenden Alterungsklage des Spiegel-Journalisten Reinhard Mohr ediert.
Für Lebemann Mohr, 49, und immerhin – das macht er zu genüge deutlich – weiterhin mit knackigen Mittzwanzigerinnen zugange, kennzeichnet es einen „skandalösen Tatbestand, nie mehr 20 sein zu können“. Der „lange Weg von der Revolte zum Rentenloch“ ist von keinem Zuwachs an Reife beeinträchtigt. „Zukunft war gestern“ ironisiert Mohr die Lebensuntüchtigkeit seiner Generation.
Als Petra M., 24, schwanger wurde, fand sie das „irgendwie so total absurd“. Sie hatte es darauf angelegt, so halbwegs jedenfalls. „Das war eben so eine Art sich auszutesten, nenn es Selbsterfahrung.“ Nach all den Jahren sexueller Betätigung, folgenloser Intimbeziehungen, kam ihr das Resultat „völlig irre“ vor.
Die Abtreibung war „krass, klar“, tagelanges Geheul, und selbst nach Wochen noch düstere Abende, wenn sie allein war und nachdachte. „Aber, hey“, meint die Soziologiestudentin mit den Pausbäckchen so schuldbewußt wie kokett, „schau mich doch an, mein Leben, alles – ich bin doch selbst noch ein Kind.“
Die psychologische Fachliteratur nennt „Hemmungsmißbildung“ – oft verbunden mit einem Hang zur Schaulust und dem Hang zu Perversionen – als ein Kennzeichen des psychosexuellen Infantilismus: Wo auf den Trieb statt durch Entsagung oder Sublimierung nur mit rascher Sättigung geantwortet werden kann, werden verantwortungsvolle Liebesbindungen unmöglich.
Auch in diesem Zusammenhang stellt sich längst die Frage nach der Notwendigkeit, die hier wie dort obsolet geworden scheint: Seitdem die Pille Sex ohne Folgen garantiert, sind intimste Kontakte voraussetzungs- und konsequenzlos möglich und scheinen für das außengeleitete Individuum geradezu geboten.
Sexuellen Erlebnissen mangelt es weithin an Größe und Schicksalhaftigkeit, sie sind zum auswechselbaren Spielzeug nur körperlich Erwachsener geworden. Derart erscheint sexuelle Betätigung als profane Gewohnheit, als rein physisches Bedürfnis und unfruchtbarer Ersatz für einen verlorengegangenen Lebenssinn.
Es ist ein vielbeschriebenes Phänomen, daß in unserer Zeit der Allgegenwart des Sexuellen neben der Liebe auch die Lust auf der Strecke bleibt. Wo die Planbarkeit von Kindern nicht nur möglich, sondern nachgerade gefordert ist, ist vom Urgefühl der Zeugungslust erst recht keine Rede.
Apropos Intimbereich: dem fleißigen Saunagänger will sich da noch ein Zusammenhang aufdrängen, der in den Schwitzeinrichtungen seit einiger Zeit nicht mehr nur als exzentrische Mode Einzelner auffällt und von Ottendorf-Okrilla bis Saarbrücken bisweilen als trendiges must der Altersgruppe der Sechzehn- bis Sechsundsechzigjährigen auffällt – die Intimrasur, das Offenlegen der Scham, die coiffeurmäßige Zurückversetzung des Genitalsbereiches in einen vorpubertären Zustand.
„Naja, Kinder…“, seufzt Ina C., 32, auch ungefragt, wenn sie mit jungen Müttern zusammentrifft: „Dazu müßte man erstmal den richtigen Mann finden…“ Das Glück, das die schlanke Werbefachfrau mit dem Püppchengesicht bei Männern hat, hält sich mit dem Pech die Waage.
Ally McBeal galt Ina vor einigen Jahren als Kultursendung und Katja Kullmanns Buch über die „Generation Ally“ las sie mit großer Zustimmung: „Schon erstaunlich, daß ich fast jede Seite dort abhaken konnte und dachte: die beschreibt ja mich!“ Ähnlich fasziniert ist sie vom Pro7-Schlager „Sex and the City“, und kürzlich hatte Freundin und Schicksalsgenossin Biggi, 33, zu einem genüßlichen „Bridget-Jones“-Fernsehabend geladen.
Die pikanten Großstadtgeschichten – TV-Marktanteil regelmäßig etwa 13 Prozent –, die sich vor allem um die kurzweiligen Amouren vierer halbneurotischer Frauen um die 35 drehen, wirken offenbar im hohen Maße identitätsstiftend. Das tragische Dilemma der emanzipierten Frau in der Postmoderne wird hier durch selbstironischen Zweckoptimismus abgefedert. Wir hatten doch beide unseren Spaß, und andere Mütter haben doch auch nette Söhne: so machen die amerikanischen Erfolgsweiber sich Mut, nachdem der mutmaßliche Hauptgewinn in der Männerlotterie sich nach einer Nacht – mit all ihren unangemessenen Intimitäten und programmatischer Entsagungslosigkeit – nicht mehr meldet oder rasch als lebensuntaugliche Niete herausstellt. Das Muster ist so variantenarm, daß es langweilig werden könnte:
1. Phase: Dominanz des lässigen Äußeren mit sämtlichen Accessoires moderner Angesagtheit: der Poseur.
2. Phase: entweder Erkenntnis, daß es bei der einen Nacht bleiben sollte oder die überraschende Einsicht in den „weichen Kern“ des begehrten Mannes: Bindungsproblematik, Kindheitstrauma, allgemeine Versagensängste.
3. Phase: der eben Erwählte erweist sich als Kind, und gerade das wollte man ja nicht haben- oder doch, aber dann mit einem Mann als Vater, bitteschön. Robert Bly, dessen Buch Eisenhans in den neunziger Jahren zur Kultfibel einer neuen Männerbewegung avancierte, bringt das Dilemma in seiner Infantilismusdiagnose auf den Punkt:
Da es immer weniger erwachsene Männer gibt, werden immer mehr Töchter ohne Gegenwart eines erwachsenen Mannes groß, daher wählen sie Partner, die keinem Beispiel der Reife entsprechen.
Für Ina jedenfalls ist nach Jahren des Sich-verschenkens an Blender die Männerpirsch zur Qual geworden.
Bindungsunfähigkeit – seit 1960 ist die Zahl der Single-Haushalte um 500 Prozent angewachsen, um nur eine Zahl zu nennen und den bekannten Anstieg der Scheidungsquoten einmal außer acht zu lassen – ist ein Produkt der vaterlosen Gesellschaft. Vaterlosigkeit und Bindungsscheu sind Ursachen und Resultate des Infantilismus zugleich.
Die selbstgewählte Kinderlosigkeit – und dabei ist es beinahe ein Gemeinplatz, darauf hinzuweisen, daß unser Staat mit Schröder und Fischer von zwei Männern geführt wird, die auf insgesamt acht Ehen gänzlich ohne Nachkommen zurückblicken – ist nur eines, aber ein gewichtiges und folgenschweres Kennzeichen der infantilen Gesellschaft.
Vor allem tut sich hier wiederum, im Verbund mit der noch zu beschreibenden „Vaterlosigkeit“, ein Kreislauf auf: Elternlos aufgezogene Rhesusaffen, so zeigt es der Tierversuch, zeigen später kein Zeugungsverhalten. Nur der Kinderlose kann – und muß, wenn er sich dem Seitenblick aussetzt – die zwanghafte Zwanglosigkeit der infantilen Gesellschaft durchhalten:
Mobilität bis zum modernen Nomadentum, Spontaneität bis zur Orientierungslosigkeit, Dauerspaß bis zum Überdruß. Eine Einübung von „Triebaufschub, Askese verschiedener Härte – und das ist Kultur – ist für ein alleinlebendes Wesen undenkbar, weil sie unnötig wäre“, schrieb Alexander Mitscherlich. Und also:
Wer keine Kinder hat, hat auch kein existentielles Interesse an der Zukunft.
(Norbert Bolz)
Die beiden Kinder von Heike und Gerhard G. sind fast erwachsen. „Und das ist gut so“, meint Heike, da bleibe endlich mehr Zeit für eigene Interessen. Einigermaßen hingebungsvoll sammelt das Ehepaar nun Trucks. Legionen dieser Plastik-LKW, die Markenartikelhersteller seit zwei, drei Jahren als Zugabe und Werbemittel ihren dadurch leicht verteuerten Großpackungen beilegen, schmücken die Wohnung.
Auf den zwei Fernsehern, am Badewannenrand, im Küchenregal: Überall Brummis mit Markenlogo. „Zweiundfünfzig sind es seit heute Nachmittag“, zählt Gerhard, Bankkaufmann, vor: „Das macht schon höllischen Spaß. Mußt dich mal im Internet umschauen – da gibt’s ´nen riesigen Markt für die Dinger.“
Kindisch sei das keinesfalls. Auf den entsprechenden Tauschbörsen in kleinstädtischen Bürgerhäusern würden Erwachsene deutlich überwiegen.
Daß generell die Formensprache der Produktwelt einen Hang zum Kindlichen widerspiegelt, daß Design allenthalben die gefällige Rundung dem rechten Winkel vorzieht, Werbeslogans längst nicht mehr auf Seriosität setzen, ist das eine. Das andere ist der Aufstieg der Marke zum Identitätsfaktor, zu Heimat und Idol.
Ob Sesamstraßen-Poster oder Barbapapa-Bettwäsche: erreicht wird ein wenn auch oberflächlicher Rückzug ins Überschaubare, eine wärmende Erinnerung an die Zeit, als man selbst noch Kind war und liebevoll umsorgt. Deutlich wird diese Art nostalgischer Sehnsucht auch in den zahlreichen, nicht geschichtlich orientierten Retro-Formaten der Fernsehsender.
In Diskotheken mit älterer Zielgruppe überwiegen im Musikangebot die Remakes und Coverversionen: Depeche Mode, The Smiths, Cock Robin – wie damals, Mitte der Achtziger, als die Welt noch kleiner schien und leichter zu überblicken. Zahlen über volljährige Konsumenten von Babynahrung – von deren matschigen Derivaten via Schnellimbiß gar nicht zu reden – liegen nicht vor, aber eigene Beobachtungen über Ernährungsgewohnheiten bestätigen, was der Psychoanalytiker Eduard-Peter Koch anläßlich des Anblicks Hipp-Gläschen löffelnder Erwachsener konstatiert: Sie ergäben via „Babykost und einer angepaßten Meinung“ ein gültiges Abbild einer Gesellschaft, der „der autonome Biß längst abhanden gekommen ist.“
Das ewige Kind: was in Wahrheit nur die Konsequenz des durch sämtliche Instanzen „freigelasssenen“ Menschen ist, möchten Linke lieber unter umgekehrten Vorzeichen interpretieren. „Der moderne Kapitalismus“, stellt Thomas Rothschild fest, „braucht Menschen, die stets erneut nach einer raschen Befriedigung durch Konsum gieren. Deshalb müssen sie zurückversetzt werden in den Zustand von Kindern, die noch nicht gelernt haben, Frustration zu tolerieren.“ So weit, so klar.
Natürlich werden in durchliberalisierten Sozialformen Techniken des Triebverzichts nicht mehr eingeübt – es besteht keine Notwendigkeit. Die utopiebesessene Linke geht freilich noch weiter. Das macht ihr Glauben an den eigentlich mündigen Menschen, der heute durch Großkonzerne und Unterhaltungsindustrie seiner Mündigkeit entledigt werde.
Infantil sei deshalb auch, so Rothschild, die Sehnsucht der Konservativen nach einem starken Staat, nach Ritualen und verbindlichen Orientierungsregeln, wie auch die affirmative Lektüre von Botho Strauß, Armin Mohler und Ernst Jünger den Menschen in seiner selbstgewählten Unreife kennzeichneten. I
m Leiden am von noch bestehenden hierarchisch-patriachalen Strukturen befangenen Menschen denn – so sieht das die marxistische Linke – wird derart der Gärtner zum Bock gemacht.
Helmut K. ist Schriftsteller, der von seinem Beruf gut leben kann. Inspirierte Phasen werden jedoch mit zunehmendem Alter seltener, und so verbringt er beträchtliche Teile seiner Freizeit gemeinsam mit seiner Frau Beatrice an der Play-Station. Beatrice, vierzigjährig wie ihr Gatte, tüftelt oft stundenlang an neuen „Lara-Croft-Levels“.
K., erklärter Mütter- und Kinder-Feind, gibt in seinem „Tagebuch des März 2003“ auch zu, daß das Alter ihn zunehmend „animistischer“ mache: Da gibt es schon mal eine zärtliche Kommunikation mit dem PC-Gehäuse, oder das neue Buch mit dem Lesebändchen wird gewiegt „wie ein Baby mit Nabelschnur“.
Ebenfalls in seinen Tagebüchern schrieb K. gelegentlich von der Verachtung, die er seinen Eltern gegenüber empfindet. Für ihn ist der Vater längst gestorben. Auch das ist bezeichnend.
Das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern ist naturgegeben ein ambivalentes. Vom Dilemma des adoleszenten Jugendlichen sprechen Mythologie, Soziologie und die Psychoanalyse. Anstelle der Wechselwirkung von Vaterhaß und Vaterverehrung ist heute weitgehend die Verachtung des Vaters geblieben – wenn er nicht völlig fehlt, wie immer häufiger in der längst vollgültigen Lebensoption der alleinerziehenden Mutter.
Und welche Mutter hat heute noch Vorbildfunktion? Predigten die Großeltern noch, daß „alles seinen Preis“ habe und daß man nur „auf einer Hochzeit“ tanzen könne, lautete das einzige Gebot der Eltern, selbst noch aufgewachsen in einer normierten Gesellschaft: „Mach, was du willst“.
Durch diese erzieherische Schonkost, so Volker Marquardt, beginne die endlose Suche – das Leben im Nie-angekommen-sein. Eine „ödipale Mauer“ (Bly) als Probe des Sohnes an der Schwelle zum Erwachsenenalter ist nicht mehr in Sicht. Macht und Autorität des Vaters haben sich längst aufgelöst.
Das ist natürlich auch dem Kapitalismus geschuldet, der den Mann zum Lohnsklaven und Konsumenten machte, Wohn- und Arbeitsplatz voneinander trennte, dem Mann austauschbare Aufgaben als Rädchen im Getriebe in Verwaltung oder Fließbandfertigung zuwies.
Durch die Loslösung von traditionell männlichen Aufgaben wurde der Mann, somit genuin funktionslos geworden, auf fatale Weise domestiziert (der „Pantoffelheld“, wie ihn eindrucksvoll und immerhin mit positiver Prognose die Vaterfigur im „Wunder von Bern“ darstellte) und seiner Vorbildrolle für den Sohn ledig.
Das ist die eine Seite. Dazu kommt eine Entwicklung, die der Psychologe Mitscherlich selbst unterstützt hatte: Die Generalverurteilung der Väter jener Generation, für die er schreib, die Auslöschung des Vaters als tragenden Teil der Kriegsgeneration.
Schuld tötet, weiß der Psychologe, und abgesehen von einer rein utopisch wünschbaren „Entfaltung der integrativen Vernunft“, stellte sich für ihn keine Alternative zu solch einem „mythischen Vatermord“ dar. Über den Vatermord sind wir hinaus: längst hat sich der Vater selbst abgebaut.
Wo es an väterlichen Vorbildern mangelt, wo auch Pädagogen, die heutigen „Ersatzväter“, nicht als respektgebietende Mentoren, sondern als autoritätslose Beziehungs- und Kommunikationsmoderatoren agieren, bleiben die Söhne klein.
Die junge Schriftstellerin Malin Schwerdtfeger hat zuletzt dieses Phänomen und psychologische Schema hellsichtig und glasklar in ihrem Kursbuch-Aufsatz „Wir Nutellakinder“ beschrieben: Die Nachkriegsgeneration wollte das „schmutzige Erbe“ der Eltern ausschlagen.
Zwar nahmen sie es „letztendlich doch an – nachdem sie erst abgerechnet hatten, waren sie dann doch wieder bereit, sich auszurechnen, daß es sich mit dem Geld und den Traditionen der Eltern gar nicht so schlecht leben ließ (…) Aber nun gab es eine Scheu, das Erbe weiterzugeben, denn das Erbe war ja eigentlich schmutzig, genau das hatten sie ihren Eltern ja einst vor den Bug geknallt. Und da war noch eine Scheu: die Scheu, Erwartungen in die eigenen Kinder zu setzen, denn gegen diese Art von Erwartungen hatten sie sich doch gerade erst bis aufs Blut gewehrt.“
Schwerdtfegers Fazit über diese Generation ohne Vergangenheit und Zukunft, die Generation der heute Dreißigjährigen: spätentwickelt und gleichzeitig frühvergreist. Das Problem mit Schuldgefühl und Sühnebedürfnis als moralischem Überbau der entväterlichten Gesellschaft aber ist eines der gesamten westlichen Welt.
Postman und Bly sind nicht die einzigen, die deutlich auf die auch in dieser Hinsicht fatale Auswirkung der TV-Massenkultur hingewiesen haben: Die reißerischen Bilder des Elends der Welt im allgemeinen, von Katastrophenmeldungen im besonderen sowie die Unzahl an Talkshows, die den Menschen in seiner niedrigsten Form der Entblößung zeigen, können nicht anders als dem Zuschauer ein Bild der absoluten Ehrlosigkeit des Menschlichen vermitteln.
Wer, selbst wenn die eigene Unschuld längst verloren ist, würde angesichts solcher Schwemme an adulter Würdelosigkeit nicht lieber Kind bleiben? Das Phänomen der political correctness, das im letzten Jahrzehnt die westliche Welt geprägt hat, ist ebenfalls ein deutliches Symptom.
Die Sprache der Väter wird als unrecht und mit Schuld behaftet empfunden und folglich erneuert – mittels eines Rasters von Ausweichmanövern, das eindeutige Zuweisungen stets scheut und diese Vermeidungshaltung zum System erklärt. Auch das ist infantil.
Ralf, 37, inseriert auf den Kontaktseiten eines szenigen Stadtmagazins:
Kleiner Bär sucht Tiger! Uuups, schon Mitte Dreißig – steht jedenfalls in meinem Paß, aber soll ich dem trauen? – und noch immer ohne weibliches Pendant? Wenn Du, ebenfalls junggebliebene 30+ –, möglichst nicht unter 1,75, einen lieben Wirrkopf mit all seinen Widersprüchen und nie abgelegten Widerspruchsgeist zu ertragen – zu schätzen?!? – vermagst und außerdem Spaß hast an abendlichen Inline-Runden, Fantasy (und vielleicht auch mein Faible für Comics teilen oder akzeptieren kannst…), dann gib Dir einen Ruck, trau Dich und sende mir eine SMS an…
Die längst nicht mehr faltenfreien Beamtin, die in der Amtsstube waltet und Urkunden ausstellt, in der Nase ein Ring, auf den Fingernägeln Straßsteinchen und aufgeklebte Herzchen oder der vierzigjährige Filialleiter in Cargo-Pants und bedrucktem T‑Shirt über langärmeligen Pullover: Solche Bilder via Dresscode krampfhaft eingefrorener Jugendlichkeit sind zu alltäglichen Eindrücken geworden.
Als Zisvestismus beschrieb Magnus Hirschfeld seinerzeit eine Erscheinungsform des pathogenen Infantilismus, symptomatisch gefaßt als Neigung zum Tragen von Kinderkleidung im Erwachsenenalter. Diese Störung, beobachtete er, gehe regelmäßig einher mit einer Beibehaltung der seelischen Art des Kindes, teilweise hin bis zu einer „gewissen Verwandtschaft zu leichten Graden des Schwachsinns.“
Erntet die Gymnasiallehrerin, die im T‑Shirt mit fettem Aufdruck „Zicke“ vor ihre Klasse tritt, positive Aufnahme oder ein mildes Lächeln? Wies es die Psychoanalyse noch als gängige Entwicklung nach, daß Kinder das Vorbild ihrer Eltern verinnerlichten und nachahmten, so zeigt sich dieser Vorgang heute in seiner Umkehrung.
Wo bürgerliche Familien im Kaiserreich Herrenanzüge in Kindergröße für den Nachwuchs – den „kleinen Erwachsenen“– maßschneidern ließen, da adaptiert die kindliche Gesellschaft Modeströmungen und – zwänge ihrer jugendlichen Kinder.
Nun könnte man rein quantitativ argumentieren: Wenn die Lebenserwartung im letzten halben Jahrhundert um über 15 Jahre angestiegen ist, mag es eben eine verlängerte Spanne der Jugend geben.
Allein: Jugendwahn und Infantilismus sprengen die überlieferten Altersgrenzen bei weitem. Die Umstände erlauben, Reifungsprozesse allenthalben zu vermeiden. Frühvergreiste Jugendliche stellen Ansprüche, die einem Rentner zukämen, Sechzigjährige lassen chirurgische Hautstraffungen vornehmen, während Sechsjährige im Kindergarten halbwissend „Internationaler Terrorist“ spielen und Vierzehnjährige in der Bild ihre zahlreichen Männergeschichten referieren.
Bände spricht die Kindersendung Radio Kakadu des ansonsten eher infantilismusunverdächtigen Deutschlandradio Berlin über das Unvermögen, Kindgerechtes von Unterhaltungsbedürfnissen Erwachsener zu unterscheiden: Für Grundschulkinder, die die Zielgruppe sein dürften, ist ein annäherndes Verständnis der überdrehten Albernheiten nur unter Moderation eines mithörenden Erwachsenen möglich.
Wie soll erwachsen werden, wer nie als Kind verstanden wurde? Wenn die siebzehnjährige Chiara, Tochter der mondänen Benefiz-Lady Ute Ohoven, ihre Lippen mit Silikon zu annähernder Schlauchbootgröße aufspritzen läßt, dann ist das als Signal in zwei Richtungen zu deuten, die gleichermaßen fatal sind und die des Mädchens altersgemäßen Status als Heranwachsende leugnen: Das Kindchenschema mit einem gierigen Mund, der nach Sättigung durch die Mutterbrust heischt wird ebenso suggeriert, wie die ebenso unangemessene Verheißung sexueller Befriedigungsbereitschaft.
Der Wunsch Mitscherlichs, daß das Faktum der Vaterlosigkeit nicht mehr als lähmender Schrecken wirke, daß es letztlich zur Reifung des Menschen führe – diese Hoffnung auf und der Glaube an Emanzipation findet keine Begründung in der Gegenwart.