Ein Konservativer zu sein, so sagte man mir, heiße auf der Seite des Alters gegen die Jugend zu stehen, der Vergangenheit gegen die Zukunft, der Autorität gegen die Erneuerung, der „Strukturen“ gegen Spontaneität und Leben. Es genügte dies zu begreifen, um zu erkennen, daß man als freidenkender Intellektueller keine andere Wahl hatte als den Konservatismus abzulehnen. Die einzige Wahl, die einem blieb, war die zwischen Reform und Revolution. Verbessern wir die Gesellschaft Stück für Stück, oder radieren wir alles aus und fangen von vorne an?
Insgesamt gesehen zogen meine Zeitgenossen die zweite Variante vor, und als ich im Mai 1968 in Paris als Zeitzeuge miterlebte, was das bedeutete, entdeckte ich meine Berufung. In der engen Gasse unter meinem Fenster schrien und wüteten die Studenten. Die Schaufensterscheiben der Läden schienen einen Schritt zurückzutreten, einen Augenblick zu erschaudern und dann den Geist aufzugeben, als die Spiegelungen sie auf einmal verließen und sie in kleine Scherben zerfielen.
Autos hoben sich in die Luft und landeten auf der Seite, ihre Säfte flossen aus unsichtbaren Wunden. Die Luft war erfüllt von triumphierenden Rufen, als nacheinander Laternenpfähle und Poller aus dem Boden gerissen und auf dem Asphalt aufgeschichtet wurden, um eine Barrikade gegen die nächste Wagenladung Polizisten zu bilden. Der Wagen näherte sich vorsichtig aus der Rue Descartes, kam zum Stehen und spie zwanzig ängstliche Polizisten aus.
Sie wurden von fliegenden Pflastersteinen begrüßt und einige gingen zu Boden. Einer rollte über den Boden und hielt sich das Gesicht, von dem das Blut durch die fest zusammengepreßten Finger strömte. Ein Triumphschrei ertönte, der verletzte Polizist wurde in den Polizeiwagen gebracht und die Studenten rannten durch eine Seitenstraße davon, während sie höhnisch über die cochons – „die Schweine“ – grinsten und wie die Parther auf dem Rückzug Pflastersteine warfen.
An diesem Abend besuchte mich eine Freundin: Sie hatte den ganzen Tag zusammen mit einer Gruppe von Theaterleuten auf den Barrikaden verbracht, unter der Führung von Armand Gatti. Sie war von den Ereignissen höchst erregt, die Gatti, ein Anhänger Antonin Artauds, ihr als Höhepunkt des situationistischen Theaters zu verstehen gelehrt hatte – als künstlerische Verklärung jener Absurdität, die der alltägliche Sinn des bürgerlichen Lebens darstellt.
Große Siege waren errungen worden: Polizisten waren verletzt, Autos in Brand gesetzt, Sprüche gerufen, Graffiti an die Wände geschmiert worden. Die Bourgeoisie befand sich auf der Flucht, und bald würden „der alte Faschist“ und sein Regime um Gnade bitten. Der „alte Faschist“ war De Gaulle. Ich war damals selbstverständlich naiv – so naiv wie meine Freundin. Aber der sich entwickelnde Streit ist einer, zu dem ich in Gedanken häufig zurückgekehrt bin.
Was, so fragte ich sie, willst du an die Stelle der von dir so verachteten „Bourgeoisie“ setzen, der du die Freiheit und den Wohlstand verdankst, die es dir gestattet, auf deinen Spielzeugbarrikaden herumzuspielen? Welche Vorstellung von Frankreich und seiner Kultur hält dich in Bann? Und bist du bereit, für deine Überzeugungen zu sterben, oder nur dazu, andere zu gefährden, um diese Überzeugungen zu beweisen? Ich benahm mich auf unverschämte Weise wichtigtuerisch, doch zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Aufkommen einer politischen Wut in mir gespürt und fand mich nun auf der anderen Seite der Barrikade als alle jene, die ich kannte.
1971, als ich aus Cambridge auf eine Dauerstelle als Dozent an das Birkbeck College in London wechselte, war ich zu einem Konservativen geworden. So weit ich sehen konnte, gab es nur noch einen anderen Konservativen am Birkbeck College, und das war Nunzia – Maria Annunziata – die neapolitanische Dame, die im Senior Common Room das Essen servierte und die den Dozenten einen lange Nase machte, indem sie ihren Tresen mit kitschigen Photos des Papstes pflasterte.
Es genüge zu sagen, daß ich mich bei meiner Ankunft im Birkbeck College im Herzen des linken Establishments fand, das die britische Gelehrsamkeit beherrschte. Meine Unfähigkeit, meine konservativen Überzeugungen zu verbergen, wurde bemerkt und mißbilligt, und ich fing an, eine konservative Philosophie zu suchen. In Amerika hätte eine solche Suche an einer Universität durchgeführt werden können.
Amerikanische Institute für Politikwissenschaft empfehlen ihren Studenten die Lektüre von Montesquieu, Burke, Tocqueville und den Gründervätern. Leo Strauss, Eric Voegelin und andere haben den metaphysischen Konservatismus Mitteleuropas auf die einheimischen amerikanischen Wurzeln aufgepfropft und dadurch wirkungsvolle und dauerhafte Schulen des politischen Denkens geschaffen. In den siebziger Jahren war die konservative Philosophie in Großbritannien dagegen eine Beschäftigung für einige wenige halbverrückte Einsiedler. Und doch: hier stand ich in den frühen siebziger Jahren, noch unter dem Schock des Jahres 1968, mit meinen klaren konservativen Überzeugungen.
Wo konnte ich nach Menschen suchen, die diese teilten, nach den Denkern, die sie in angemessener Länge formuliert hatten, nach der Gesellschafts‑, Wirtschafts- und Politiktheorie, die ihnen genügend Kraft und Autorität geben würde, um sie vor einem akademischen Forum zu vertreten? Da rettete mich Burke. Obwohl er damals an unseren Universitäten nicht sehr viel gelesen wurde, lehnte man ihn nicht als dumm, reaktionär oder absurd ab. Er war einfach irrelevant, und vor allem deshalb von Interesse, weil er die Französische Revolution in jeder Beziehung falsch interpretiert hatte und daher als anschauliches Beispiel für ein Kapitel intellektueller Pathologie studiert werden konnte.
Man erlaubte den Studenten immer noch die Lektüre seiner Werke, meistens zusammen mit dem unendlich uninteressanteren Tom Paine, und von Zeit zu Zeit konnte man etwas von einer „Burkeschen“ Philosophie erzählen hören, die ein Strang des britischen Konservatismus im 19. Jahrhundert gewesen sei. Burke war außerdem interessant für mich aufgrund des intellektuellen Weges, den er zurückgelegt hatte. Seine erste Arbeit schrieb er wie ich im Bereich der Ästhetik. Und obwohl ich kaum etwas von philosophischem Belang in seiner Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen fand, konnte ich doch verstehen, daß er im richtigen kulturellen Klima ein starkes Gefühl für den Sinn des ästhetischen Urteils und seiner Rolle in unserem Leben vermitteln könnte.
Ich nehme an, daß ich, so weit ich irgendwelche Ahnungen von meiner künftigen Laufbahn als Paria hatte, diese durch meine frühen Reaktionen auf die moderne Architektur und auf die Verwüstung der Landschaft meiner Kindheit durch die gesichtslosen Kästen der Vorstädte erhalten haben muß. Als Jugendlicher lernte ich, daß ästhetische Urteile wichtig sind, daß es sich nicht nur um subjektive Meinungen handelt, über die man nicht diskutiert, weil man nicht über sie diskutieren kann, und die nur für einen selbst von Bedeutung sind. Ich erkannte damals, obwohl ich nicht über eine Philosophie zur Rechtfertigung dieser Auffassung verfügte, daß das ästhetische Urteil einen Anspruch an die Welt stellt, daß es aus einem tief verwurzelten sozialen Imperativ hervorgeht und daß es für uns in der gleichen Weise von Bedeutung ist wie andere Menschen für uns von Bedeutung sind, wenn wir versuchen, mit ihnen zusammen in einer Gemeinschaft zu leben.
Die Ästhetik der Moderne mit ihrer Verleugnung der Vergangenheit, ihrer Verwüstung der Landschaft und der Städte und ihren Versuchen, die Welt von der Geschichte zu reinigen, erschien mir auch als eine Verleugnung der Gemeinschaft, des Zuhauses und des Sich-Niederlassens. Der Modernismus in der Architektur war ein Versuch, die Welt neu zu erschaffen, als ob sie nichts als einzelne Individuen beherbergte, die von der Vergangenheit nicht infiziert waren und wie Ameisen in ihren metallischen und funktionalen Panzern lebten.
Wie Burke gelangte ich von der Ästhetik zur konservativen Politik ohne ein Gefühl der intellektuellen Unangemessenheit, da ich glaubte, daß ich in jeder Hinsicht auf der Suche nach der verlorenen Erfahrung des Zuhauseseins war. Und ich nehme an, daß diesem Gefühl des Verlustes die bleibende Überzeugung zu Grunde liegt, daß das, was verloren wurde, auch wiedergewonnen werden kann – nicht unbedingt in der Weise, wie es war, als es das erste Mal aus unseren Händen glitt, doch so, wie es sein wird, wenn es auf bewußte Weise wiedergewonnen und neu geformt wird, um uns für das ganze Elend der Trennung zu entlohnen, zu dem wir von unserem ursprünglichen Verlust verdammt wurden.
Diese Überzeugung stellt den romantischen Kern des Konservatismus dar, wie man ihn in ganz unterschiedlicher Weise bei Burke und Hegel ausgedrückt findet, aber auch bei T. S. Eliot, dessen Lyrik während meiner Jugend den größten Einfluß auf mich ausübte.Als ich das erste Mal Burkes Darstellung der Französischen Revolution las, neigte ich dazu, die liberale, humanistische Deutung der Revolution als Sieg der Freiheit über die Unterdrückung, als Befreiung eines Volkes vom Joch der absoluten Macht zu akzeptieren, da ich keine andere Deutung kannte. Obwohl es Exzesse gab, die von keinem aufrichtigen Historiker je geleugnet wurden, vertrat die offizielle Sichtweise die Auffassung, diese sollten im Rückblick als Geburtswehen einer neuen Ordnung verstanden werden, die der Welt ein Vorbild der Volkssouveränität bieten würde.
Ich nahm daher an, daß Burkes frühe Zweifel, die er, wie man sich erinnern sollte, zum Ausdruck brachte, als die Revolution in ihrem Anfangsstadium und der König noch nicht hingerichtet worden war und der Terror noch nicht begonnen hatte, lediglich alarmistische Reaktionen auf ein schlecht verstandenes Ereignis darstellten. Was mich an den Betrachtungen interessierte, war ihre positive politische Philosophie, die sie von der gesamten linken Literatur, die damals Mode war, durch ihre absolute Konkretheit unterschied sowie durch ihre genaue Erfassung der menschlichen Seele in ihren gewöhnlichen und gar nicht erhabenen Formen.
Burke schrieb nicht über den Sozialismus, sondern über die Revolution. Gleichwohl überzeugte er mich, daß die utopischen Verheißungen des Sozialismus Hand in Hand gingen mit einer völlig abstrakten Vorstellung des menschlichen Geistes – einer geometrischen Version unserer geistigen Prozesse, die nur die flüchtigste Beziehung zu den Gedanken und Gefühlen hat, mit denen wirkliche Menschen leben. Er überzeugte mich davon, daß Gesellschaften nicht gemäß einem Ziel oder Plan organisiert sind noch auch organisiert werden können, daß es kein Ziel der Geschichte gibt und auch keinen moralischen oder geistigen Fortschritt.
Vor allem aber betonte er, daß die neuen Formen rationaler Politik, deren Träger hofften, die Gesellschaft gemäß dem rationalen Streben nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder deren modernistischer Entsprechung organisieren zu können, in Wirklichkeit Ausdruck militanter Irrationalität sind. Es gibt keine Möglichkeit, daß Menschen auf kollektive Weise Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anstreben können, und zwar nicht nur, weil diese Dinge bedauerlicherweise nicht genau genug beschrieben und nur abstrakt definiert werden, sondern auch deshalb, weil die kollektive Vernunft nicht auf diese Weise funktioniert.
Die Menschen denken nur dann als Kollektiv an ein gemeinsames Ziel, wenn sie sich in einer Notsituation befinden – wenn es eine Bedrohung gibt, die zu überwinden ist, oder wenn eine Eroberung durchgeführt werden muß. Doch selbst dann benötigen sie Organisation, Hierarchie und eine Befehlsstruktur, wenn sie ihr Ziel auf effektive Weise verfolgen wollen. Gleichwohl entsteht in diesen Fällen eine Art kollektiver Rationalität, deren populärer Name Krieg ist. Außerdem – und dies ist die logische Folge, die sich mir mit einem Schock der Erkenntnis aufdrängte – würde jeder Versuch, die Gesellschaft gemäß einer solchen Rationalität zu organisieren, die genau gleichen Bedingungen voraussetzen: die Kriegserklärung gegen einen tatsächlichen oder eingebildeten Feind.
Daraus resultiert die scharfe und militante Sprache der sozialistischen Literatur – die von Haß und Entschlossenheit erfüllte, den Bürger verleumdende Prosa, von der mir 1968 ein Beispiel als endgültige Rechtfertigung der Gewalt unter meinem Fenster präsentiert wurde, doch von der andere Beispiele, angefangen beim Kommunistischen Manifest, das Grundnahrungsmittel der politikwissenschaftlichen Studien an meiner Universität darstellten. Drei andere Argumente Burkes machten einen ähnlich starken Eindruck auf mich. Das erste Argument betraf die Verteidigung der Autorität und des Gehorsams. Weit davon entfernt, jene böse und widerwärtige Sache zu sein, für die sie meine Zeitgenossen hielten, war die Autorität für Burke die Wurzel der politischen Ordnung.
Die Gesellschaft wurde seiner Auffassung nach nicht durch die abstrakten Bürgerrechte zusammengehalten, wie die französischen Revolutionäre dachten. Sie wird durch Autorität zusammengehalten – wobei darunter eher das Recht zum Gehorsam als die bloße Macht, Gehorsam zu erzwingen, verstanden werden muß. Gehorsam wiederum ist die vorzügliche Tugend politischer Wesen, diejenige Haltung, die es ermöglicht, sie zu regieren, und ohne welche Gesellschaften zum „Staub und Pulver der Individualität“ zerfallen.
Diese Gedanken erschienen mir als ebenso offenkundig wie meinen Zeitgenossen als schockierend. Burke hielt letztlich an der alten Sicht des Menschen in der Gesellschaft fest, der einem Souverän untertan war, im Gegensatz zu der neuen Sicht des Menschen als eines Staatsbürgers. Und was mir besonders einleuchtete war die Tatsache, daß Burke durch seine Verteidigung dieser alten Sicht bewies, daß diese eine weit wirksamere Garantie für die Freiheiten des Einzelnen bot als die neue Idee, die auf der Verheißung eben jener Freiheiten gründete, obschon nur abstrakt, allgemein und damit unwirklich definiert.
Wirkliche Freiheit, konkrete Freiheit, diejenige Freiheit, die bestimmt, gefordert und gewährt werden kann, war nicht das Gegenteil von Gehorsam, sondern nur ihre andere Seite. Die abstrakte, unwirkliche Freiheit des liberalen Intellektes stellte nichts weiter dar als kindischen Ungehorsam, der zur Anarchie ausschlug. Diese Überlegungen Burkes begeisterten mich, da sie mir erklärten, was ich 1968 erlebt hatte. Aber als ich sie in einem Buch formulierte, das 1979 als The Meaning of Conservatism veröffentlicht wurde, verdarb ich mir meine weitere akademische Karriere.
Das zweite Argument Burkes, das mich beeindruckte, war seine subtile Verteidigung der Tradition, des Vorurteils und der Sitten gegen die aufklärerischen Pläne der Reformer. Diese Verteidigung griff wiederum mit meinem Studium der Ästhetik ineinander. Schon als Schulknabe war ich der ausgereiften Verteidigung der künstlerischen und literarischen Tradition begegnet, die Eliot und F. R. Leavis unternommen hatten. Ich war von Eliots Essay Tradition und individuelle Begabung beeindruckt, in dem die Tradition als eine sich ständig entwickelnde, doch zugleich beständige Sache dargestellt wird, die durch jede Ergänzung erneuert wird und die Vergangenheit an die Gegenwart sowie die Gegenwart an die Vergangenheit anpaßt.
Diese Konzeption, die einen den Eliotschen Modernismus verstehen läßt (ein Modernismus, der das genaue Gegenteil desjenigen Modernismus ist, der in der Architektur herrschte), rettete auch das Studium der Vergangenheit und verwandelte meine Liebe zu den Klassikern der Kunst, Literatur und Musik in einen berechtigten Teil meiner Seele als eines modernen Menschen. Burkes Verteidigung der Tradition schien eben dieses Konzept in die Welt der Politik zu übertragen und den Respekt für Sitten, das Establishment und geregelte Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu einer politischen Tugend zu machen, statt zu einem Zeichen für Selbstzufriedenheit, wie meine Zeitgenossen meist glaubten.
Und Burkes provozierende Verteidigung des „Vorurteils“ in diesem Zusammenhang – worunter er die Überzeugungen und Ideen verstand, die gleichsam instinktiv in sozialen Wesen entstehen und die die Basiserfahrungen des Soziallebens widerspiegeln – war die Offenbarung einer Tatsache, die ich bis dahin vollkommen übersehen hatte. Burke machte mir klar, daß unsere unabdingbarsten Überzeugungen aus unserer eigenen Perspektive sowohl ungerechtfertigt sind als auch nicht gerechtfertigt werden können und daß der Versuch, sie zu rechtfertigen, nur zu ihrem Verlust führen kann. Indem wir sie durch die abstrakten Systeme der Philosophen ersetzen, mögen wir glauben, wir seien vernünftiger und besser für das Leben in der modernen Welt gerüstet.
In Wirklichkeit aber sind wir schlechter gerüstet, und unsere neuen Überzeugungen sind weit weniger gerechtfertigt, und zwar gerade deshalb, weil sie von uns selbst gerechtfertigt werden. Die wahre Rechtfertigung für ein Vorurteil ist diejenige, die es als Vorurteil rechtfertigt statt als rationale Schlußfolgerung aus einem Argument.Mit anderen Worten handelt es sich um eine Rechtfertigung, die nicht aus unserer eigenen Perspektive, sondern nur von außerhalb durchgeführt werden kann, so wie zum Beispiel ein Anthropologe die Sitten und Rituale eines fremden Stammes rechtfertigen könnte.
Ein Beispiel soll diesen Punkt veranschaulichen: die Vorurteile, die sich um Sexualbeziehungen drehen. Diese Vorurteile sind von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden, doch bis vor kurzem eignete ihnen ein gemeinsamer Zug, daß nämlich die Menschen ziemliches von unziemlichem Verhalten unterscheiden, daß sie ausdrückliche sexuelle Zurschaustellungen verabscheuen und daß sie Sittsamkeit bei den Frauen und Ritterlichkeit bei den Männern verlangen, wenn es um diejenigen Verhandlungen geht, die der sexuellen Vereinigung vorausgehen.
Es gibt sehr gute anthropologische Gründe dafür, und zwar was die Langzeitstabilität von sexuellen Beziehungen sowie das Engagement angeht, das für die Einführung von Kindern in die Gesellschaft nötig ist. Doch dies sind nicht die Gründe, die ein traditionelles Verhalten von Männern und Frauen motivieren. Dieses Verhalten wird von tiefen und unveränderlichen Vorurteilen bewegt, in denen Empörung, Scham und Ehre die letzten Gründe darstellen.
Für den sexuellen Befreier ist es ein leichtes zu zeigen, daß diese Motive irrational sind, und zwar in dem Sinne, daß sie nicht auf einer durchdachten Rechtfertigung beruhen, die derjenigen Person zugänglich ist, um deren Motive es sich handelt. Er kann daher die sexuelle Befreiung als eine vernünftige Alternative vorschlagen, als Verhaltenskodex, der aus der Sicht der ersten Person vernünftig ist, da er einen vollständigen Kodex für die Praxis aus einem offenkundig vernünftigen Ziel ableitet, nämlich dem sexuellen Vergnügen.
Diese Ersetzung des Vorurteils durch die Vernunft hat nun in der Tat stattgefunden. Und das Ergebnis ist genau das, was Burke vorhergesehen haben würde. Nicht nur ein Zusammenbruch des Vertrauens zwischen den Geschlechtern, sondern ein Stocken im Reproduktionsprozeß – eine scheiternde und abgeschwächte Bindung zwischen den Eltern, und zwar nicht nur untereinander, sondern auch zu ihren Sprößlingen. Zur gleichen Zeit bleiben die individuellen Gefühle, die durch die traditionellen Vorurteile eingehegt und verwirklicht wurden, durch die skelettartigen Strukturen der Rationalität ohne Schutz und Bedeckung zurück.
Daraus resultiert die außerordentliche Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo Gerichtsprozesse die gewöhnliche Höflichkeit ersetzt haben, wo post-koitale Anklagen wegen date-rape die Stelle prä-koitaler Sittsamkeit einnehmen und wo Annäherungsversuche von seiten der Unattraktiven regelmäßig als „sexuelle Belästigung“ bestraft werden. Dies ist ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn das Vorurteil im Namen der Vernunft weggewischt wird, ohne auf die wirkliche soziale Funktion zu achten, die nur das Vorurteil erfüllen kann. Und es war in der Tat unter anderem das Nachdenken über das Desaster der sexuellen Befreiung und der freudlosen Welt, die sie um uns herum geschaffen hat, das mich dazu brachte, die Wahrheit der ansonsten etwas paradoxen Verteidigung des Vorurteils durch Burke zu erkennen.
Das letzte Argument, das mich beeindruckte, war Burkes Antwort auf die Theorie des Gesellschaftsvertrags. Obwohl die Gesellschaft als ein Vertrag angesehen werden kann, so meinte er, müssen wir doch einsehen, daß die meisten Teilhaber an diesem Vertrag entweder tot oder noch nicht geboren sind. Die Wirkung der zeitgenössischen rousseauistischen Ideen vom Gesellschaftsvertrag bestand darin, die gegenwärtigen Mitglieder der Gesellschaft in eine Stellung der diktatorischen Herrschaft über diejenigen einzusetzen, die vor ihnen lebten und nach ihnen kamen. Diese Ideen liefen daher direkt auf die massive Verschwendung ererbter Reichtümer in der Revolution hinaus sowie auf den kulturellen und ökologischen Vandalismus, den Burke vielleicht als erster als Hauptgefahr der modernen Politik erkannte.
In Burkes Augen stellte die selbstgerechte Verachtung für die Vorfahren, die die Revolutionäre kennzeichnete, auch eine Enterbung der Ungeborenen dar. Die Gesellschaft ist, recht verstanden, wie Burke meinte, eine Partnerschaft der Toten, der Lebenden und der Ungeborenen, und ohne das, was er das „Erblichkeitsprinzip“ nannte, gemäß dem Rechte sowohl ererbt wie erworben werden konnten, würden sowohl die Toten als auch die Ungeborenen ihrer Rechte beraubt.
Respekt für die Toten war Burke zufolge sogar der einzige wirkliche Schutz, den die Ungeborenen in einer Welt erlangen konnten, die alle Privilegien den Lebenden verlieh. Seine bevorzugte Vision der Gesellschaft war nicht ein Vertrag, sondern eine Treuhandschaft, bei der die lebenden Mitglieder die Treuhänder einer Erbschaft sind, die sie zu vergrößern und zu vererben suchen müssen. Ich war von diesen Ideen mehr als von allem anderen bei Burke begeistert. In jenen gewandten, besonnenen Gedanken hatte Burke all meine instinktiven Zweifel am Schrei nach Befreiung zusammengefaßt, all meine Zögerlichkeiten im Hinblick auf den Fortschritt und den skrupellosen Glauben an die Zukunft, der die moderne Politik beherrschte und pervertierte.
Burke stimmte im Grunde dem alten platonischen Ruf nach einer Politik bei, die auch eine Form der Sorge wäre – „Sorge um die Seele“, wie Platon es formulierte, die auch die Sorge um die abwesenden Generationen umfassen würde. Die Grafitti-Paradoxa der Achtundsechziger waren das genaue Gegenteil davon: eine Art jugendlicher Sorglosigkeit, ein Wegwerfen aller Sitten, Institutionen und Errungenschaften zugunsten eines vorübergehenden Frohlockens, das keinen anderen dauerhaften Sinn als die Anarchie haben konnte.
Erst viel später, nach meinem ersten Besuch des kommunistischen Europa, gelangte ich zu einem Verständnis und zu einer Sympathie für die negative Energie Burkes. Ich hatte seine positive These verstanden – die Verteidigung des Vorurteils, der Tradition und der Erblichkeit sowie einer Politik der Treuhänderschaft, in der die Vergangenheit und die Zukunft das gleiche Gewicht für die Gegenwart hatten –, doch ich hatte die tiefsinnige negative These nicht verstanden, den Blick in die Hölle, der in seiner Sicht der Revolution enthalten war.
Wie schon gesagt, teilte ich die liberale humanistische Deutung der Französischen Revolution und wußte nichts über die Tatsachen, die diese Deutung gründlich widerlegten und die Argumentation von Burkes erstaunlich hellsichtigem Essay rechtfertigten. Meine Begegnung mit dem Kommunismus brachte dies ins Lot. Der vielleicht faszinierendste und erschreckendste Aspekt des Kommunismus war seine Fähigkeit, die Wahrheit aus den menschlichen Beziehungen zu verbannen und ganze Bevölkerungen dazu zu zwingen, „in der Lüge zu leben“, wie Präsident Havel gesagt hat.
George Orwell schrieb einen prophetischen und eindringlichen Roman darüber; doch kaum ein westlicher Leser dieses Romans wußte, in welchem Ausmaß seine Prophezeiungen in Mitteleuropa wahr geworden waren. Es war für mich die größte Offenbarung, als ich 1979 das erste Mal in die Tschechoslowakei fuhr, mit einer Situation konfrontiert zu sein, in der Menschen jederzeit aus dem Buch der Geschichte getilgt werden konnten, in der die Wahrheit nicht ausgesprochen werden konnte und in der die Partei von Tag zu Tag nicht nur entscheiden konnte, was am nächsten Tag geschehen würde, sondern auch was heute geschah, was gestern geschehen war und was geschehen war, bevor ihre Führer geboren worden waren.
Dies war, so erkannte ich, die Situation, die Burke einer weitgehend skeptischen Leserschaft im Jahre 1790 beschrieb. Und zweihundert Jahre später gab es diese Situation immer noch, ebenso wie die ungläubige Skepsis. Bis 1979 war meine Kenntnis des Kommunismus vollkommen theoretisch gewesen. Ich mochte natürlich nicht, was ich gelesen hatte und war den sozialistischen Ideen der Gleichheit und der Staatskontrolle, von denen ich schon genug in Frankreich und Großbritannien gesehen hatte, gegenüber feindselig eingestellt. Aber ich hatte keinerlei Ahnung was es heißt, im Kommunismus zu leben – ich wußte nichts von der tagtäglichen Demütigung, eine Unperson zu sein, der alle Wege des Selbstdarstellung verschlossen blieben.
Was die damalige Tschechoslowakei angeht, so kannte ich nur das, was ich aus ihrer Musik entnommen hatte. Selbstverständlich hatte ich Kafka und Hasek gelesen – doch sie gehörten zu einer anderen Welt, der Welt eines sterbenden Reiches, und erst später konnte ich erkennen, daß auch sie Propheten waren und daß sie nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft ihrer Stadt beschrieben. Ich wurde gebeten, in einem privaten Seminar in Prag einen Vortrag zu halten.
Dieses Seminar wurde von Julius Tomin organisiert, einem Prager Philosophen, der die Helsinki-Schlußakte von 1975 ausnutzte, welche die tschechoslowakische Regierung angeblich dazu verpflichtete, die Freiheit der Information und die in der UN-Charta definierten Grundrechte zu gewährleisten. Die Helsinki-Schlußakte war eine Farce, die von den Kommunisten dazu benutzt wurde, potentielle Unruhestifter auszumachen, während sie gleichzeitig den leichtgläubigen Intellektuellen des Westens das Antlitz einer zivilisierten Regierung präsentierten.
Dennoch sagte man mir, daß sich Dr. Tomins Seminar regelmäßig treffe, daß ich eingeladen sei, daran teilzunehmen und daß man mich sogar erwartete. Ich kam bei dem Haus an, nachdem ich durch jene stillen und verlassenen Straßen gelaufen war, auf denen die wenigen, die dort standen, mit irgendeinem dunklen offiziellen Geschäft befaßt waren, und in denen die Sprüche und Symbole der Partei jedes Gebäude verunzierten. Das Treppenhaus des Wohnhauses war ebenfalls verlassen. Überall hing das gleiche erwartungsvolle Schweigen in der Luft, wie als wenn ein Luftangriff angekündigt worden wäre und die Stadt sich nun vor ihrer drohenden Vernichtung versteckte.
Vor der Wohnung traf ich jedoch auf zwei Polizisten, die mich packten und meine Papiere verlangten, als ich läutete. Dr. Tomin kam heraus und es folgte eine Auseinandersetzung, während derer ich die Treppe hinuntergeworfen wurde. Doch der Streit ging weiter und es gelang mir, mich an der Wache vorbeizudrücken und die Wohnung zu betreten. Ich fand ein Zimmer voller Leute und das gleiche erwartungsvolle Schweigen vor. Ich erkannte, daß es tatsächlich einen Luftangriff geben würde und daß ich dieser Luftangriff war.
In diesem Zimmer fand sich ein übel zugerichteter Rest der Prager Intelligenzija – alte Professoren in ihren schäbigen Westen; langhaarige Dichter; Studenten mit jungen Gesichtern, denen der Zugang zur Universität wegen der politischen „Verbrechen“ ihrer Eltern untersagt war; Priester und Ordensleute in Zivilkleidung; Romanautoren und Theologen; ein Möchtegern-Rabbi und sogar ein Psychoanalytiker. Und bei allen sah ich die Zeichen des Leidens, die durch Hoffnung gemildert wurden; auch sah ich den gleichen eifrigen Wunsch nach einem Zeichen, daß irgend jemand sich dafür interessierte, ihnen zu helfen.
Wie ich feststellte, gehörten alle zur gleichen Berufsgruppe, der des Heizers. Einige heizten Kessel in Krankenhäusern, andere in Wohnblocks, der eine arbeitete als Heizer auf einem Bahnhof, ein anderer in einer Schule. Einige arbeiteten als Heizer, wo es keine Heizkessel gab, und es waren diese imaginären Heizkessel, die für mich zu einem passenden Symbol der kommunistischen Wirtschaft wurden. Dies war meine erste Begegnung mit „Dissidenten“, denjenigen Leuten, die zu meinem Erstaunen die ersten demokratisch gewählten Führer der Nachkriegstschechoslowakei werden sollten. Und ich fühlte diesen Leuten gegenüber eine unmittelbar Verbundenheit.
Nichts war für sie von so großer Bedeutung wie das Überleben ihrer nationalen Kultur. Da ihnen sowohl materielles als auch berufliches Vorankommen verwehrt wurde, waren ihre Tage mit dem erzwungenen Nachdenken über ihr Land und seine Vergangenheit sowie über die große Frage der tschechischen Geschichte angefüllt, die die Tschechen seit den Tagen Palackys antreibt. Es war ihnen verboten, etwas zu veröffentlichen; die Behörden hatten ihre Existenz vor der Welt verborgen und sich entschlossen, ihre Spuren aus dem Buch der Geschichte zu entfernen. Die Dissidenten waren sich daher in hohem Maße des Wertes der Erinnerung bewußt. Ihr Leben war ein Beispiel für das, was Platon Anamnesis nennt: das Zu-Bewußtsein-Bringen vergessener Dinge.
Etwas in mir reagierte auf dieses ergreifende Streben, und ich war sofort bereit, mich ihnen anzuschließen und ihre Lage der Welt bekannt zu machen. Kurz gesagt, verbrachte ich die folgenden zehn Jahre damit, täglich über den Kommunismus nachzudenken, über die Mythen der Gleichheit und Brüderlichkeit, die seinen unterdrückerischen Routinen zu Grunde liegen, so wie sie auch den Routinen der Französischen Revolution zu Grunde lagen.
Und ich begann zu verstehen, daß Burkes Darstellung der Revolution nicht allein ein Stück Zeitgeschichte war. Es war ähnlich wie bei Miltons „Verlorenem Paradies“ – es handelte sich um die Erkundung einer Region der menschlichen Seele, einer Region, die man zu jeder Zeit besuchen, aus der man aber nur durch ein Wunder zurückkehren kann, und zwar in eine Welt, deren Schönheit danach mit den Erinnerungen an die Hölle behaftet bleibt. Einfach gesagt: Mir war eine Vision von Satan und seinen Werken gewährt worden – die gleiche Vision, die Burke bis in die Tiefen seines Wesens erschüttert hatte.
Und so erkannte ich endlich die positiven Aspekte der Philosophie Burkes als eine Antwort auf jene Vision, als eine Beschreibung des Besten, auf das Menschen hoffen können, und als die einzige hinreichende Verteidigung unseres Lebens auf Erden. Von da an verstand ich den Konservatismus nicht als ein politisches Credo, sondern als eine bleibende Lehre von der menschlichen Gesellschaft, deren Wahrheit stets schwer zu erkennen, noch schwerer zu vermitteln und am schwersten in die Tat umzusetzen sein würde.
Besonders schwer ist dies heutzutage, da die religiösen Gefühle den Launen der Mode folgen, da die globale Wirtschaft unsere heimatlichen Loyalitäten durcheinanderbringt und da der Materialismus und der Luxus den Geist von seiner eigentlichen Aufgabe, dem Leben, ablenken. Ich ergebe mich jedoch nicht der Verzweiflung, da die Erfahrung mich gelehrt hat, daß Männer und Frauen der Wahrheit nur für eine gewisse Zeit entfliehen können, daß sie schließlich immer an die bleibenden Werte erinnert werden und daß die Träume von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sie nur für kurze Zeit begeistern.
Was die Aufgabe angeht, diejenige Philosophie, die Burke der Welt klar dargelegt hat, in die Praktiken und Prozesse der modernen Politik zu überführen, so ist dies vielleicht die größte Aufgabe, vor der wir nun stehen.