Robert Kurz – Prophet der utopischen Antimoderne

pdf der Druckfassung aus Sezession 5 / April 2004

sez_nr_5von Fritz Hermann

Als 1997 Stephane Courtois mit seinem Schwarzbuch des Kommunismus in Frankreich eine hitzige Debatte auslöste, kam auf der Linken schnell der Wunsch auf, diesem in der Wirkung so starken Buch ein Schwarzbuch des Kapitalismus entgegenzusetzen. In Deutschland kam für ein solches Projekt als Autor eigentlich nur der Nürnberger Philosoph Robert Kurz in Frage, da dieser auf seine seit dem Untergang des realen Sozialismus immer wieder propagierte These vom Kollaps der Modernisierung zurückgreifen konnte.

Das Den­ken und Theo­re­ti­sie­ren der deutsch­spra­chi­gen uto­pi­schen Lin­ken wur­de in den ver­gan­ge­nen andert­halb Jahr­zehn­ten ent­schei­dend von Kurz und der von ihm mit­ge­grün­de­ten und mit­ver­ant­wor­te­ten eli­tä­ren Theo­rie­zeit­schrift Kri­sis geprägt. Auch in die Milieus der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Lin­ken, die nicht viel von den Grund­an­nah­men der Kri­sis-Grup­pe hiel­ten, zog ein Jar­gon ein, der von „Wert­ver­ge­sell­schaf­tung“ und „Wert­kri­tik“ erzähl­te, in sei­ner Kri­tik am Kapi­ta­lis­mus aber oft­mals mehr idea­lis­tisch-ador­ni­tisch als mar­xis­tisch argu­men­tier­te und von Marx eigent­lich nur die in der Ein­lei­tung zu des­sen Haupt­werk Das Kapi­tal geäu­ßer­te Kri­tik am „Waren­fe­ti­schis­mus“ über­nahm. Auch die Habi­tus-Form, nun ganz neue Erkennt­nis­se zu prä­sen­tie­ren und sich allen mög­li­chen „unauf­ge­ho­be­nen“ Vor­läu­fer­be­we­gun­gen über­le­gen zu füh­len, teil­ten etli­che Lin­ke mit der Kri­sis-Grup­pe.
Der Durch­bruch gelang Kurz mit sei­nem 1991 in Hans Magnus Enzens­ber­gers „Ande­rer Biblio­thek“ erschie­ne­nen Buch Der Kol­laps der Moder­ni­sie­rung. Kurz wen­de­te hier­in die ele­gi­sche Melo­die der „Frank­fur­ter Schu­le“ von der zer­stö­re­ri­schen „Dia­lek­tik der Auf­klä­rung“ ins Öko­no­mi­sche und zum Schwa­nen­ge­sang auf die Markt­wirt­schaft, die sich durch den mit der mikro­elek­tro­ni­schen „Drit­ten Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on“ ein­her­ge­hen­den Pro­duk­ti­vi­täts­schub ihr eige­nes Grab schau­fe­le. Schon im Kol­laps der Moder­ni­sie­rung wur­de aber auch die Nei­gung erkenn­bar, sich nicht als bril­lan­ter Essay­ist zu ver­ste­hen, der bewußt zuspitzt, um Zusam­men­hän­ge deut­li­cher wer­den zu las­sen, son­dern als Mis­sio­nar auf­zu­tre­ten, der über­zeu­gen und bekeh­ren will. Dabei schreck­te Kurz kei­nes­wegs davor zurück, „hei­li­ge Kühe“ der radi­ka­len deut­schen Lin­ken zu schlach­ten, wenn er bei­spiels­wei­se Sta­li­nis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus als „Dik­ta­tu­ren nach­ho­len­der Moder­ni­sie­rung“ im Kon­text der Durch­set­zungs­ge­schich­te des Kapi­ta­lis­mus klas­si­fi­zier­te und damit das in der deut­schen Lin­ken beson­ders mäch­ti­ge Gleich­set­zungs­ver­bot unterlief.
Auch in sei­nem 1999 bei Eich­born erschie­ne­nen Best­sel­ler Schwarz­buch des Kapi­ta­lis­mus. Ein Abge­sang auf die Markt­wirt­schaft, der sich mona­te­lang in der Ver­kaufs­lis­ten weit oben hielt, woll­te Kurz Archi­pel Gulag und Ausch­witz in den Strom einer line­ar gedach­ten Moder­ni­sie­rungs­ge­schich­te ein­ge­ord­net wis­sen. Er rich­te­te den Blick aller­dings nicht mehr leni­nis­tisch nach vor­ne, son­dern wie Wal­ter Ben­ja­mins zür­nen­der Engel der Geschich­te apo­ka­lyp­tisch nach hin­ten, auf die Trüm­mer und Lei­den, die der „Fort­schritt“ pro­du­ziert hat. Der Kapi­ta­lis­mus – den Kurz nicht wie die meis­ten Wirt­schafts- und Sozi­al­his­to­ri­ker um 1500, son­dern mit den schle­si­schen Weber­auf­stän­den um 1780 begin­nen läßt – ist plötz­lich wie der Spring­teu­fel aus der Kis­te da, um alle Ver­hält­nis­se in einem gera­de­zu dämo­ni­schen Akt sei­ner gna­den­lo­sen Ver­wer­tungs­lo­gik und sei­nem Regime der abs­trak­ten Arbeit zu unter­wer­fen. In sei­ner Geschichts­me­ta­phy­sik lehnt Kurz Auf­klä­rung und Moder­ne als voll­stän­dig von der Wert­lo­gik durch­tränk­te Irr­we­ge des Wes­tens ab. Er weist die pau­scha­le Dis­qua­li­fi­zie­rung der vor­mo­der­nen Ver­hält­nis­se agra­ri­scher Gesell­schaf­ten als dumpf und „natur­ver­haf­tet“ zurück, da in die­sen immer noch mehr Indi­vi­dua­li­tät mög­lich gewe­sen sei als in der tota­li­tä­ren „Uni­form“ des kapi­ta­lis­ti­schen Geld‑, Arbeits- und Kon­kur­renz­sub­jekts, in der das „Ich“ als spe­zi­fisch moder­ne Schwund­form der abs­trak­ten Indi­vi­dua­li­tät sich bis in Eros und Inti­mi­tät hin­ein nur noch durch die tote, ver­ding­lich­te Bezie­hungs­form des Gel­des ver­mit­teln kön­ne. Kapi­ta­lis­mus ist für Kurz ganz unma­te­ria­lis­tisch und vol­un­t­a­ris­tisch eine ver­häng­nis­vol­le idée fixe von Phi­lo­so­phen und Unter­neh­mern; und Ver­jäh­rungs­fris­ten kennt Kurz bei sei­ner Gene­ral­ank­la­ge nicht: Schon in Hob­bes sieht er einen „bit­te­ren, fins­te­ren Pro­phe­ten der Markt­wirt­schaft“, mit Den­kern aus der Raub­rit­ter­pha­se des eng­li­schen Bür­ger­tums zu Beginn des 18. Jahr­hun­derts wie Man­de­ville und Bent­ham nimmt er die heu­ti­gen Apo­lo­ge­ten des Neo­li­be­ra­lis­mus in Sip­pen­haft, und der Mar­quis de Sade gilt Kurz mit sei­nem abar­ti­gen Ver­ständ­nis von Lust und Ero­tik sogar als Vor­läu­fer aller kon­su­mis­tisch ver­krüp­pel­ten Egomanen.
Auch in sei­nem letz­ten gro­ßen theo­re­ti­schen Werk Welt­ord­nungs­krieg, das kurz vor dem Beginn des Irak-Krie­ges erschien, gönnt Kurz sich kei­ne opti­mis­ti­sche­re Per­spek­ti­ve. Sei­ne The­se lau­tet: Wäh­rend die Drit­te Indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on der Mikro­elek­tro­nik der Ver­wer­tung leben­di­ger Arbeit in den Zen­tren des Welt­markts auf­grund der eige­nen Pro­duk­ti­vi­täts­stan­dards eine inne­re his­to­ri­sche Schran­ke setzt und dort in den Metro­po­len qua Anwen­dung der neu­en, post­for­dis­ti­schen Tech­no­lo­gien zu einer struk­tu­rel­len Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit, zu glo­ba­len Über­ka­pa­zi­tä­ten und einer Flucht des Geld­ka­pi­tals in den Finanz­über­bau mit der Fol­ge der Bil­dung spe­ku­la­ti­ver Bla­sen führt, ver­hin­dert der Man­gel an Kapi­tal­kraft in der Peri­phe­rie die mikro­elek­tro­ni­sche Auf­rüs­tung; aber gera­de dadurch bre­chen gan­ze Natio­nal­öko­no­mien und Welt­re­gio­nen umso schnel­ler zusammen.

So ent­ste­hen selbst in Euro­pa „Plün­de­rungs­öko­no­mien“, wo nicht mehr pro­du­ziert wird, son­dern mafio­se Banden‑, Clan- und Ban­di­ten­struk­tu­ren (wie im Koso­vo) oder Dik­ta­tu­ren nach­ho­len­der Moder­ni­sie­rung (wie im Irak unter Hus­sein) ent­ste­hen. Die „Arbei­ter der Hand“ haben nach Kurz in ihrer glo­ba­len Mehr­zahl aus­ge­dient, ohne daß sie jedoch aus der Logik des kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems her­aus­kom­men. In den „Welt­ord­nungs­krie­gen“ in Afgha­ni­stan, in Jugo­sla­wi­en oder im Irak begeg­ne der Wes­ten unter der Füh­rung des „ideel­len Gesamt­im­pe­ria­lis­ten USA“ dann den tota­li­tä­ren, fun­da­men­ta­lis­ti­schen oder auch ein­fach nur kri­mi­nel­len Zer­falls­pro­duk­ten der eige­nen Sys­tem­kri­se und den mas­sen­haft Aus­ge­sto­ße­nen der eige­nen Pro­duk­ti­ons­wei­se, wobei Kurz die Mög­lich­keit, daß aus die­ser Kri­se die all­ge­mei­ne Bar­ba­rei her­vor­geht, für sehr viel wahr­schein­li­cher hält als den Schritt zur all­ge­mei­nen Emanzipation.
Der ein­zi­ge Theo­re­ti­ker, der die­se glo­ba­le „ano­mi­sche Trans­for­ma­ti­on“ in ihrer gan­zen schreck­li­chen Trag­wei­te begrif­fen habe ist für Kurz aus­ge­rech­net der „bür­ger­li­che“ Mar­tin van Cre­veld, der in sei­nen bei­den Büchern Die Zukunft des Krie­ges und Auf­stieg und Unter­gang des Staa­tes mit aller Deut­lich­keit erkann­te, „… daß die­se neu­en Krie­ge nicht mehr dem poli­ti­schen Nomos der Moder­ne fol­gen, also nicht mehr dem Clau­se­witz­schen Pos­tu­lat vom Krieg als einer Fort­set­zung der Poli­tik mit ande­ren Mit­teln ent­spre­chen“, son­dern es sich um Phä­no­me­ne wie „Unru­hen“, „Ter­ro­ris­mus“, „War­lord- Herr­schaft“ und „Eth­no-Krie­ge“ han­de­le, die van Cre­veld als low inten­si­ty con­flicts klas­si­fi­zier­te, und die einen ano­mi­schen Absturz in Zei­ten anzeig­ten, wie sie in Euro­pa vor dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg herrsch­ten, in denen noch kein staat­li­ches Gewalt­mo­no­pol durch­ge­setzt war. Ein­zig van Cre­veld bewei­se in die­ser Fra­ge Rea­lis­mus, „… weil er den rea­len Zer­falls­pro­zeß der Sou­ve­rä­ni­tät beschreibt, ohne deren Erneue­rung oder ein Sur­ro­gat herbeizuphantasieren“.
Ähn­lich wie Ador­no in der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung jede Onto­lo­gie nur als Inbe­griff von „Nega­ti­vi­tät“ den­ken konn­te, ist auch Kurz der Gefan­ge­ne sei­ner Nega­tio­nen. Da er nicht erklä­ren kann, wie eine eman­zi­pa­to­ri­sche Ver­ge­sell­schaf­tung jen­seits von Ware und Geld, von Zivi­li­sa­ti­on, Auf­klä­rung und Moder­ne mög­lich sein soll, bleibt der Kern sei­ner Theo­rie – obwohl er inzwi­schen poli­ti­scher Best­sel­ler­au­tor ist – zu einem eso­te­ri­schen Dasein inner­halb eines mino­ri­tä­ren Mar­xis­mus ver­dammt. Da Kurz in sei­nem nega­tio­nis­ti­schen Furor auch alles ver­wirft, was einst trag­fä­hig war und noch trag­fä­hig ist und er auch alles Tra­dier­te und Natio­na­le, die „hal­ten­den Mäch­te“ (Arnold Geh­len) in sei­ne Pole­mik mit ein­schließt, blei­ben ihm als Zukunfts­per­spek­ti­ve nur nebu­lö­se Vor­stel­lun­gen einer „pla­ne­ta­ri­schen Asso­zia­ti­on frei­er Indi­vi­du­en“ oder eines „glo­ba­len Kib­buz“. Hier­bei scheint Kurz zu über­se­hen, daß gera­de die Kib­bu­zim-Bewe­gung boden­stän­dig, topisch und von natio­na­len Moti­ven getra­gen war und so „… in der Tat die ein­zi­ge Erschei­nungs­form …, in wel­cher der Sozia­lis­mus wäh­rend des 20. Jahr­hun­derts ein über­zeu­gen­des und erfolg­rei­ches Gesicht zeig­te“ (Ernst Nolte).
Kurz Grund­the­se von einer „fina­len Mobi­li­sie­rung des kapi­ta­lis­ti­schen Selbst­wi­der­spruchs“ ist inso­fern ernst zu neh­men, als sich tat­säch­lich Hin­wei­se auf eine mög­li­che Erschöp­fung der Ent­wick­lungs- und gesell­schaft­li­chen Expan­si­ons­fä­hig­keit des Kapi­ta­lis­mus unter den Bedin­gun­gen der „Drit­ten Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on“ ver­dich­ten. Als unlängst bekannt wur­de, daß in den USA in den letz­ten Quar­ta­len des ver­gan­ge­nen Jah­res ein hohes wirt­schaft­li­ches Wachs­tum mit einem teil­wei­se dra­ma­ti­schen Beschäf­ti­gungs­ab­bau zusam­men­fiel, wur­de dafür auch von neo­li­be­ra­len und keyne­sia­ni­schen Öko­no­men der Begriff jobloss reco­very geprägt und dar­auf hin­ge­wie­sen, daß es sich um ein in der Wirt­schafts­ge­schich­te qua­li­ta­tiv neu­es Phä­no­men han­de­le, das mit schwers­ten Rück­wir­kun­gen für die west­li­chen Indus­trie­ge­sell­schaf­ten ver­bun­den sein könn­te. Tat­säch­lich wäre der Kapi­ta­lis­mus zu Ende, wenn der Mensch in den von ihm ent­fes­sel­ten Pro­duk­tiv­kräf­ten nur noch weg­zu­ra­tio­na­li­sie­ren­der Stör­fak­tor wäre. Die Wert­kri­tik der Kri­sis-Grup­pe ist auch eine Auf­for­de­rung über die Zukunft der Arbeit nach­zu­den­ken und dabei mit­tel­al­ter­li­che und anti­ke Vor­stel­lun­gen zu berück­sich­ti­gen. Im Zusam­men­bruch des rea­len Sozia­lis­mus woll­te Kurz schon direkt nach dem Mau­er­fall nicht den Sieg des Wes­tens über den Osten, son­dern eine gene­rel­le Kri­se der tra­di­tio­nel­len, im Pro­tes­tan­tis­mus wur­zeln­den Vor­stel­lung von Arbeit in Ost und West erken­nen – und die Ent­wick­lung, die allen west­li­chen Indus­trie­län­dern eine ste­tig stei­gen­de struk­tu­rel­le Arbeits­lo­sig­keit bescher­te, hat ihm seit­her recht gege­ben. In der heu­ti­gen post­mo­der­nen Lin­ken, die mit ihren post­struk­tu­ra­lis­ti­schen und sys­tem­theo­re­ti­schen Hans­wurs­te­rei­en „alles“ – also sowohl radi­kal und markt­rea­lis­tisch, super­kri­tisch und strom­li­ni­en­för­mig – sein will, und die inhalt­li­che Fra­gen fort­wäh­rend in for­ma­le und ästhe­ti­sche über­führt und damit jede fun­da­men­ta­le Aus­ein­an­der­set­zung unter­bin­det, ist die­ser an Kant, Marx und Ador­no geschul­te eli­tä­re Uto­pist mit sei­ner begriff­li­chen Ernst­haf­tig­keit und dem Wil­len zur gro­ßen strin­gen­ten Theo­rie eine bei­na­he sin­gu­lä­re Erscheinung.

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