Von seiten zahlreicher Kommentatoren wurde in der Tat immer wieder die Behauptung aufgestellt, niemand anderes als der politische Philosoph Leo Strauss (1899–1973) sei die geistige Inspirationsquelle für eben jene Politik, die auch wie im Falle der angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen vor dem Einsatz „edler Lügen“ bei der Rechtfertigung der Kriegspolitik nicht zurückschrecke. Insbesondere gab dazu die Tatsache Anlaß, daß der Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz in den sechziger Jahren unter anderen auch bei Leo Strauss und dessen Schüler Allan Bloom (1930–1992) studierte, sowie daß ein hochrangiger Beamter des Pentagon, der Leiter des für Desinformationen verantwortlich gemachten Office of Special Plans, Abram Shulsky, ebenfalls ein Straussianer ist (Seymour Hersh: Annals of National Security. Selective Intelligence, New Yorker, 5. Mai 2003). Indem besonders auf die von Leo Strauss wieder ins Bewußtsein gebrachte Unterscheidung von Esoterik und Exoterik der Philosophie – das Problem der rhetorischen Darstellung philosophischer Gedanken in bezug auf bestimmte Adressaten sowie unter Bedingungen der Verfolgung in unfreien Gesellschaften – rekurriert wurde, meinte man, in Strauss’ angeblich machiavellistischer Konzeption die ideologische Grundlage für das verwerfliche Handeln der Bush-Regierung ausmachen zu können – so als bedürfte irgendeine Regierung derartiger Lektionen. Dabei wurde indes auch vor den abenteuerlichsten Behauptungen nicht Halt gemacht, die zusammen mit einer ganzen Reihe unrichtiger Fakten die zahllosen Artikel zum Thema der „Leo-Konservativen“ (so der Spiegel vom 4. August 2003) nur sehr eingeschränkt und jedenfalls nicht ohne nähere Überprüfung brauchbar erscheinen lassen (etwa, wenn behauptet wurde, Strauss sei 1999 im Alter von hundert Jahren oder Bloom erst 2000 gestorben, wodurch ein wesentlich zeitnäherer Einfluß suggeriert wurde als er überhaupt je stattgefunden haben kann). Die Verteidigung Strauss’ von Seiten seiner Anhänger konnte jedoch auch nicht immer überzeugen: Eine erste Antwort im neokonservativen Weekly Standard von Peter Berkowitz (What Hath Strauss Wrought?, 2. Juni 2003) widerlegte keine der vorgebrachten Anschuldigungen, sondern tat sie lediglich als offenkundigen Unsinn ab.
Was ist nun von der Behauptung zu halten, Leo Strauss’ Philosophie sei maßgeblich für jene Neokonservativen, die die Außenpolitik der Bush-Regierung angeblich bestimmen? Tanzen die Neokonservativen tatsächlich einen Walzer von Strauss – nur diesmal nicht von Johann, sondern Leo (Jim Lobe: Neocons dance a Strauss waltz, Asia Times Online, 9. Mai 2003)? Sowohl linke wie rechte Kritiker schienen sich in diesem Punkt einig zu sein, gelegentlich auch mit verschwörungstheoretischem Unterton versehen, vor allem im Zusammenhang mit dem früheren „Trotzkismus“ mancher Neokonservativen (Robert Misik: Bolschewismus von rechts, taz, Nr. 7006, 17. März 2003). Wie jedoch die angebliche gleichzeitige Mischung aus revolutionärem Eifer des Trotzkismus und konservativem Straussianismus der Neokonservativen die Politik beeinflussen sollte, mußte rätselhaft bleiben (Ian Buruma: Revolution from Above, New York Review of Books 50/7, 1. Mai 2003), auch wenn es einzelne extrotzkistische Neokonservative gibt, die eine interventionistische Irak-Politik verfochten, ohne jedoch Straussianer zu sein (Stephen Schwartz: Trotskycons? Pasts and present, National Review Online, 11. Juni 2003). Immerhin konnte die Annahme, Strauss habe entscheidenden Anteil an der ideologischen Formierung des Neokonservatismus gehabt, durch Verweis auf dessen anerkannten Gründungsvater, Irving Kristol, plausibilisiert werden, da dieser mehrfach auf den prägenden Einfluß von Strauss hingewiesen hatte (Neoconservatism. The Autobiography of an Idea, New York 1995). Kristol unterstützte die Politik der Bush-Regierung, versäumte aber schon früher nicht den Hinweis, man habe Strauss nicht studiert, um vorgefertige politische Meinungen zu entdecken – ein Hinweis, von dem man während der hitzigen Debatten der letzten Monate nicht viel hören konnte. Kristol streitet daher ab, es gebe klar umrissene neokonservative Überzeugungen in bezug auf die Außenpolitik, die mehr sind als allgemeine Lehren aus der Geschichte. Leo Strauss und Donald Kagan sei es zu danken, daß Thukydides’ Geschichte des peloponnesischen Krieges der neokonservative Lieblingstext geworden sei (The Neoconservative Persuasion, The Weekly Standard Nr. 47, 25. August 2003) – wogegen an sich nichts einzuwenden wäre, neigten manche Neokonservative nicht zu einer etwas naiven Identifikation der (hegemonialen oder imperialen) USA mit Athen (wie z. B. Dinesh D’Souza: What´s so Great about America, New York 2003).
Zugleich mit der Trotzki-Connection tauchte auch ein Strang der Argumentation auf, der durch die Verknüpfung von Leo Strauss mit Carl Schmitt den ersteren und damit über das Schema von „guilt-by-association“ die US-Regierung in den Geruch des „Faschismus“ bringen sollte, ein vor allem bei Intellektuellen beliebter Argumentationsersatz. Abgesehen von der politiktheoretisch naiven Beschwerde über das Aufleben von Freund-Feind-Bestimmungen, die mit dem verborgenen Einfluß von Carl Schmitt in Zusammenhang gebracht werden könnten, machte sich die Kritik an einer frühen Äußerung von Strauss fest, die sich in seiner Besprechung von Schmitts Der Begriff des Politischen von 1932 findet (Heinrich August Winkler: Wenn die Macht Recht spricht, Zeit, Nr. 26, 18. Juni 2003). Strauss hatte dort an Schmitt kritisiert, dieser verbleibe noch im Rahmen des von ihm polemisch bekämpften Liberalismus; es sei ihm nicht gelungen, einen „Horizont jenseits des Liberalismus“ zu gewinnen. Strauss habe so seinen gelehrigen Schülern in der heutigen Regierung den Weg „der Vollendung der Liberalismuskritik von Carl Schmitt“ gewiesen. Nun ist es zwar richtig, daß Strauss sich früh für die „rechte Option“ entschied. Doch ist seine Kritik an Schmitt fundamental darauf gerichtet, dessen moderne Denkvoraussetzungen in Frage zu stellen. Strauss tut dies, indem er sich den antiken Philosophen zuwendet, die für ihn eben jenen Horizont jenseits des Liberalismus darstellten, welcher für Schmitt aufgrund seines Offenbarungsglaubens nicht wiederhergestellt werden konnte.
Nach Walter Laqueurs Einschätzung (Amerikas Neokonservative sind keine bösen Geister, Welt, 12. Juni 2003) hat Strauss sich kaum für Tagespolitik interessiert – woran man zweifeln mag. Er hat indes Recht, wenn er betont, daß Strauss die außenpolitische Orientierung seiner Schüler nicht beeinflußt habe. Hier dürfte neben Vorstellungen aus der Hochphase des Kalten Krieges der Einfluß eines Strategen wie Albert Wohlstetter stärker zu veranschlagen sein, als dessen Schüler z. B. Richard Perle, James Woolsey sowie Paul Wolfowitz gelten (Elizabeth Drews: The Neocons in Power, New York Review of Books 50/10, 12. Juni 2003; Neil Swidey: The Analyst, Boston Globe, 18. Mai 2003).
Unter dem Strich wird man nicht sagen können, daß die Debatte über Strauss und die Neokonservativen viel zur Klarheit beigetragen hätte. Die Frage Steven Lenzners und William Kristols, was Strauss eigentlich wollte (What was Leo Strauss up to?, The Public Interest Nr. 153, Herbst 2003), wird man nur durch sorgfältige Lektüre seiner Schriften beantworten können. Lenzner/Kristol sehen immerhin einen Zusammenhang von Strauss’ politischer Philosophie mit Bushs Konzept des „regime change“, das ein Mittelding zwischen einem illusionären globalen Universalismus und einem fatalistischen Kulturdeterminismus sei. Auch wenn es wahr ist, daß der eine oder andere „Straussianer“ in die Machtzentren Washingtons aufgestiegen ist, so bleibt doch zweifelhaft, ob sich die gegenwärtige US-Politik in ihren bedenklichen Aspekten auf die Lektüre der Werke Strauss’ zurückführen läßt. Die Annahme, Strauss sei der ideologische Quell für imperiale Bestrebungen in der Bush-Regierung, stieß denn auch nicht zuletzt auf das Befremden seiner Tochter, die in den Zerrbildern der Feuilletons ihren Vater nicht mehr wiedererkennt (Jenny Strauss Clay: The Real Leo Strauss, New York Times, 7. Juni 2003): Strauss habe die freiheitliche Demokratie verteidigt, war aber nicht blind für ihre Schwächen; er habe den Utopismus verachtet, der im 20. Jahrhundert von Nationalsozialismus und Kommunismus repräsentiert wurde, und war deshalb „ein Feind jedes Regimes, das nach globaler Vorherrschaft strebte.“