Sein und Haben – Notizen aus Deutschlands Mitte

pdf der Druckfassung aus Sezession 7 / Oktober 2004

sez_nr_7Der Osten der BRD heißt Mitteldeutschland: Verliert ein Mensch seinen Unterschenkel, wird er den Oberschenkel künftig kaum „Fuß“ nennen.
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Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Am Tag, als wir Ein­zug hiel­ten in das Dorf, das nun unse­re Hei­mat ist, war fei­er­lich geflaggt. Fah­nen flat­ter­ten an alten Haus­mas­ten und in den Gär­ten. Ein Pferd war dar­auf, und Fer­ra­ri stand dar­un­ter. Irgend­wo hat­te Micha­el Schu­ma­cher gera­de ein Ren­nen gewonnen.
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René, der ehe­ma­li­ge Komi­li­to­ne aus Hei­del­berg, hat die Welt­mee­re bereist und ist, wie man so sagt, auf den Flug­hä­fen der Welt­städ­te zu Hau­se. Den alten Grenz­über­gang von West nach Ost hat er im Jah­re Vier­zehn nach der Ein­heit erst­mals pas­siert. Im Gepäck hat­te er unter ande­rem zwei Dosen Ravio­li. „Ich wuß­te nicht, ob es hier schon alles zu kau­fen gibt“, sag­te er, wäh­rend wir in der Land­metz­ge­rei ein Kilo Rost­brä­ter abhol­ten. Als er wie­der fuhr, nagel­ten wir ihn fest: „Naja. Es ist schon schön hier, wirk­lich. Aber ehr­lich: Ich kann nur im Wes­ten leben.“
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Der Umzug nach Sach­sen-Anhalt sorgt noch heu­te für ver­ständ­nis­lo­ses Kopf­schüt­teln bei den Eltern: „Als hät­tet Ihr nicht alles, hier, bei uns!“. Und doch gab es da mal eine ganz ande­re Stim­mung. 1983, da hat­te die Toch­ter den Luft­bal­lon­wett­be­werb des Klein­gärt­ner­ver­eins gewon­nen. Den Gas­bal­lon der Grund­schü­le­rin aus dem Rhein-Main-Gebiet fand ein gleich­alt­ri­ger Jun­ge aus Mei­nin­gen, die Lokal­zei­tung (West) berich­te­te groß. Eine Ost-West-Brief­freund­schaft ent­stand. Arti­ge Brie­fe wan­der­ten bald im Wochen­takt über die Gren­ze, bald kor­re­spon­dier­ten auch die Eltern. 1986 dann ein sorg­sam geplan­tes ers­tes Fami­li­en­tref­fen auf einer Neben­stra­ße zwan­zig Kilo­me­ter hin­ter Her­le­shau­sen: Hier der Opel aus Offen­bach, da der Tra­bi aus Mei­nin­gen. Die bei­den Zwölf­jäh­ri­gen sehen sich lan­ge ver­le­gen an, die Erwach­se­nen nur kurz, dann fal­len sie sich in die Arme. Sogar die bei­den Män­ner. Bei­de Müt­ter wei­nen, heu­len Rotz und Was­ser, minu­ten­lang. Die Toch­ter zum Vater, bei­sei­te: „Aber ihr kennt euch doch gar nicht!“ Der Vater, lei­se und mit schwim­men­den Augen: „Das sind doch unse­re Brüder…“
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Wir hat­ten ihn ein­fach über, den Wes­ten. Das Glat­te, das Sat­te, das Fer­ti­ge, den sorg­lo­sen Über­fluß, die Pro­blem­chen; die all­über­all geteer­ten Wege, die Städ­te mit ihren Städ­tern, die vom bor­der­line gene­sen aus Lan­ge­wei­le gleich in die qua­ter­li­fe-cri­sis wech­sel­ten; die Sze­nen mit ihren Kul­ten nach­läs­si­ger Cool­ness; die Kin­der­gär­ten mit ihren „offe­nen Kon­zep­ten“ und all den Unver­bind­lich­kei­ten; den Slang der Eloquenz.
Nach Wohl­stand ver­lang­te uns nicht. Den hat­ten wir schon. Wir such­ten einen „Ort“. Am Hori­zont leuch­te­te Mit­tel­deutsch­land, wie wir es schätz­ten von einem Jahr­zehnt Urlaubs­fahr­ten, Wan­de­run­gen, Bekannt­schaf­ten: die unver­dor­be­ne­re Sub­stanz, vier­zig Jah­re weni­ger Bau­boom und Kon­sum­ter­ror; Unver­stell­tes ins­ge­samt, Herz­lich­keit ohne Taxie­rung, Kin­der­gär­ten, in denen Erzie­he­rIn­nen noch Tan­ten hie­ßen, und viel mehr blond als tür­kisch in den Sand­käs­ten. Ein „Wos­si“ wur­de eine Zeit­lang jemand genannt, der als gebür­ti­ger West­ler der Hei­mat den Rük­ken zukehr­te und gen Osten zog: aus nost­al­gi­schem Sen­ti­ment, auf der Suche nach Rest­be­stän­den eines zumin­dest in klei­nen Struk­tu­ren funk­tio­nie­ren­den Sozialismus.
Nein, das war nicht die Sehn­sucht, die uns trieb, das war kein blin­des Hin­weg­se­hen über Armut, Stumpf­heit und Res­sen­ti­ment, die uns auch längst begeg­net waren. Erst recht nicht die Ver­lo­ckung durch das flo­rie­ren­de Nost­al­gie-Ange­bot (Tra­bi, Fil­in­chen, Pit­ti­platsch & Co), der hei­le und begrenz­te Lebens­wel­ten ver­heißt und doch nur als Sze­ne-Acces­soire und T‑Shirt-Auf­druck taugt. Wir fan­den ein Volk, das auf eine bestimm­te Art deut­scher geblie­ben ist als der Wes­ten und das von einem plötz­li­chen Schick­sal gezeich­net erscheint.
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Wäh­rend der Wes­ten sich über den Ver­lust der vier­stel­li­gen Post­leit­zahl erei­fer­te und auf den geplan­ten Aus­bau irgend­ei­nes Auto­bahn­teil­stücks ein­fach ein paar Jah­re län­ger war­ten muß­te, blieb für man­chen Kum­pel aus den Braun­koh­le­lö­chern im Süden Sach­sen-Anhalts kein Stein mehr auf dem ande­ren. Seit der Wen­de haben im Durch­schnitt täg­lich 78 Men­schen das jun­ge Bun­des­land ver­las­sen. Wir lern­ten Män­ner ken­nen, die in zehn Jah­ren vier Mal umschul­ten; die nur noch in der Pha­se des Rück­baus ihrer alten Fabrik für drei Jah­re nach der Wen­de einen Arbeits­platz besa­ßen; die dann Tro­cken­bau lern­ten, wei­ter­ge­reicht wur­den auf eine Schu­le für Alten­pfle­ger, die dann Packer waren für eine Sai­son und irgend­wann in eine ABM rutsch­ten, um mit einem Spa­ten an irgend­ei­ner Land­stra­ße ent­lang Eichen, Eber­eschen oder Oxel­bee­ren ein­zu­pflan­zen. Aber auch das, die­se Arbeit, für die man nichts gelernt haben muß, lag zum Zeit­punkt der Erzäh­lung schon wie­der zwei Jah­re zurück. Und so blick­te auf uns fünf­zehn Jah­re nach dem Zusam­men­bruch das spre­chen­de Gesicht eines Men­schen, der immer noch nicht wuß­te, wie ihm geschah.
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Als jüngst Bun­des­prä­si­dent Horst Köh­ler ein­mal mehr die Ost-West-Kluft zum The­ma mach­te, woll­te man seuf­zen und schimp­fen: Schlecht ver­heil­te Wun­den erneut auf­rei­ßen, muß­te das sein? Und steht das aus­ge­rech­net einem Wes­si zu? Und doch war es die rich­ti­ge Debat­te: Da ist ja noch gar nichts zusam­men­ge­wach­sen. Wie sehr im toten Win­kel der öffent­li­chen Wahr­neh­mung der Osten der Repu­blik sich befin­det, weiß nur, wer hier lebt – und zwar nicht in einer der weni­gen aus­ge­wie­se­nen Boom-Zonen in Sach­sen und Thü­rin­gen, die durch Men­ta­li­tät, Geschich­te und Nach­wen­de­po­li­tik Son­der­rol­len einnehmen.
Gru­sel­sze­na­ri­en trifft an, wer die ent­mensch­ten Plat­ten­bau­land­schaf­ten von Weiß­was­ser oder Hal­le Neu­stadt auf­sucht oder an Bahn­hö­fen aus­steigt, durch deren Decken und Unter­füh­run­gen das Regen­was­ser in die Urin­pfüt­zen der Alko­ho­li­ker tropft. Jour­na­lis­ten und ton­an­ge­ben­de Lite­ra­ten sind an sol­chen Orten des Hartz-IV-Lan­des nur Besu­cher – es woh­nen kei­ne Kor­re­spon­den­ten in Eisen­hüt­ten­stadt oder Brauns­be­dra. Gesen­det oder gedruckt wer­den allen­falls äuße­re Ein­drü­cke, die kras­sen Schlag­lich­ter eben. Das fins­te­re Herz die­ses grau­deut­schen All­tags ist sel­ten beschrieben.
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Da ist die­se Klein­stadt, Mücheln, direkt im Her­zen der alten Ost­zo­ne. Wie die umlie­gen­den Orte und die nahen Städ­te Mer­se­burg und Wei­ßen­fels ist sie rot durch und durch, und das war schon immer so. Bei­na­he immer: Jung­stein­zeit­lich stell­te sie ein bedeu­ten­des Sied­lungs­ge­biet dar, und der­zeit erre­gen die neu­es­ten Fun­de der Archäo­lo­gen gro­ßes Inter­es­se. Das erfährt der Leser über­re­gio­na­ler Zei­tun­gen durch gro­ße Arti­kel. Vor Ort aber inter­es­siert es kei­nen Men­schen. Zu DDR-Zei­ten genoß die Regi­on ein gewis­ses Anse­hen, die Leu­te arbei­te­ten im benach­bar­ten Leu­na oder direkt vor Ort in der Schmier­mit­tel­pro­duk­ti­on – die Speer­spit­ze des Industrieproletariats.
Das letz­te Schmier­mit­tel­werk aber hat vor Jah­ren dicht gemacht, und die Koh­le­gru­ben, die der Land­schaft ein pocken­nar­bi­ges Gesicht geben, wer­den auch dann, falls sie im nächs­ten Jahr­zehnt mit Was­ser befüllt sein soll­ten, nicht die tou­ris­ti­schen Hoff­nun­gen der weni­gen erfül­len, die noch auf die Regi­on Gei­sel­tal setzen.
Es ist ein her­ber Land­strich mit der­ben Men­schen, der­ber Spra­che: das But­ter­brot heißt Bem­me, Hun­ger Gnast, arbei­ten kle­jchen; ein Kind mit vol­len Win­deln hat ein­ge­kackt, etwas mil­der: ein­ge­schus­tert, Adjek­ti­ve wer­den durch urz gestei­gert, und unse­re Fami­lie mit fünf Kin­dern hat urz vie­le Wäns­te zu ernähren.
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Grei­fen wir eine All­tags­sze­ne her­aus, Ort: das Müchel-Cen­ter, Erstel­lungs­jahr 1997, inmit­ten genos­sen­schaft­li­cher Wohn­an­la­gen. Bereits bau­lich stellt der sil­ber­graue Klotz eine gro­tes­ke Fehl­pla­nung dar, der Beton ist längst fle­ckig, die gro­ßen glä­ser­nen Flä­chen stumpf und zer­kratzt, über­all sitzt Schim­mel, und im Innern riecht es sto­ckig und ver­braucht. Der Kom­plex, aus­ge­legt für zehn bis zwölf Laden­ge­schäf­te, beher­bergt seit die­sem Som­mer nur­mehr Pen­ny, Schle­cker, Geträn­ke­la­den, Piz­za-Ser­vice und eine Apo­the­ke. Wie meis­tens ist nur ein Dut­zend der etwa hun­dert­fünf­zig Park­plät­ze belegt, als ein Ford Escort lang­sam vor­fährt, lang­sam, weil das Pflas­ter an vie­len Stel­len hoch auf­ge­sprun­gen und der Wagen tie­fer­ge­legt ist. Das Röh­ren des Sport­luft­fil­ters und die häm­mern­den Bäs­se ver­men­gen sich zu einer Lärm­la­wi­ne. Vor dem Schle­cker läßt der Fah­rer sei­ne Gefähr­tin aus­stei­gen, ein Weib­lein auf Turn­schu­hen mit Zehn-Zen­ti­me­ter-Soh­le und mit der orts­üb­li­chen Haar­tracht in schwarz­rot­gelb, hin­ter­kopfs auf­ge­bauscht und starr fixiert. Ist sie sieb­zehn, ist sie drei­ßig? Die sola­ri­um­ge­gerb­te Haut macht eine Ein­schät­zung schwie­rig. Die Musik wird lau­ter gestellt, nach klei­nem Ein­kauf wird die Fahrt fort­ge­setzt. Fünf­zig Metern wei­ter ent­steigt der Fah­rer selbst, bei lau­fen­dem Motor, und kehrt mit zwei Six­packs zurück. Das Gefährt rum­pelt wei­ter, um vor dem Pen­ny zu hal­ten, direkt bei der Tür, wo kei­ne Park­plät­ze mehr aus­ge­wie­sen sind. Das ist eine klei­ne Macht­ge­bär­de, gerich­tet an die Hand­voll Jugend­li­cher, die hier regel­mä­ßig vor der Ein­kaufs­wa­gen­rei­he lun­gern, rau­chen und hin und wie­der Unver­ständ­li­ches pöbeln. Sie grüßt läs­sig, betritt den Laden; der Ford­mensch aber beginnt ein Gespräch mit einem ande­ren, der ein Hemd mit der Auf­schrift „Über­mensch“ trägt. Als die Dame den Ein­kaufs­markt wie­der ver­läßt, ist der Boden zwi­schen den bei­den Jungs mit Kip­pen über­sät. Man gönnt sich ja sonst nichts.
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Aus Mücheln haben sich in den letz­ten Jah­ren unter ande­rem ver­ab­schie­det: ein Fach­ge­schäft für Gar­di­nen und Kurz­wa­ren, eines für Far­ben und Lacke, ein gut­bür­ger­li­ches Restau­rant, zwei Schuh­lä­den, ein Schreib­wa­ren­ge­schäft, das Wald­bad, das klei­ne Hal­len­bad, die Post­fi­lia­le, die Poli­zei­wa­che, zwei Arzt­pra­xen, einer der drei Kin­der­gär­ten. Und vor allem: die Men­schen. Wer jung ist, vor allem: jung und weib­lich, der geht. Wäh­rend die Genos­sen­schafts­wohn­blö­cke aus den fünf­zi­ger Jah­ren zum grö­ße­ren Teil noch bewohnt sind, ste­hen die klei­nen Häu­ser in der schmu­cken Alt­stadt weit­ge­hend leer und ver­fal­len, das Was­ser­schlöß­chen ver­kommt mit jedem unbe­wohn­ten Win­ter mehr zur Rui­ne, im präch­ti­gen Rat­haus mit dem Festraum las­sen sich nur noch sel­ten Lie­ben­de trauen.
Was hin­zu­ge­kom­men ist: Zwei Son­nen-Stu­di­os, zwei wei­te­re Super­märk­te (zu den vier bereits bestehen­den), ein Döner-Imbiß, ein Snack-Point, ein Asia Home-Ser­vice und ein Geträn­ke­stütz­punkt, der von früh bis in die Nacht den Alko­ho­li­kern Ori­en­tie­rung bie­tet und sicht­bar an Zulauf gewinnt. Der Bahn­hof außer­halb des Stadt­zen­trums ist in einem Zustand, der west­lich der alten Gren­ze nicht vor­stell­bar ist und dort Bür­ger­initia­ti­ven auf den Plan rufen wür­de, längst bevor der Ver­fall wirk­lich greif­bar wäre: sämt­li­che Fens­ter­schei­ben sind zer­bors­ten, die Scher­ben lie­gen noch zwi­schen dem Dreck der letz­ten Jah­re und den Lachen, die nie aus­trock­nen. Von der Decke hängt in Lap­pen die abplat­zen­de bil­li­ge Disper­si­ons­far­be, wie auch sonst alles in Auf­lö­sung erscheint; über­all brö­ckelt es, der Putz, die Trep­pen zum Bahn­steig, und selbst die Über­da­chung an den Glei­sen wirkt, als kön­ne sie den nächs­ten Sturm nicht über­ste­hen. Wer unter den Res­ten einer Bahn­steig­über­da­chung war­tet, hat stän­dig das Gefühl, daß hier kein Zug je hal­ten werde.
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Das pas­si­ve Hin­neh­men von Miß­stän­den ist etwas, an das sich der Zuge­zo­ge­ne aus dem Wes­ten schwer gewöh­nen kann, selbst wenn ihm die Berufs­auf­be­geh­rer, Dau­ern­örg­ler und Näsel­stim­men: die Bes­ser­wes­sis eben die hei­mi­sche West-Stadt­at­mo­sphä­re mit ihren Indi­vi­du­al­al­lü­ren ver­dor­ben hat­ten. Aber hier: Ob es der Dorf­kin­der­gar­ten ist, der geschlos­sen wer­den soll, ob es die schlam­pig ver­leg­te Kana­li­sa­ti­on ist, die die Klein­stadt bei jedem Nie­der­schlag mit Fäkal­ge­ruch über­zieht oder der Schul­bus, der auf­grund Fehl­pla­nung oder Igno­ranz zwei Dör­fer am Nach­mit­tag nicht mehr anfährt – man dul­det es still oder nör­gelt nur leise.
Dies war nicht immer so. Und die Dorf­fes­te, die ordent­li­chen Fas­sa­den und Innen­hö­fe, die Haus­schlach­tung bewei­sen, daß zuge­packt, orga­ni­siert, geord­net, geplant wird, daß die Din­ge gelin­gen kön­nen und daß für den Ort und den Nach­barn mit­ge­dacht wird. Auf­fäl­lig ist, daß alles, was vom Staat oder vom Wes­ten kommt, in einer Mischung aus Resi­gna­ti­on, tief­sit­zen­der Ent­täu­schung und einem Rest­chen Trotz ange­spro­chen, aber nie ange­gan­gen, geschwei­ge denn begrüßt wird. Man nimmt hin, biegt ab, ver­schiebt. Dabei war der Vor­schuß an Ver­trau­en, den jeder Mit­tel­deut­sche den West­lern, dem neu­en Sys­tem ent­ge­gen­brach­te, groß genug auch für ein­zel­ne Ent­täu­schun­gen. Es ist aber wohl zuviel vor­ge­fal­len, viel zu viel.
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Als 1989 die Mau­er fiel, war das in den boden­see­na­hen Gemein­den Ober­schwa­bens für man­che Leu­te nicht wich­ti­ger oder inter­es­san­ter als das neue Kino­pro­gramm. Die ers­ten Tra­bis erreich­ten Ravens­burg irgend­wann kurz vor Weih­nach­ten. Der Anblick der Pap­p­au­tos ließ bei einem gewitz­ten Nichts­nutz, bei einem der weni­gen Lun­ge­rer der Stadt, eine Geschäfts­idee rei­fen. Er bestieg einen alten Mer­ce­des, fuhr weit nach Sach­sen hin­ein und ver­kauf­te ihn für das Dop­pel­te des Prei­ses, den er selbst bezahlt hat­te. Bald fuh­ren sei­ne Freun­de Kon­voi. Klar war: Es gab kei­ne Stamm­kund­schaft, Orte, in denen ein­mal ver­kauft wur­de, mied der Troß zukünf­tig. Wie vie­le gut­gläu­bi­ge Ossis nach ein paar hun­dert gefah­re­nen Kilo­me­tern vor einem kaput­ten Motor, einem abge­fal­le­nen Aus­puff oder einem geplatz­ten Küh­ler stan­den, inter­es­sier­te den Geschäfts­mann nicht. Sei­ne Erzäh­lun­gen hat­ten ihren Höhe­punkt eben stets dort, wo er von sei­nen Fin­ten und den dum­men Käu­fern sprach.
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Sol­che Erobe­rer mag es zu Tau­sen­den gege­ben haben in den Mona­ten und Jah­ren nach der Wen­de. Sie alle haben den Kre­dit ver­spielt, den die Men­schen aus den neu­en Län­dern gewähr­ten. Und von einer grund­sätz­li­chen Undank­bar­keit oder Erwar­tungs­hal­tung kann in Mit­tel­deutsch­land kei­ne Rede sein. Jeder sieht die neu­en Stra­ßen, die Reno­vie­rungs­leis­tun­gen in alten Städ­ten, die Gewer­be­ge­bie­te längs der A4, die Bemü­hun­gen, über ABM-Stel­len doch einen Pro­zent­satz der Arbeits­lo­sen sinn­voll zu beschäftigen.
Was die Leu­te jedoch nicht kann­ten, war die Taxie­rung des Gegen­übers nach sei­ner Kauf­kraft, sei­nem Gehalt, sei­ner Nütz­lich­keit, sel­ber an ihm und über ihn hin­weg noch eine Mark zu ver­die­nen. Die Ein­tei­lung der Ande­ren in Grup­pen unter­schied­li­cher Kon­sum­fä­hig­keit war neu, eben­so neu wie die alles domi­nie­ren­de Bewer­tung des Men­schen über sei­ne Fähig­keit, teu­re Trends in Klei­dung, Fri­sur, Auto, Innen­ein­rich­tung und Urlaub mit­ma­chen zu kön­nen. Eine Schock­the­ra­pie brach­te den Sach­sen und Thü­rin­gern, den Bran­den­bur­gern, Pom­mern und Anhal­ti­nern bei­de Leh­ren bei.
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Die Gläu­big­keit in den Wes­ten als dem guten Lehr­meis­ter ist längst ver­schwun­den. In unse­rem Dorf wohnt einer, der bin­nen weni­ger Jah­re von einem guten, bei­na­he stol­zen Arbei­ter zu einem grau­ver­fal­le­nen Alko­ho­li­kern gewor­den ist, weil ihm außer einer Kon­sum­bei­hil­fe kein Lebens­sinn mehr ange­bo­ten wur­de. Zurück­ge­kehrt ist längst die dem Men­schen gemä­ße Erkennt­nis, daß nicht jeder allei­ne, selb­stän­dig wei­ter­zu­kom­men ver­mag. Sinn­voll zu leben auch ohne dickes Gehalt, viel­leicht sogar ohne Aus­sicht auf regel­mä­ßi­ge Arbeit: Die klei­nen Dör­fer Mit­tel­deutsch­lands sind Expe­ri­men­tier­kü­chen für sol­che Fra­ge­stel­lun­gen, Expe­ri­men­tier­kü­chen frei­lich, die nichts theo­re­tisch auf­ar­bei­ten, son­dern alles prak­tisch ange­hen und dem Wes­ten an Erfah­rung mei­len­weit vor­aus sind.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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