Die aufgeregten Europäer, die nach 1918 mit Spengler vom Untergang des Abendlandes raunten, erinnerte Ortega y Gasset 1930 daran, daß es genug nervöse Geister gegeben habe, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an der Zukunft Europas zweifelten oder gar verzweifelten, ungeachtet des besonderen spanischen Falles. Unter dem Eindruck des russischen Imperiums und der allmählich zu einer Weltmacht aufsteigenden USA, im Zusammenhang der beschleunigten wirtschaftlichen Mondialisierung gab es immer wieder traurige, bedenkliche Europäer. Sie fürchteten, daß die Europäer, eingeklemmt zwischen die beiden Giganten, alsbald nur noch eines gesichert besäßen: die Erinnerung an das, was sie einmal gewesen waren. Den Abstieg als Gefahr vor Augen gab gerade die Erinnerung Anlaß, sich die Gegenwart zu verbittern.
Den desillusionierten Spaniern wurde nach dem Verlust Amerikas um 1820 ihre gesamte Geschichte seit der Entdeckung Amerikas fragwürdig. Doch ebenso fragwürdig kamen ihnen die siegreichen Ideen und die für sie werbende Zivilisation des american way of life vor. In der Demokratie sahen diese Enttäuschten die Herrschaft der minderen Werte, im Parlamentarismus ein System zur Verfestigung allgemeiner Korruption. Das Königtum hatte sich, wie es hieß, als unfähig erwiesen, der Nation zu überzeugender Gestalt zu verhelfen. Die Botschaft demokratisch bestimmter Humanität der US-Amerikaner galt ihnen nur als Vorwand für irrationale Produktion und ausufernden Konsum, worin sich die amerikanisch-kapitalistische Zivilisation erschöpfe. Laßt uns also auf einen Führer warten, der die Gesellschaft erneuert, ihr mit sittlichem Ernst ein Rückgrat verschafft und sie zu einem anspruchsvollen Leben mitreißt, der die großen Leidenschaften erweckt und allen ein opferwürdiges Ziel weist!
Von solchen Vorstellung war der junge Ortega y Gasset geprägt. Ein tragisches Lebensgefühl sollte aus der lähmenden Mittelmäßigkeit herausführen, der heroische Geist des Don Quijote alle durchdringen. Eine Eneuerung, eine regeneración im Anschluß an Don Quijote schien der Aufforderung: Brechen wir auf, Barbarisches zu tun, nicht zu widersprechen. Wer das Leben verachtet, gewinnt es. Es lebe der Tod. Denn erst muß alles Verwesende, Verfaulende abgestorben sein oder beseitigt werden, damit sich endlich neues Leben über dem Schutt der Vergangenheiten entfalten könne. Nirgendwo in der alten Welt wurde um 1890 mit solcher Schärfe mit dem eigenen Untergang zugleich der des Abendlandes verkündigt, und es wurden Medikamente zur Genesung vorgeschlagen, mit denen das übrige Europa nach 1918 experimentierte.
Die desmoralización der Europäer, die Ortega y Gasset 1930 im Aufstand der Massen beschäftigte, äußerte sich für ihn neben dem Machtverlust vor allem in der inneren Uneinigkeit, in der offenkundigen Unfähigkeit der Politiker und Parteien, ein gemeinsames politisches Leben zu organisieren, der Gesellschaft ein Lebens- und Arbeitsprogramm als verbindliche Aufgabe auferlegen zu wollen oder zu können. Den Staat betrachtet Ortega y Gasset als bewegende Kraft, als Willen, der die nebeneinander Lebenden dazu bringt, gemeinsam etwas zu machen. Ein gesellschaftliches Leben ohne Imperative, zum Handeln treibende Imperative, mußte sich seiner Ansicht nach in willkürlichen Improvisationen verwirren. Er hoffte auf den Schrei, der den herbeirufe, der befehlen kann, der Aufgaben stellt, der den Massen ihr Schicksal weist und erläutert. Entdekken die führerlosen und ungebärdigen Massen endlich ihre Pflicht, tätig an dem mitzuwirken, was alle angeht, dann wird sich auch die soziale Zerrissenheit erledigen, weil alle Klassen zu einer großen Gemeinschaft verschmelzen, die der politische Körper mit seiner intensiven Lebendigkeit veranschaulicht.
1930 wollte Ortega y Gasset in der Republik den Führer, den dynamischen Anreger zu Ernst, Gehorsam und gemeinnütziger Dienstverpflichtung erkennen. Aber ihm waren auch andere Regierungsformen willkommen, wenn sie nur die Trägheit und Spannungslosigkeit überwanden und einem aristokratischen Lebensentwurf verpflichtende Kraft verliehen, äußerste Ansprüche an sich selbst, wie Don Quijote, und nicht an die anderen zu stellen. Ortega y Gassets Überlegungen zu dem Mangel am Selbstvertrauen und einer das authentische Leben der Nation verwirkende Verantwortungslosigkeit der politischen Führer als „Massenmenschen“ sind nicht sonderlich originell. Er faßt nur geistreich Zweifel und Ängste zusammen, die im fin de siècle überall in Europa besprochen wurden. Unabhängig von den Ungewißheiten, wer in Zukunft noch Weltmacht bleiben könne oder wie eine europäische Einigung zu erreichen sei, um Europa in der Welt seine Stellung zu sichern, machten sich trotz des offiziellen Fortschrittsglaubens: immer höher, immer weiter, immer schneller Dekadenzängste oder Kulturpessimismus bemerkbar. Im „jungen“, siegreichen, kraftstrotzenden Deutschland genau so wie im zweimal – 1815 und 1871 – besiegten, „veraltenden“ und überreifen Frankreich.
Max Nordau, ein in Paris lebender deutscher Jude aus Budapest, raffte 1892 die unübersichtlichen Stimmungen und Befürchtungen in dem einprägsamen Schlagwort zusammen: Dégénérescence oder „Entartung“. Mit den konventionellen Lügen der Kulturmenschen hatte dieser ungeduldige Liberale 1883 die Europäer bekannt gemacht. In einer Welt, in der alles Lüge und unwahr ist, muß die Kunst, die sich im Wahren und Schönen offenbart, unweigerlich „entarten“ und kann in ihrer Entartung nur noch den moralischen und unaufhaltsamen physischen Niedergang der Europäer als „Luftmenschen“ – entwurzelte Großstädter – veranschaulichen. Nordaus damals ungemein erfolgreiche Analyse des europäischen Verfalls erweiterte pointensicher die viel frühere Beobachtung von Richard Wagners Loge. Als die den konventionellen Lügen der Kulturmenschen erlegenen Götter im „Rheingold“ nach dem Sicherheit und Schutz verheißenden Walhall aufbrechen, bemerkt Loge, der Eigensinnige und Intellektuelle: „Ihrem Ende eilen sie zu, / die so stark im Bestehen sich wähnen“. Richard Wagner galt nicht umsonst neben Ibsen als der Tragöde der bürgerlichen Welt, die sich in banger Erwartung ihrer Götterdämmerung am Ende aller Sicherheit wähnte.
Wie in der verlöschenden Spätantike, beim Untergang Roms, ließen sich dennoch köstliche Nuancen dem unabwendbaren Geschick abgewinnen: etwa noch einmal am Ende allmählichen Verfalls goldprunkend ein Akrostichon zu dichten, während am Horizont die weißen Barbaren auftauchen. Die großen Dichter der Décadence – von Baudelaire bis Verlaine und hin zu Stefan George – fanden in ihrer „Spätantike“ zu neuen Worten und Klängen, die in raffinierte, hermetische „Ausdruckswelten“ hineinführten und das Treibhaus, den Sumpf oder die lagunenfeuchte Schwüle bürgerlicher Zustände für Augenblicke vergessen machten. Die „schöne Décadence“ war freilich auch nur ein hilfloses Mittel verworrener Bürgerlichkeit, der Unsicherheit einen Reiz abzugewinnen und das Dasein wenigstens ästhetisch rechtfertigen zu können. Die Décadents, Richard Wagner, den sie als ihren Gott feierten, und Nietzsche, der abgefallene Erzengel des Meisters, der Luzifer ästhetischer Weltbezwingung, wollten allerdings über das Schöne in die authentische Welt leiten, auf geistige Substanzen hinlenken, die kaum noch zu ahnen waren unter dem pompösen Zierat, mit dem die Bourgeoisie ihre Nichtigkeit feierlich umhüllte.
Wer immer die Welt ästhetisch rechtfertigte und die Befreiung des Menschen nicht zuletzt als Emanzipation vom schlechten, alles Edle erstickenden Geschmack verstand, mußte sich konsequenterweise gegen den häßlichen Bürger und seine die Welt entzaubernden und entstellenden, häßlich machenden Absichten wehren. Der Bürger ist der Egoist, der nur seine Geschäfte kennt, seinen Erfolg darin sieht, andere zu übervorteilen, um selber nicht benachteiligt zu werden. Der bürgerliche Kapitalist, der das Geld, dessen Macht ihn umtreibt, endlich über den ganzen Globus jagt, kennt nur eine Freiheit: ungehemmt mit den Geldströmen mitfließen zu können. Das Vaterland, die Nation, gebraucht er als feierlichen Vorwand, sobald beides seinen Geschäften nutzt. Stehen sie seinen Interessen im Wege, dann beschwört er als Kosmopolit die allgemeine Menschlichkeit, die der Menschheit dienende Handels‑, Wettbewerbs- und Marktfreiheit.
Das Geld ist der allgemeine Wert aller Dinge. Es hat die Menschen, die Einrichtungen ihres Zusammenlebens, die Natur, die Kultur ihres eigenen Sinnes beraubt und verwandelt alles zu verwertbarer und konsumierend bewertbarer Ware in den Zusammenhängen rein ökonomischer Zweckmäßigkeit. In einer veräußerlichten Umwelt, in der der Mensch den Menschen und die Natur nur als Fremdes und Befremdendes erlebt, muß unweigerlich die Kunst gleichsam sprachlos werden und sich der Jargons der Unterhaltungsindustrie bedienen, um die entfremdeten Kunden oder Verbraucher erfolgreich abzulenken und blendend zu amüsieren. Das war die Sorge Wagners. Das war früher schon die Sorge Pierre-Joseph Proudhons, seines freiheitlich-antikapitalistischen Lehrers. Das war die Sorge des jungen Karl Marx. Karl Marx hielt den Bürger für antisozial wie den Juden. Der Bourgeois wie der Jude vermögen nichts Neues zu schaffen. Sie ziehen die Weltverhältnisse in den Bereich ihrer Betriebsamkeit zum Zwecke egoistischer Gewinnmaximierung. Darüber erweist sich der Jude als kein besonderes, von der bürgerlichen Gesellschaft unterschiedenes Glied. Vielmehr ist er, wie Karl Marx lakonisch bemerkte, der typische Ausdruck „von dem Judentum der bürgerlichen Gesellschaft“.
Die kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft des uneingeschränkten Egoismus zerreißt alle geselligen Bande. Das sagten Fourier, Proudhon, die Sozialisten, das sagte Karl Marx, das sagten Konservative oder Reaktionäre wie de Maistre, Bonald oder Paul de Lagarde und Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. Die kapitalistische Internationale veräußerlicht alle sittlichen, natürlichen oder künstlerischen Verhältnisse und Eigenheiten. Um seine „Menschheit“ zurückzugewinnen, muß sich der Bourgeois zusammen mit dem Juden von der kapitalistischen Gesinnung und Praxis befreien. Beide müssen sich gemeinsam durch Vernichtung ihrer Bürgerlichkeit zum Menschen befreien. Der häßliche Bürger und der häßliche Jude als Diener des häßlichen Kapitals verschmolzen für Sozialästheten, zu denen Proudhon, Marx und Wagner gehörten, zu einer möglichst zu überwindenden Figur. Zu überwinden durch ästhetische Erziehung im Sinne Schillers, der zuerst die entsetzliche Entfremdung des Menschen in der geistlosen, mechanischen Welt staatlicher und kapitalistischer Routine beschrieb.
Die Rettung kann nur von der Kunst, von dem Künstler kommen, der die Stimmen der Natur und der Götter versteht und deren Botschaft zu übersetzen vermag. Pierre-Joseph Proudhon hoffte auf diesen Künstler. Richard Wagner beanspruchte, der Ersehnte zu sein. Für die meisten antibürgerlichen, antikapitalistischen und antijüdischen oder schon antisemitischen Europäer war er der „Meister“, der den Weg ins Freie wies, in eine „unbürgerliche“ Welt der Schönheit, in der jeder als „Vollmensch“ zur „Lebenstotalität“ gelangt, seinem freien Instinkte folgt, die ihn in Übereinstimmung mit der Regelmäßigkeit einer wohlproportionierten Ordnung halten, die kein jüdisch-christliches Erbe mit seiner Lebensfeindlichkeit aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag.
Die Zukunft tritt erst in ihr Recht, sobald die schreckliche Vergangenheit vernichtet worden ist, also nach der Götterdämmerung. Nach der „schöpferischen Zerstörung“ Brünhildes, die Wagners Freund Bakunin wortprunkend feierte. Denn neues Leben blüht nur aus Ruinen. Und der Lebende hat Recht, woran Schiller und seine dankbaren Leser Marx und Wagner, wie deren europäische, schönheitstrunkene Gefolgschaften, nicht zweifelten. „Schöpferische Zerstörung“ meint die Vernichtung der bürgerlichen Welt, der Welt der Lüge, der ideologisch-historischen Kostümierung von Ausbeutung und von ihr ablenkender Kunst- und Unterhaltungsindustrie. Der Liberalismus und der Parlamentarismus sind unter solchen Voraussetzungen nur ein großer Vorwand, um den bürgerlichen Egoismus zu kaschieren, der für seine Vorteile einer in sich uneinigen Gesellschaft bedarf, darum bemüht, die Bündelung aller Kräfte unbedingt zu verhindern und einen élan vital der Gesellschaft zu ersticken, die sich als Volk erkennt und als Volksgemeinschaft lebt und handelt.
Es waren Bürger, die sich enttäuscht vom Bürgertum abwandten, vermutend, daß der Liberalismus zu all den neuen sozialen Fragen, die sich durch die Industrialisierung und deren Folgen aufdrängten, keine Antwort wüßten. Wer sich nicht zum Sozialismus bekehrte, der konservativen Klagerituale aber überdrüssig war, der bewegte sich in einem Zwischenraum, der weder rechts noch links lag und auf keinen Fall in der Mitte. Der Nationalismus bewahrte seine Anziehungskraft. Denn in jakobinischer Tradition sollte der irritierende Pluralismus in einer neuen Einheit, einer nationalen volonté générale überwunden werden.
Die Nation verlieh aber auch dem Sozialismus eine werbende Überzeugungskraft. Die Klassengegensätze können nur in der unter sich einigen Nation versöhnt werden, die zu einem Sozialkörper verschmilzt, zu einer Volksgemeinschaft. Der Nationalismus muß in dieser sozial werden und den Sozialismus als nationale Bewegung anerkennen. Der Sozialismus wendet sich gegen die Ausbeutung, gegen das internationale Kapital, gegen die bürgerlichen Plutokraten, die Fremde fördern, sich fremder Kapitalien bedienen, und gegen die Internationale der Juden und Freimaurer, der Ultramontanen und der Jesuiten. Der Nationale Sozialismus, ein „Erlebnis“, das um 1890 in Frankreich von Maurice Barrès am umfassendsten erläutert wurde, konnte den Verführungen gar nicht entgehen, die der Rassegedanke und eine politisierte Biologie bereithielten. Der antibürgerliche Protest richtete sich auch gegen die bürgerliche Individualisierung.
Individualisierung bewirkt, wie es hieß, Zersplitterung, Atomisierung und Entfremdung. Der Mensch muß wieder verwurzeln, fest in den Boden eindringen, aus dem er hervorging. Seine Freiheit findet er, wenn er sich freiwillig den kollektiven Forderungen unterwirft, die der Boden, das Blut, die Ahnenerbe und Volkstum unerbittlich stellen. Jeder kann sich aus seiner Vereinzelung lösen und zurück zur rassischen, volkhaften Gemeinschaft finden, sich ganz der Nation anverwandeln und zu deren Ausdruck werden. Im Frankreich um die Jahrhundertwende stellt sich nicht so sehr die Frage, wer als Rassist argumentierte, sondern wer sich überhaupt von rassegeschichtlichen Spekulationen freizuhalten wußte. Sie sind auf jeden Fall mit antiliberalen und antidemokratischen Tedenzen verbunden. Gobineaus Versuch über die Ungleichheit der Rassen ist vor allem ein leidenschaftliches Pamphlet gegen die Republik und den demokratischen Gedanken. Der Antiliberalismus, der zum Denken in Rassengesetzen gehört, führt dann auch zum biologisch begründeten Antisemitismus, der den Juden als liberalen Kapitalisten und Internationalisten aus der „Volksgemeinschaft“ verwies.
Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Antikapitalismus, Antiklerikalismus und Antisemitismus, die alle zusammen den antibürgerlichen Affekt ausmachen, blieben Stimmungen, mächtige, vor sich hin wuchernde Stimmungen, ohne je systematisiert worden zu sein. Sie bilden den Boden, auf dem sich später der Faschismus und der Nationalsozialismus ausbreiten konnten. Ideen lassen sich am besten beobachten in Zeiten, in denen sie nur als Ideen vorgetragen werden und noch nicht zur Macht gelangt sind oder von Mächtigen zur Macht gemacht wurden. Zeev Sternhell unterrichtet über den europäschen „Faschismus“ an Hand französischer Gedankenentwicklungen und einer französischen desmoralización seit 1890 und zugleich über die Bildung revolutionärer Abwehrkräfte, um eben zu einer neuen nationalen Lebendigkeit zu kommen.
Den großen Verneinungen stehen die großen Bejahungen zur Seite: Ein neuer Mensch, eins mit einer wahrhaften nationalen Kultur, die ihn befreit von den lebensfeindlichen Mächten trockener Rationalität und Funktionstüchtigkeit, die vielmehr die Leidenschaften wieder in ihr Recht setzt, den Enthusiasmus weckt, die Sinne rehabilitiert und alle in ein nationales Leben hineinzieht, das jedem zu einer gesteigerten Existenz verhilft, das Individuum hinter sich lassend, in seiner Person die Nation, deren mythische Vitalität, zu verkörpern. Dies alles waren recht unbestimmte Versprechen. Es waren Versprechen, die überall in Europa gemacht wurden und die mit einer schweifenden Phantasie erweitert und ausgeschmückt werden konnten. Darin lag ihre Anziehungskraft, in der Verheißung eines „schöneren Lebens“, und in der Möglichkeit, mit diesen Ideen „das Leben“ zu revolutionieren. Schließlich wollten alle antibürgerlichen Kräfte nur eines: die Revolution, den Umsturz der bürgerlichen Ordnung, die sich als Unordnung und willkürlicher Zwang äußerte.
Nicht alle Kritiker des Parlamentarismus um 1900 waren allerdings unbürgerlich oder antibürgerlich. Die einflußreichsten und mächtigsten wünschten autoritäre Systeme. Mit ihnen sollte gerade die bürgerliche Liberalität als Freiheit, Geschäfte machen zu können, vor revolutionären Anschlägen geschützt oder die Leere, die der Liberalismus erzeuge, durch vorzugsweise christkatholische Sinngebung möbliert werden. Der Bürger, aus Angst vor der Revolution von unten, die seine Kapitalien bedroht, war gerne bereit, die Revolution von oben hinzunehmen, die nahm ihm vielleicht seine parlamentarische Mitbestimmung, aber schützte den urbürgerlichen Drang, dem des Gewinnstrebens.
Der Erfolg ist der Ruhm des kleinen Mannes, wie Aristokraten spotteten. Aber sie hatten ohnehin nichts mehr zu sagen. Ein apokalyptisch gestimmter katholischer Aristokrat und Spanier, Juan Donoso Cortés, hatte 1848 die Diktatur des Säbels gewünscht, um der Diktatur des Dolches zu entgehen. Er hatte damit für die folgenden hundert Jahre der Bourgeoisie das Stichwort geliefert. Sie fürchtete den Sozialismus, verachtete den Säbel, war aber allemal erleichtert, wenn ein General, zuletzt nur noch ein effizienter Trommler, für Ordnung sorgte, also für die Grundlagen bürgerlicher, gewinnträchtiger Geschäftigkeit.
Der „starke Mann“, der nationale Sozialismus, die Revolution von oben, um die von unten zu vermeiden, bürgerliche Ängste und antibürgerliche Dynamik verknäulten sich unentwirrbar. Der Bürger hatte nie den Mut, revolutionär zu werden. Die Revolution fürchtete er. Das war Sozialismus oder Kommunismus oder sonst etwas zutiefst ungeheuerliches und unchristliches. Wenn der Bürger sich ängstigte, besann er sich in der Regel auf das katholische Christentum, das er in solchen Stunden wie ein stark alkoholisiertes Kölner Beruhigungsmittel jedem enervierten Klassenfreund empfahl: Nie ist er so nötig, wie jetzt. Aber die diffusen, vereinzelten Jugendbewegungen gegen die bürgerliche Erstarrung wollten ja nicht nur die Nation den Bürgern entreißen und den Sozialismus den Kommunisten. Sie wollten vor allem die Revolution für sich als Parole zurückgewinnen. Bolschewisten oder Kommunisten galten den antibürgerlichen Protestlern jenseits von rechts und links, jenseits von all den bürgerlich-liberalen Postulaten, nur als Bastarde eines ohnehin verwesenden Liberalismus. Sozialisten und Kommunisten können gar keine richtigen Revolutionäre sein, weil vollkommen befangen im liberalen Materialismus und der doch längst entzauberten Fortschrittsidee.
In Deutschland gab es nach 1918 Gruppen, die sich als konservative Revolutionäre verstanden. Diese paradoxe Wortverknüpfung gibt es in Italien, Spanien oder Frankreich nicht. Aber eine antibürgerliche, revolutionäre Haltung gab es dort unter Katholiken, schweifenden Sozialisten, unzufriedenen Reaktionären, enttäuschten Humanisten, die nach einem neuen Staat, nach einer neuen Gesellschaft, nach neuen Menschen und neuer Lebensfreude verlangten, nach Sonderwegen, die weder bürgerlich noch sozialistisch waren, also gar nichts mit den Ideen von 1789 zu tun hatten, dem liberalen Pluralismus. Was wir gemeinhin Faschismus nennen, ist um 1900 als suggestives Ideengewebe längst vorhanden. Suggestiv für Intellektuelle, überall in Europa, weil den Vers Shakespeares bestätigend: Wir sind aus solchem Stoff, wie der zu Träumen. In diesen Faschismus, bevor er mächtig ins Leben trat, ließ sich vieles hineinträumen, hineindenken oder hineinlegen.
Der Faschismus hatte schon seine Epoche, bevor er sich in seiner Epoche nach dem Großen Krieg sehr auffällig bemerkbar machen konnte. Die europäische desmoralización wurde nach 1918 nur radikalisiert und intensiviert in Fortsetzung von Enttäuschungen und Entzauberungen, die seit 1890 ein gemeineuropäisches Phänomen sind, wie Ortega y Gasset 1930 bemerkte. Zu einer Zeit, als Spanien in eine Republik aufbrach, während die übrigen Europäer, vom Versagen des Liberalismus vor, im und nach dem Krieg, nach antirepublikanischen Lösungen suchten. Was nicht heißt nach undemokratischen. Denn die großen antibürgerlichen Bewegungen, der russische Bolschewismus, der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus verstanden sich doch als demokratische Kräfte, die Massen an dem beteiligen, was alle angeht und aus den Massen Führerpersönlichkeiten gewinnen, die als Vordenker und Vorarbeiter die ununterbrochene Revolutionierung, die schöpferische Zerstörung vorantreiben.
Die „konservative Revolution“ machte den Kommunisten ihr revolutionäres Monopol streitig, aber auch den Faschisten oder Nationalsozialisten. Als antibürgerliche Bewegung war sie den meisten Bürgern nicht geheuer. Sie war nie eine bewegende Kraft in den Weimarer „bürgerlichen“ Zeiten. Die Übergänge zum Faschismus oder Nationalsozialismus sind zuweilen ungehemmt, was sie später um ihr Ansehen brachte. Aber es gibt dennoch Unterschiede. Wenn Franzosen verstört darauf reagieren, daß einige ihrer geistreichsten Intellektuellen den „Faschismus“ begründet hätten, haben sie Recht. Es gab keine Faschisten vor den Faschisten. Es gab allerdings Gedanken, die der Faschismus oder Nationalsozialismus aufgreifen und weiter entwickeln konnte. Es gab die vagen „konservativen Revolutionäre“. Ihnen genügte oft ein „autoritäres Regime“, das sich später in der Regel nur halten konnte, wenn es Faschisten und Nationalsozialisten, ohnehin meist Minderheiten außerhalb Deutschlands und Italiens, kontrollierte und unter Umständen „liquidierte“. Außerhalb von Italien und Deutschland waren die konservativ-autoritären Kräfte, gestützt von einer Armee, meist Herr der „faschistischer Bedrohung“. In Deutschland dauerte es einige Jahre, bis die Armee entmündigt und gleichgeschaltet worden war.
Sowohl in Italien wie in Deutschland glaubten anfänglich rechte „Antifaschisten“ stärker zu sein als ihr Gegner. Die „konservativen Revolutionäre“ hatten sich schwer getäuscht, als sie den revolutionären Jargon des antibürgerlichen Nationalen Sozialismus, nach dem sie selber strebten, wörtlich nahmen.
Der Antifaschismus ist ein Kampfbegriff der Komintern. Sie erklärte jeden Gegner und Feind zum Faschisten. Die Sozialdemokraten wurden zeitweise als „Sozialfaschisten“ diskriminiert. Der Gegner der Kommunisten waren die „Nazis“. Da heute der Antifaschismus als Begriff genauso verwandt wird, wie die Komintern es vor bald achtzig Jahren nahelegte, gehört es zu den extremen politischen Unkorrektheiten den „Nazismus“ bei seinem wahren Namen zu nennen, dem Nationalsozialismus. Der hat eine überraschende Vergangenheit, überraschend nur für dogmatische Sozialisten, die Revolution und Sozialismus für ein linkes „Projekt“ halten.
Die Welt war immer unübersichtlicher als es sich die Ideologen erwarteten, zumal seit dem Ende aller Sicherheiten im fin de siècle. Der Nationalsozialismus ist längst besiegt, der Faschismus hat sich ohnehin erledigt und der Kommunismus ist tot. Ein paar sinnlose Vokabeln wie „Nazi“ und „Faschist“ erinnern an untergegangene Welten, die dennoch für die längst unbürgerlichen Überlebenden Irritationen bereithalten. Sie wollten soziale Sicherheit im nationalstaatlichen Rahmen. Sie wollten sich nicht wie Don Quijote auf das Wagnis des Lebens einlassen. Doch das Leben ist gefährlich, gerade im liberal-verträumten Sozialdemokratismus eines sehr korrekten Antifaschismus der „Besserverdienenden“, der allen „Sozialschwachen“ empfiehlt, sich auf nichts zu verlassen und frohgemut der faschistischen Devise zu folgen: Lebe gefährlich, auf eigene Faust, ohne der postfaschistischen Solidargemeinschaft an Stelle der Volksgemeinschaft lästig zu fallen.