Neomarxismus und Globalisierung

pdf der Druckfassung aus Sezession 5 / April 2004

sez_nr_5von Michael Wiesberg

„Es ist auf jeden Fall ein kommunistisches Buch.“ Mit diesen Worten charakterisierte der US-Literaturwissenschaftler Michael Hardt in einem Interview das Buch Empire, das er zusammen mit dem italienischen Politikwissenschaftler Antonio Negri herausgegeben hat.

Eine Rei­he von Kri­ti­kern mein­te, hier ein neu­es lin­kes Kult­buch, eine Art Kom­mu­nis­ti­sches Mani­fest unse­rer Zeit aus­ma­chen zu kön­nen. Die Viel­zahl der Semi­na­re, Work­shops und Dis­kus­sio­nen zu Empire, wie sie bei­spiels­wei­se auf den Inter­net­sei­ten der PDS-nahen „Rosa-Luxem­burg-Stif­tung“ auf­ge­lis­tet ist, scheint das zu bestä­ti­gen: Sel­ten wur­de einem Buch über die Glo­ba­li­sie­rung der­ar­tig viel Auf­merk­sam­keit zuteil. Sei­tens ortho­do­xer Mar­xis­ten gab es aller­dings eine Rei­he von kri­ti­schen Ein­las­sun­gen. David May­er, Redak­teur des mar­xis­ti­schen öster­rei­chi­schen Theo­rie­or­gans Der Fun­ke, woll­te in einer Bespre­chung nicht mehr als einen „Zir­kus­rei­gen post­mo­der­ner Platt­hei­ten“ erken­nen. Und Deutsch­lands bekann­tes­ter Kri­sen­theo­re­ti­ker, der Nürn­ber­ger Mar­xist Robert Kurz, 1999 mit dem volu­mi­nö­sen Schwarz­buch Kapi­ta­lis­mus her­vor­ge­tre­ten (sie­he in die­sem Heft S. 56 – 57), nann­te Empire kurz und knapp ein „mise­ra­bles Buch“. Sol­che Stim­men blie­ben aller­dings – nicht nur in Deutsch­land – die Ausnahme.
Die­ser Befund führt zu der Fra­ge, wel­che Erkennt­nis­se gera­de das Buch von Hardt und Negri aus der inzwi­schen lan­gen Rei­he neo­mar­xis­tisch inspi­rier­ter Glo­ba­li­sie­rungs­kri­tik her­aus­he­ben? Was genau macht die­ses Buch zu einem „kom­mu­nis­ti­schen Buch“, wie es Hardt aus­drück­te? Und: Sind die The­sen von Hardt und Negri über­haupt plausibel?
Der Begriff „Empire“ löst Asso­zia­tio­nen mit dem Römi­schen Reich oder dem bri­ti­schen Empire aus. Die­se Asso­zia­tio­nen gehen aller­dings an den­je­ni­gen Phä­no­me­nen, die Negri und Hardt mit dem Begriff Empire kenn­zeich­nen, vor­bei. Sie wol­len eine neue Form von „Sou­ve­rä­ni­tät“ beschrei­ben, die nach ihrer Auf­fas­sung durch „eine ein­zi­ge Herr­schafts­lo­gik“ gekenn­zeich­net ist. Die hier­aus ent­stan­de­ne Herr­schafts­in­stanz, das Empire, kann als eine Art gigan­ti­sches Netz­werk ver­stan­den wer­den, das alle öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen auf die­ser Erde erfaßt. Der Begriff Netz­werk impli­ziert, daß es kein Zen­trum mehr gibt. Und da die­ses Netz­werk glo­ba­le Aus­ma­ße hat, gibt es auch kein Außen mehr. Hier liegt eine Ant­wort auf die ein­gangs gestell­te Fra­ge, wor­in der Unter­schied von Empire im Ver­gleich zu mar­xis­ti­schen Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­ken liegt, die in der Regel zwi­schen Zen­trum und Peri­phe­rie unter­schei­den. In dem Netz­werk, das Hardt und Negri als Empire vor­stel­len, gibt es nur noch „Kno­ten“ der Macht­kon­zen­tra­ti­on. Ein Bei­spiel hier­für sei­en die USA. Die­se hät­ten „eine pri­vi­le­gier­te Rol­le“, stell­te Micha­el Hardt in einem Inter­view mit der Jun­gen Frei­heit fest und prä­zi­sier­te sei­ne Fest­stel­lung dahin­ge­hend, daß die­se als „Mon­arch in einer Adels­re­pu­blik“ bezeich­net wer­den könn­ten – „die Adli­gen, das wären die euro­päi­schen und die kapi­ta­lis­ti­schen asia­ti­schen Staaten“.

Die poli­ti­schen Akteu­re han­deln nicht mehr frei, son­dern wer­den von den glo­bal ver­netz­ten Mecha­nis­men deter­mi­niert. Das Empire len­ke aber nicht nur den poli­tisch Han­deln­den, son­dern jedes Indi­vi­du­um. Die­se neu­ar­ti­ge Struk­tur der Herr­schaft, die als „Netz­werk von Netz­wer­ken“ bezeich­net wer­den kann, gehe mit der „Ver­wirk­li­chung des Welt­mark­tes und der glo­ba­len reel­len Sub­sum­ti­on der Gesell­schaft unter das Kapi­tal Hand in Hand“. Im Gegen­satz dazu sei die Welt der Natio­nal­staa­ten und der mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­den Impe­ria­lis­men dar­auf aus­ge­rich­tet gewe­sen, „dem Kapi­tal in sei­ner Pha­se glo­ba­ler Erobe­rung zu Diens­ten zu sein und sei­ne Inter­es­sen zu ver­tre­ten“. Die­se Welt war aller­dings durch kla­re Grenz­zie­hun­gen defi­niert, die den frei­en Fluß des Kapi­tals, der Arbeits­kraft wie der Waren und damit die vol­le Ent­fal­tung des Welt­mar­kes blo­ckier­ten. Heu­te, in Zei­ten des „Empires“, habe das Kapi­tal einen „glat­ten Raum“ geschaf­fen. Mit dem Begriff „glat­ter Raum“ ist weni­ger das Zurück­tre­ten der Bedeu­tung der Natio­nal­staa­ten und ihrer Ein­fluß­zo­nen gemeint, als viel­mehr das all­mäh­li­che Ver­schwin­den der Ein­tei­lung in Ers­te, Zwei­te und Drit­te Welt oder: in Zen­trum und Peri­phe­rie. Die Zwei­te Welt sei ver­schwun­den, so dekre­tie­ren Hardt und Negri. Wir beob­ach­te­ten heu­te, wie die Drit­te die Ers­te Welt infil­trie­re. Die Ers­te schie­be sich im Gegen­zug mit­tels Akti­en­kur­sen, mul­ti­na­tio­na­ler Kon­zer­ne oder Ban­ken in die Drit­te Welt. Das alte Mus­ter von Zen­trum und Peri­phe­rie sei des­halb hin­fäl­lig, mei­nen Negri und Hardt, weil sie sich ein­an­der ange­nä­hert hätten.
Die Theo­rie, die Hardt und Negri ent­fal­ten, macht eine Rei­he von Anlei­hen bei dem soge­nann­ten „Ope­rais­mus“, der in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren bei der ita­lie­ni­schen Lin­ken Kon­junk­tur hat­te. Anto­nio Negri war einer der intel­lek­tu­el­len Expo­nen­ten des Ope­rais­mus, des­sen Faden er nun wei­ter­spinnt. Der Ope­rais­mus baut auf der Grund­the­se auf, daß die Kämp­fe der Arbei­ter­klas­se als Motor der kapi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lung zu inter­pre­tie­ren sei­en. Die dar­aus resul­tie­ren­den Ver­än­de­run­gen des Kapi­ta­lis­mus ver­sucht der Ope­rais­mus theo­re­tisch ein­zu­ho­len. Lei­tend ist bei die­sem Ver­such der Gedan­ke, daß sich „die Fabrik“ in die Gesell­schaft aus­deh­ne, umge­kehrt aber auch die Gesell­schaft in „die Fabrik“ ein­drin­ge. Ein heu­ris­ti­sches Ana­ly­se­kri­te­ri­um, mit dem die­se Ent­wick­lung erfaßt wird, ist die soge­nann­te „rea­le Sub­sum­ti­on“, die im Gegen­satz zur „for­ma­len Sub­sum­ti­on“ steht. Wie oben bereits erwähnt, eta­bliert das Empire im Gegen­satz zum Impe­ria­lis­mus kein ter­ri­to­ri­al fixier­ba­res Macht­zen­trum und fixe Gren­zen. Es ist dezen­triert und deter­ri­to­ri­a­li­siert. Die gren­zen­lo­se Herr­schaft des Empire bestimmt die neue Struk­tur des glo­ba­len Rau­mes. Die­ser uni­ver­sa­len Aus­deh­nung im Raum liegt der – bereits von Karl Marx beschrie­be­ne – Über­gang von der for­mel­len zur rea­len Sub­sum­ti­on der Gesell­schaft unter das Kapi­tal zugrun­de. War die for­mel­le Sub­sum­ti­on noch dadurch bestimmt, daß das Kapi­tal Hege­mo­nie gegen­über der gesell­schaft­li­chen Pro­duk­ti­on aus­üb­te, trotz­dem aber zahl­rei­che Pro­duk­ti­ons­pro­zes­se ihren Aus­gangs­punkt außer­halb des Kapi­tals hat­ten, so gibt es in der Pha­se der rea­len Sub­sum­ti­on ein Außen gegen­über dem Kapi­tal nicht mehr. Jeg­li­cher Pro­duk­ti­ons­pro­zeß ent­springt dem­nach dem Kapi­tal selbst; die Pro­duk­ti­on und Repro­duk­ti­on des Sozia­len fin­det ergo inner­halb des Kapi­tals statt.

Die „imma­te­ri­el­le Arbeit“ ist die mate­ri­el­le Basis der „Multi­tu­de“ in der Wirt­schaft. Der Begriff „Multi­tu­de“ kann als „gro­ße Zahl“, „Viel­heit“ oder schlicht als „die Men­ge“ über­setzt wer­den und geht auf den jüdi­schen Phi­lo­so­phen Baruch de Spi­no­za zurück. Die­se basis­de­mo­kra­ti­sche Bewe­gung der „Multi­tu­de“ ste­he, so Negri und Hardt, in stän­di­gem Dia­log und in stän­di­ger Koope­ra­ti­on mit­ein­an­der. Der post­mo­der­ne Kapi­ta­lis­mus sei durch „imma­te­ri­el­le Arbeit“ gekenn­zeich­net, die durch Para­me­ter wie Wis­sen, Kom­mu­ni­ka­ti­on, koope­ra­ti­ves Arbei­ten und Affek­te bestimmt ist.
Es gibt drei Typen imma­te­ri­el­ler Arbeit, die den Dienst­leis­tungs­sek­tor an die Spit­ze der infor­ma­tio­nel­len Öko­no­mie beför­der­ten: Der ers­te Aspekt betrifft den Infor­ma­ti­ons­fluß zwi­schen der Fabrik und dem Markt. Im for­dis­ti­schen Modell gibt es eine „stil­le“ Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem Markt. Es wird eine gro­ße Anzahl glei­cher Pro­duk­te pro­du­ziert, die dann auf dem Markt abge­setzt wer­den müs­sen. Dem­ge­gen­über baut das Pro­duk­ti­ons­sys­tem von Toyo­ta auf der Infor­ma­ti­sie­rung der Fabrik auf. Der Kun­de wird bei einem der­ar­ti­gen Sys­tem nicht auf die Wahl zwi­schen ver­schie­den­far­bi­gen End­pro­duk­ten beschränkt, son­dern kann einen Toyo­ta in den ver­schie­dens­ten For­men, Far­ben und Aus­stat­tun­gen kau­fen. Ent­spre­chend wird das Pro­dukt erst dann pro­du­ziert, wenn es der Kun­de gekauft hat. Idea­ler­wei­se geschieht dies auch noch ohne nen­nens­wer­te Lager­be­stän­de. Ent­schei­dend ist die schnel­le Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Pro­duk­ti­on und Konsumption.
Der zwei­te Aspekt beschreibt die Art und Wei­se der elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on. Von den heu­ti­gen Arbeits­kräf­ten wird ver­langt, daß sie mit den neu­en Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien umge­hen kön­nen. Das betrifft nicht nur Beru­fe, die direkt mit Rech­nern zu tun haben, son­dern im Prin­zip alle mög­li­chen Arbeits­plät­ze. Der Pro­zeß der Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung schafft einer­seits neue krea­ti­ve Arbeits­plät­ze (Pro­gram­mie­rer, Web­de­si­gner und ande­re). Auf der ande­ren Sei­te gibt es das Heer der „Daten­pfle­ger“, die vor allem mit ein­fa­cher Daten­ein­ga­be beschäf­tigt sind. Bei­den Grup­pen ist gemein­sam, daß ihre Pro­duk­te Infor­ma­ti­on und Sym­bo­lein­ga­be sind.
Der drit­te Aspekt ist die affek­ti­ve Arbeit. Affek­ti­ve Arbeit sei heu­te nicht nur direkt pro­duk­tiv für das Kapi­tal, son­dern bil­de „die Spit­ze in der Hier­ar­chie der Arbeits­for­men“, behaup­te­te Micha­el Hardt in einem Bei­trag für die Zei­tung Jungle World. Affek­ti­ve Arbeit, also mensch­li­che Inter­ak­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on spielt heu­te in ver­schie­de­nen Berei­chen eine gro­ße Rol­le, vom fast-food-Betrieb bis zu den Finanz­dienst­leis­tern. Selbst bei eher nach­ran­gi­gen Arbeits­plät­zen wird immer grö­ße­rer Wert auf die sozia­len und kom­mu­ni­ka­ti­ven Fähig­kei­ten gelegt. Die­se affek­ti­ve Arbeit habe es immer gege­ben, aber außer­halb des Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­ses durch das Kapi­tal und daher „wert­los“. Die Pro­duk­ti­on von Affek­ten wird direkt zum Pro­dukt, zur Ware.

Die imma­te­ri­el­le Arbeit bewirkt, daß das Gan­ze der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se pro­duk­tiv wird. Das wirft für die kapi­ta­lis­ti­sche Aneig­nung Legi­ti­ma­ti­ons­pro­ble­me auf, sie ist abhän­gig von der Kom­mu­ni­ka­ti­on, der Krea­ti­vi­tät, den sozia­len und mensch­li­chen Bezie­hun­gen der leben­di­gen Arbeit. Die Arbei­ten­den brau­chen das Kapi­tal eigent­lich nicht mehr: „Gehir­ne und Kör­per brau­chen ande­re, um Wert zu pro­du­zie­ren, aber die­se ande­ren wer­den nicht not­wen­di­ger­wei­se vom Kapi­tal und sei­nen Fähig­kei­ten, die Pro­duk­ti­on zu orches­trie­ren, zur Ver­fü­gung gestellt. Heu­te nimmt Pro­duk­ti­vi­tät, Reich­tum und die Schaf­fung sozia­len Mehr­wer­tes Form an durch die koope­ra­ti­ve Inter­ak­ti­vi­tät mit Hil­fe sprach­li­cher, kom­mu­ni­ka­ti­ver und affek­ti­ver Netz­wer­ke. Im Aus­druck der eige­nen krea­ti­ven Ener­gien scheint uns die imma­te­ri­el­le Arbeit das Poten­ti­al für eine Art spon­ta­nen und ele­men­ta­ren Kom­mu­nis­mus zur Ver­fü­gung zu stel­len“. Stand im Zen­trum des For­dis­mus das Fließ­band, ist es im Infor­ma­ti­ons­zeit­al­ter das Netz­werk. Die Pro­duk­ti­on ist weni­ger an Orte gebun­den und ten­diert dazu, sich über die gan­ze Welt zu ver­tei­len. Da vie­le Pro­duk­te imma­te­ri­ell sind, rela­ti­viert sich auch das Pro­blem des Trans­ports. Infor­ma­ti­on, um ein Bei­spiel zu nen­nen, läßt sich inner­halb von Sekun­den von der einen Sei­te des Erd­balls auf die ande­re verschieben.
Negri und Hardt behaup­ten, daß das Empire die Sub­jek­te, die es für die Erzeu­gung sei­ner Wert­schöp­fun­gen und für die Erhal­tung der Macht brau­che, erzeu­ge und for­mie­re. Das Empire ist also nicht nur eine Herr­schafts- und Wirt­schafts­form, son­dern ein umfas­sen­der Welt­ent­wurf. Die Autoren spre­chen in Anknüp­fung an den fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen Michel Fou­cault von einem „bio­po­li­ti­schen Cha­rak­ter des neu­en Macht­pa­ra­dig­mas“. Des­sen Herr­schafts­aus­übung wird als „Bio­macht“ bezeich­net. Herr­schaft kön­ne dann am effek­tivs­ten aus­ge­übt wer­den, wenn alle Para­me­ter, die für das Leben kon­sti­tu­tiv sei­en, beein­flußt wer­den kön­nen. „Die per­fek­te Form der Herr­schaft“ besteht nach Hardt dar­in, „Gesell­schaft zu gene­rie­ren, oder, wie das US-Mili­tär es aus­drückt, eine full-spec­trum-domi­nan­ce zu errei­chen“. Für die­se per­fek­te Form der Herr­schaft ste­he das Empire, des­sen Wert­vor­stel­lun­gen, Vor­ga­ben und Macht­struk­tu­ren alle Men­schen ver­in­ner­licht haben sollen.
Fou­cault kenn­zeich­ne­te mit Bio­macht den Über­gang von der Dis­zi­pli­nar- zur Kon­troll­ge­sell­schaft. War die Dis­zi­pli­nar­ge­sell­schaft durch die Eta­blie­rung dis­zi­pli­nä­rer Ver­nunft in Form von Insti­tu­tio­nen wie dem Gefäng­nis, der Fabrik, dem Heim, der Schu­le gekenn­zeich­net, ist die Kon­troll­ge­sell­schaft durch demo­kra­ti­sier­te und inter­na­li­sier­te Herr­schafts­me­cha­nis­men gekenn­zeich­net. Zuge­spitzt könn­te man sagen, daß die­ser Gesell­schafts­typ durch Kon­trol­le der Köp­fe und Orga­ni­sa­ti­on der Kör­per funk­tio­niert. Hardt und Negri spre­chen – in direk­ter Anknüp­fung an Fou­cault – davon, daß „Bio­macht“ das „sozia­le Leben“ von innen her­aus Regeln unter­wer­fe, es inter­pre­tie­re, absor­bie­re und schließ­lich neu artikuliere.
Die Effek­ti­vi­tät und damit die Macht der Herr­schafts­struk­tu­ren des Empire beru­hen auf dem sich gegen­sei­tig ver­stär­ken­den Zusam­men­spiel von impe­ria­ler Poli­tik und impe­ria­ler Wirt­schaft. Dabei las­sen sich drei Ebe­nen unter­schei­den. Die Spit­ze die­ser Ord­nung bil­den die USA, die letz­te ver­blie­be­ne Super­macht. Auf einer zwei­ten Ebe­ne die­ser obers­ten Stu­fe fol­gen die­je­ni­gen Natio­nal­staa­ten, die die supra­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen mit­kon­trol­lie­ren. Auf der zwei­ten Stu­fe ste­hen die von trans­na­tio­na­len Kon­zer­nen geknüpf­ten Netz­wer­ke der glo­ba­len Kapi­tal­ver­wer­tung. Zumeist auf einer dar­un­ter ange­sie­del­ten Ebe­ne befin­den sich die Natio­nal­staa­ten, die zu Fil­tern im Fluß der glo­ba­len Zir­ku­la­ti­on und zu Reg­lern an den Ver­bin­dungs­stel­len des glo­ba­len Kom­man­dos gewor­den sind. Die drit­te Stu­fe der Pyra­mi­de besteht aus Orga­ni­sa­tio­nen, die popu­lä­re Inter­es­sen reprä­sen­tie­ren. Natio­nal­staa­ten spie­len hier bei der Kon­struk­ti­on und Reprä­sen­ta­ti­on der Multi­tu­de als „Volk“, das wie­der­um durch den Natio­nal­staat reprä­sen­tiert wird, eine ent­schei­den­de Rol­le, aber auch die Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen („NGO’s“), die Wün­sche und Bedürf­nis­se der Multi­tu­de artikulieren.

Die drei­ge­teil­te Pyra­mi­den­struk­tur kor­re­spon­diert mit den – im Empire ver­ein­ten – For­men der Macht: Mon­ar­chie, Aris­to­kra­tie und Demo­kra­tie. Die­se ist indes nicht als fest­ge­füg­te Hier­ar­chie, son­dern viel­mehr als gemisch­te (hybri­de) Kon­sti­tu­ti­on zu den­ken, als Netz­werk, in dem Macht­ver­hält­nis­se sich ver­schie­ben oder neu ent­ste­hen. Weil sich das Empire, wie oben beschrie­ben, in jedem Indi­vi­du­um mani­fes­tiert, pro­du­ziert auch jeder ein­zel­ne das Empire mit. Das führt zu der alten Lenin­schen Fra­ge: Was tun? Gibt es ein Ent­kom­men aus dem Empire?
Ja, es gibt ein Ent­kom­men aus die­ser Tota­li­tät. Garant dafür ist die Multi­tu­de, das neue revo­lu­tio­nä­re Sub­jekt, das Negri und Hardt wie ein Kanin­chen aus dem Hut zau­bern. Die vom Empire her­bei­ge­führ­te Deter­ri­to­ri­a­li­sie­rung frü­he­rer natio­na­ler Herr­schafts­struk­tu­ren eröff­net aus der Sicht der Autoren neue Befrei­ungs­op­tio­nen. Dies des­halb, weil durch den vom Empire geschaf­fe­nen „glat­ten Raum“ jeder loka­le Wider­stand sofort eine direk­te Her­aus­for­de­rung für das Empire bedeu­tet. Hier spielt die „Multi­tu­de“ eine trei­ben­de Rolle.
Sie ist es, die den Kapi­ta­lis­mus in Rich­tung Empire und schließ­lich dar­über hin­aus­treibt. Wie gren­zen Hardt und Negri den Begriff „Multi­tu­de“ gegen „Volk“ und „Arbei­ter­klas­se“ ab? Das „Volk“ sei ein Pro­dukt des moder­nen Natio­nal­staa­tes. Das Volk ten­die­re dazu, homo­gen und selbst­iden­tisch zu sein, es ist not­wen­dig zur Kon­sti­tu­ti­on der Sou­ve­rä­ni­tät des Natio­nal­staa­tes. Völ­ker defi­nie­ren sich immer in Abgren­zung zu einem Ande­ren. Inso­fern sind sie auch impli­zit „ras­sis­tisch“: es gibt immer eine Ten­denz zur Ver­ein­heit­li­chung (ent­we­der durch Assi­mi­la­ti­on oder durch Aus­gren­zung) und zur ras­si­schen oder kul­tu­rel­len Min­der­be­wer­tung der ande­ren. Die Multi­tu­de ist im Gegen­satz dazu eine Viel­zahl von Sin­gu­la­ri­tä­ten, eine Men­ge von Indi­vi­dua­li­tä­ten, eben nicht homo­gen und dar­um auch nicht zur Abgren­zung zu Ande­ren gezwungen.
Die Pro­fi­lie­rung der Multi­tu­de durch Hardt und Negri ist sowohl durch das Kon­zept des „organ­lo­sen Kör­pers“ der bei­den fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen Deleu­ze und Guat­ta­ri als auch durch Don­na Hara­ways soge­nann­te Cyborg-Theo­rie inspi­riert. Cyborgs (KYBer­ne­ti­scher ORGa­nis­mus) sind als sol­che (orga­ni­sche Robo­ter, Human­ma­schi­nen) noch nicht exis­tent und ste­hen in der Pra­xis für selbst­kon­stru­ier­te Men­schen, die nahe dar­an sind, mit ihren tech­ni­schen Erwei­te­run­gen zu ver­schmel­zen. Cyborgs kön­nen als Chif­fre für die Tech­no­lo­gi­sie­rung der Men­schen und die Ver­mensch­li­chung von Maschi­nen inter­pre­tiert wer­den. Der Cyborg ver­weist auf die Fra­gi­li­tät und Künst­lich­keit des Kör­pers und sei­ner Mate­ria­li­tät. Als Para­dig­ma für den Kör­per des Begeh­rens rezi­pier­ten Deleu­ze und Guat­ta­ri einen Begriff des Schau­spie­lers, Thea­ter­ma­chers und Schrift­stel­lers Anto­nin Artaud: „organ­lo­ser Kör­per“. Die­ser ist für sie gekenn­zeich­net durch die Abwe­sen­heit von Signi­fi­kanz bezie­hungs­wei­se Eigen­schaf­ten der Repräsentation.
Im Empire haben die Insti­tu­tio­nen der Arbei­ter­be­we­gung ihre Bedeu­tung ver­lo­ren, weil die Hege­mo­nie auf die imma­te­ri­el­le Arbeit über­ge­gan­gen ist. So wie das Empire sich erst in einer Pha­se der Kon­sti­tu­ti­on befin­det, so befin­den sich auch die Insti­tu­tio­nen zur Inte­gra­ti­on der Multi­tu­de erst in den Anfangs­sta­di­en. Die Multi­tu­de fin­det immer wie­der neue Wege, ihre Wün­sche im und gegen das Sys­tem aus­zu­drü­cken. Sie sind die Gegen­macht, die das Empire über sich her­aus­trei­ben soll. Mit der rea­len Sub­sum­ti­on von Arbeit und Gesell­schaft unter das Kapi­tal sei auch der Wunsch einer eman­zi­pa­to­ri­schen Uto­pie außer­halb des Kapi­tals ver­schwun­den. Da die Aus­beu­tung und Macht­aus­übung inner­halb des Empire orga­ni­siert wird, gibt es kei­ne Mög­lich­keit der Befrei­ung mehr. Zugleich hat sich durch die Ver­schie­bung der Hege­mo­nie hin zu imma­te­ri­el­ler Arbeit die Abhän­gig­keit des Empire von der Leben­dig­keit und Krea­ti­vi­tät der Multi­tu­de verstärkt.

„Das Ver­hält­nis von Empire und Multi­tu­de ist ant­ago­nis­tisch“, schreibt bei­spiels­wei­se Mar­tin Saar, wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Phi­lo­so­phi­schen Insti­tut in Frank­furt am Main, in einer Rezen­si­on, „es ist aber auch eines der fun­da­men­ta­len Abhän­gig­keit; und die­se Abhän­gig­keit kann zumin­dest poten­ti­ell jeder­zeit umschla­gen in den Wil­len, sich der Herr­schaft des Empire zu ent­zie­hen“. Nach Ansicht der Autoren kann dies heu­te nicht mehr im natio­na­len Rah­men gesche­hen. Die­ser natio­na­le Rah­men sei eine Beschrän­kung gewe­sen, der die Auf­stän­de in der Ver­gan­gen­heit schei­tern ließ. In der Dis­kus­si­on um Revol­ten gegen das Empire bezie­hen sich Hardt und Negri kon­kret auf die Ereig­nis­se am Tian­an­men-Platz 1989, auf die ers­te Inti­fa­da als Auf­stand gegen den israe­li­schen Staat, den Ghet­to­auf­stand in Los Ange­les 1992, den bewaff­ne­ten Auf­stand der Zapa­tis­ten in Chia­pas 1994 oder die Streiks, die 1995 ganz Frank­reich lähm­ten. „Kei­nes die­ser Ereig­nis­se“, so schrei­ben Negri und Hardt, „lös­te einen Kampf­zy­klus aus, weil die dar­in zum Aus­druck kom­men­den Wün­sche und Bedürf­nis­se sich nicht in unter­schied­li­che Kon­tex­te über­set­zen lie­ßen. Mit ande­ren Wor­ten: Die (poten­ti­el­len) Revo­lu­tio­nä­re in ande­ren Tei­len der Welt hör­ten die Ereig­nis­se in Peking, Nab­lus … nicht, konn­ten sie nicht als ihre eige­nen Kämp­fe erkennen“.
Hardt und Negri lie­fern abschlie­ßend Hin­wei­se dar­auf, wel­che For­de­run­gen gestellt wer­den müß­ten, die geeig­net sei­en, das Empire zu über­win­den. Aus­ge­hend von der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on von Zuwan­de­rern wird als ers­tes die For­de­rung nach einer Welt­bür­ger­schaft erho­ben. Die zwei­te For­de­rung ist der Kampf um ein sozia­les Ein­kom­men mit oder ohne Arbeit, die drit­te die Wie­der­an­eig­nung des Wis­sens und der Spra­che, der Pro­duk­ti­on und Repro­duk­ti­on, der Kör­per­lich­keit, des gan­zen Lebens. Das drit­te Ele­ment ist das Moment der kon­sti­tu­ie­ren­den Macht. Empire ist kon­sti­tu­ier­te Macht, aber abhän­gig von der Multi­tu­de. Wie kann es nun zur Lösung aus dem Aus­beu­tungs­ver­hält­nis kom­men? Das kann nur in einer Pha­se von Aus­ein­an­der­set­zun­gen pas­sie­ren. In die­ser Situa­ti­on muß die Multi­tu­de ihre Koope­ra­ti­on und Krea­ti­vi­tät in der Orga­ni­sa­ti­on des Wider­stands ein­set­zen. So ent­ste­hen Poten­tia­le kon­sti­tu­ie­ren­der Macht, die nach Been­di­gung der Kämp­fe frei­lich immer wie­der zer­fal­len. Hier­in lie­ge aber der Keim der Über­win­dung: Gera­de weil sie sich nicht in kon­sti­tu­ier­te Macht umwan­deln lie­ßen, ent­hiel­ten sie die Poten­tia­li­tät einer zukünf­ti­gen Gesell­schaft. Poin­tiert könn­te die­se Aus­kunft wie folgt zuge­spitzt wer­den: das Empire rutscht über die Multi­tu­de gleich­sam von selbst in den Kommunismus.
Die von Negri und Hardt behaup­te­te Abdan­kung des post­for­dis­ti­schen Sub­jek­tes, dem der „imma­te­ri­el­le“ oder „affek­ti­ve Arbei­ter“ fol­gen soll, ist ein Reflex auf die in der zwei­ten Hälf­te der neun­zi­ger Jah­re behaup­te­te Her­auf­kunft der „Dienst­leis­tungs- und Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft“. In die­ser Zeit ging die Glo­ba­li­sie­rungs­dis­kus­si­on davon aus, daß die Fabrik­ar­beit für die Zukunft des Kapi­ta­lis­mus nicht mehr die domi­nie­ren­de Rol­le spie­len wer­de. In die­se Zeit fiel auch der kur­ze Sie­ges­zug der new eco­no­my, die von vie­len mar­xis­ti­schen – und „bür­ger­li­chen“ Theo­re­ti­kern – zu einer neu­en Stu­fe des Kapi­ta­lis­mus ver­klärt wur­de. In die­ser Zeit schrie­ben die bei­den Autoren auch ihr Buch. Heu­te ist die new eco­no­my Geschich­te. Die Pro­phe­ten des vir­tu­el­len Kapi­ta­lis­mus sind auf den Boden der Tat­sa­chen zurück­ge­holt. Die neue Stu­fe des Kapi­ta­lis­mus, von der Negri und Hardt räso­nie­ren, sie hat ihre Zukunft bereits weit­ge­hend hin­ter sich.

Viel schwe­rer wiegt frei­lich die Behaup­tung, daß sich inmit­ten der glo­ba­len Netz­werk-Macht­struk­tur eine „neue Form der Sou­ve­rä­ni­tät“ eta­bliert habe, die den alten Natio­nal­staa­ten genau­so den Gar­aus mache wie dem Impe­ria­lis­mus. Kein Staat, oder bes­ser: kein „Macht­kno­ten­punkt“, so die The­se von Negri und Hardt, könn­te heu­te die allei­ni­ge Kon­trol­le über die aktu­el­le glo­ba­le Ord­nung aus­üben. Das glo­ba­le Sys­tem der Netz­wer­ke, die­ser „U‑topos“, also Nicht-Ort, bestim­me nicht nur die mensch­li­chen Inter­ak­tio­nen. Die­sem Sys­tem sei auch inhä­rent, sich die „mensch­li­che Natur“ zu unter­wer­fen. An die Stel­le der Natio­nal­staa­ten, die im ent­grenz­ten Empire nur nach­ran­gi­ge Bedeu­tung hät­ten, trä­ten supra­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on wie die WTO, der IWF, die G‑8-Run­de oder ähn­li­ches, die mehr und mehr an Bedeu­tung gewän­nen. Spä­tes­tens hier gerät das auf jeg­li­che Empi­rie ver­zich­ten­de Opus von Negri und Hardt an sei­ne Gren­zen. Daß alle die­se supra­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen mehr oder weni­ger offen­kun­dig unter Kon­trol­le der USA ste­hen, fin­det in ihrer Theo­rie kei­nen Nie­der­schlag. Tag­täg­lich wird ihre Behaup­tung, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten sei­en nur pri­mus inter pares, es gebe kei­ne wirk­lich domi­nie­ren­de Grö­ße im glo­ba­len Netz­werk, von der Wirk­lich­keit wider­legt. Rea­li­tät ist eine stän­dig grö­ßer wer­den­de Asym­me­trie der Macht zwi­schen der alten und der neu­en Welt. All das läßt sich auch in har­te Empi­rie fas­sen, die Negri und Hardt – wie eine Rei­he ande­rer post­mo­der­ner und neo­mar­xis­ti­scher Theo­re­ti­ker, die Macht­fra­gen ger­ne sozi­al­wis­sen­schaft­lich ver­damp­fen – außer acht las­sen. Die­se Abglei­chung an der Wirk­lich­keit lie­fern bei­spiels­wei­se die bei­den US-Poli­to­lo­gen Ste­phen G. Brooks und Wil­liam C. Wohl­forth, die am Dart­mouth Col­lege in Hano­ver (New Hamp­shire) leh­ren. Bei­de Wis­sen­schaft­ler, die dem „rech­ten Flü­gel“ der Repu­bli­ka­ner zuge­rech­net wer­den, prä­sen­tie­ren einen Strom von Daten und Fak­ten, der vor allem eines belegt: die unan­ge­foch­te­ne Macht­stel­lung der USA in der Welt. Die­se Über­le­gen­heit ist nicht nur mili­tä­ri­scher, son­dern auch öko­no­mi­scher Natur. Brooks und Wohl­forth machen klar, daß die zen­tra­le Behaup­tung von Negri und Hardt, nach der wir es mit einem „Römi­schen Reich ohne Rom“ zu tun hät­ten, den Fak­ten nicht stand­hält. Weil die dis­kur­si­ven Rah­men­be­din­gun­gen unzu­rei­chend reflek­tiert sind, sind auch alle The­sen, die Negri und Hardt im Hin­blick auf das Empire, die­sem „Netz­werk von Netz­wer­ken“ ent­fal­ten, frag­wür­dig. Nicht mehr als rei­nes Wunsch­den­ken bleibt des­halb auch ihre Pro­gno­se, daß der glo­ba­le Kapi­ta­lis­mus durch das neue Pro­le­ta­ri­at der Multi­tu­de sei­nen Unter­gang qua­si selbst hervorbringe.

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