Huntington sieht nun aber den Multikulturalismus als Teil einer Dekonstruktion der nationalen Identität, die durch multiple Identitäten abgelöst werden soll. Allerdings sei der traditionelle Patriotismus immer noch stark im Volk verwurzelt. Seine nachhaltige Wiederbelebung, wie nach dem 11. September 2001, hält er jedoch nur dann für wahrscheinlich, wenn es zu weiteren schweren Krisen oder Kriegen kommt, weil sich die eigene Identität in Abgrenzung gegen einen Feind leichter herstellen lasse. Der 2. Weltkrieg habe so, wie Nathan Zuckerman, der Erzähler in Philip Roths Roman Mein Mann der Kommunist, betont, „die Wirklichkeit des Mythos eines Nationalcharakters“ bestätigt, an dem alle teilhaben sollten. Subnationale Identitäten waren damit verglichen weniger wichtig: „Ich war ein jüdisches Kind, kein Zweifel, doch ich interessierte mich nicht dafür, am jüdischen Charakter teilzuhaben. Ich wußte nicht einmal genau, was das sein sollte. Ich wollte es nicht einmal besonders genau wissen. Ich wollte am Nationalcharakter teilhaben.“
Zwar gebe es auch anderswo auf der Welt Diskussionen zum Thema nationale Identität, so Huntington, doch ist das Identitätsproblem Amerika einzigartig. Amerika habe durch die meist anglo-protestantischen Siedler des 17. und 18. Jahrhunderts entscheidende Prägungen erhalten – die durch die in späteren Wellen in das Land kommenden Einwanderer in starkem Maße übernommen wurden. (Ob sich die gegenwärtige ungebremste Einwanderung aus Lateinamerika ebenfalls in dieses Muster fügen wird, ist noch offen, die Beweislage gemischt – Huntington nährt indes mit guten Gründen Skepsis, weil er etwa in der Infragestellung des Englischen als einziger Landesprache durch die wachsende Bedeutung des Spanischen eine gegenüber früher völlig neue Situation erkennt.)
Die zentrale Bedeutung dessen, was Gunnar Myrdal den „American Creed“, das amerikanische Glaubensbekenntnis, genannt hat, ergibt sich aus einem Faktum, das Richard Hofstadter einmal prägnant auf die Formel brachte: Amerika habe das Schicksal, keine Ideologie zu haben, sondern selbst eine zu sein („It has been our fate as a nation not to have ideologies, but to be one“). Amerika ist also eine ideologische Nation, was rein deskriptiv zu verstehen ist – der Nationsbegriff ermöglicht Identität, indem man sich zu ihm bekennt. Es handelt sich bei dieser Ideologie des Amerikanismus um eine Art politischer Religion, eine Zivilreligion, weshalb bereits Ralph Waldo Emerson festhielt, Amerikaner zu werden sei ein religiöser Akt. Weil die Vereinigten Staaten nicht so sehr Abstammungsgemeinschaft als vielmehr Bekenntnisgemeinschaft sind, spielen nationale Symbole, allen voran die Flagge, in der zivilreligiösen Liturgie eine besondere Rolle – weshalb die Flagge, nicht der Boden, als heilig zu schützen ist.
Für Amerikaner ist ihre nationale Identität deshalb im Gegensatz zu vielen anderen Nationen nicht an einen bestimmten Boden geknüpft, die nationale Identität ist nicht im eigentlichen Sinne verortet. Die Amerikaner haben daher auch von Anfang keine intensiven Bindungen an einen bestimmten Ort entwickelt, denn die politischen Institutionen, nicht ein bestimmter Ort, eine Heimat, machen das Land aus, das Vereinigte Staaten von Amerika heißt.
Die Ideen, die für Amerika zentral sind, beschreibt Seymour Martin Lipset so: Freiheit, Egalitarismus (Gleichheit aller Menschen), Individualismus, Populismus und Laissez-faire. Diese Ideen, auf denen politisch die demokratische Republik ruht, prägen das Land und seine Leute nach wie vor, auch wenn man nicht übersehen darf, daß es stets auch konkurrierende Entwürfe des American way of life gab und gibt, die sich nicht über einen Kamm scheren lassen. Die individualistische Orientierung scheint auch im Recht auf das Streben nach Glück (pursuit of happiness) auf, das stets die Möglichkeit des Scheiterns einschließt. Die Freiheitsorientierung der Amerikaner kommt darin zum Ausdruck, daß sie dies von ihrer Mentalität her viel eher zu akzeptieren bereit sind als zum Beispiel viele Deutsche. Vor die Alternative Freiheit mit Chancen oder Sicherheit gestellt, wählen die allermeisten Amerikaner die Freiheit. Es ist nicht der Staat, der ihnen das Glück zu garantieren hat.
Aus den politisch-philosophischen und religiös- kulturellen Prinzipien Amerikas ergeben sich auch jene von Kulturkritikern oft überaus beredt beklagten Mißstände. Scheinbar widersprüchliche Aspekte Amerikas sind aber in Wirklichkeit eng miteinander verwoben, weil sie aus den gleichen Prinzipien hervorgehen. Die Vereinigten Staaten sind deshalb einzigartig (was nicht heißt: besser), doch ist diese Einzigartigkeit ein zweischneidiges Schwert (Seymour Martin Lipset): Amerika ist sowohl das Beste wie das Schlechteste, je nachdem, welchen Aspekt man betrachtet. Es ist das religiöseste, optimistischste, patriotischste, das am meisten an Rechten orientierte und das individualistischste Land, zugleich aber auch das Land mit den höchsten Kriminalitätsraten, den meisten Gefängnisinsassen und den meisten Rechtsanwälten pro Kopf der Bevölkerung in allen Ländern der Erde. Positive und negative Aspekte stellen häufig lediglich die beiden Seiten derselben Medaille dar, weshalb es das eine ohne das andere kaum geben kann. Nicht zuletzt sind die großen Unterschiede in der Einkommensverteilung auch Ausdruck einer tief verwurzelten Bereitschaft, die ungleichen Resultate einer zumindest dem Anspruch nach gleichen Freiheit zu akzeptieren, zumal der Stolz auf die eigene Arbeit unter den identitätsstiftenden Faktoren sehr hoch anzusetzen ist. Schon im Federalist (Nr. 10) wird die Aufgabe der Regierung darin gesehen, den ungleichen Fähigkeiten (faculties) der Menschen beim Erwerb von Eigentum den staatlichen Schutz zu gewähren. Gleichheit im amerikanischen Sinne ist prinzipiell als politische, nicht sozioökonomische Gleichheit gedacht (obwohl der Erfolg von ideologischen Theorien der Gerechtigkeit à la Rawls die wenn auch schwache Präsenz einer sozialdemokratischen Tendenz anzeigt – was zugleich eine Warnung darstellt, nicht zu einem allzu schrecklichen Vereinfacher zu werden).
Amerikas Identität, die Gültigkeit seiner Gründungsideen, stand immer im Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit; am spürbarsten wurde dies bei der sogenannte Rassenfrage. Gerade weil Amerika das am meisten moralistische Land der entwickelten Welt ist, rückt der normative Anspruch der eigenen Ideen mit besonderer Schärfe ins Bewußtsein – aber noch die Kritik an der mangelnden Verwirklichung dieser Ideen im Namen eben dieser Ideen beweist die anhaltende Wirkungsmächtigkeit der ideologischen Vision des „amerikanischen Traumes“.