Von vielen Gründen, die dafür ausschlaggebend sein könnten, sollen hier nur einige genannt werden.
Ein Faktor dürfte sicherlich sein, daß die wissenschaftliche Erforschung des Militärs und der Kriegsführung zu einer relativ jungen „Fakultät“ gehört, deren Ursprünge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen, die ihre volle Entfaltung aber eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat.
Der Sachgegenstand, mit dem man sich hier befaßt, übt auf Grund seines Wesens, seiner Eigenschaften und der Art der praktischen Umsetzung im Vergleich zu anderen Wissenschaftsobjekten keine besondere Attraktion aus. Innerhalb des Militärs selbst war man außerdem lange Zeit der Auffassung, die militärische Berufsausübung bedürfe keiner Wissenschaft. Noch in den 1960er Jahren vertrat eine so einflußreiche militärische Denkschule wie die McNamara-Administration im Verteidigungsministerium der USA die Ansicht, daß es zwischen den Grundsätzen der Kriegsführung oder der militärischen Führung und den Führungsprinzipien in einem zivilen Unternehmen keine Differenz gebe; folglich seien auch in der Armee die Regeln der Betriebs- oder Organisationslehre anzuwenden.
In Deutschland kommen außerdem besondere Faktoren hinzu: Im Vergleich zu anderen westlichen Staaten standen und stehen die Streitkräfte seit der Wiederbewaffnung 1955 im Abseits. Trotz gegenteiliger beschönigender Behauptungen hat es eine wirkliche Identifikation der Bevölkerung mit den Belangen der Landesverteidigung und den Streitkräften nie gegeben. Eine Beschäftigung mit dem geistigen Überbau von Streitkräften fand innerhalb der intellektuellen Eliten nicht statt, Spitzenmilitärs der Bundeswehr führten in der Publizistik normalerweise ein Schattendasein. Lehrstühle an Hochschulen, die sich mit Sicherheits- oder Militärpolitik, mit Strategie oder Geopolitik beschäftigen, findet man in Deutschland nur vereinzelt. Wissenschaftliche Institute wie in anderen Ländern des Westens, die auf diesen Gebieten arbeiten, gibt es in Deutschland nicht.
So stehen Militärtheoretikern oder Militärwissenschaftlern wie Raymond Aron, Ferdinand Otto Miksche, Liddell Hart, John Keegan oder Edward N. Luttwak im französischen beziehungsweise englischen Sprachraum in Deutschland, das einmal einen der größten Militärtheoretiker, Carl von Clausewitz, aufweisen konnte, allenfalls Militärpublizisten wie Winfried Martini, Adelbert Weinstein oder Karl Feldmeyer gegenüber. Heinz Karst, nicht nur Spitzenmilitär, sondern auch Militärtheoretiker, mochte als die Ausnahme gelten, die wir in den Kreis der vorgenannten Experten einbeziehen können.
In jedem Fall nimmt Martin van Creveld unter den zeitgenössischen Militärtheoretikern auf Grund seines umfangreichen Werkes und seiner provokativen, aber überzeugenden Theorien einen besonderen Rang ein. Creveld wurde 1946 als Sohn jüdischer Eltern in Rotterdam geboren, wenige Jahre später wanderte seine Familie nach Israel aus. Creveld studierte an der Hebräischen Universität Jerusalem, vom Militärdienst war er auf Grund einer körperlichen Behinderung befreit. 1971 schloß er sein Studium an der London School of Economics mit der Promotion ab, in demselben Jahr übernahm er einen Lehrauftrag für das Fach Geschichte an der Universität Jerusalem.
Creveld hat seitdem an verschiedenen Universitäten Gastprofessuren innegehabt, unter anderem 1986/87 an der National Defense University in Washington, D.C. und an der Marine Corps University in Quantico. Er war außerdem als sicherheitspolitischer Berater der amerikanischen Regierung und des israelischen Generalstabs tätig. Versucht man die Ergebnisse der bisherigen wissenschaftlichen Arbeit Crevelds in der Form eines Überblicks zusammenzufassen, so sind vier thematische Schwerpunkte zu erkennen:
- Die Behandlung militärfachlicher Themen mit einer Konzentration auf Fragen der Führung, der Logistik und der Ausbildung sowie des Einflusses der Technik auf die Kriegführung.
- Untersuchungen auf dem Gebiet der Militärsoziologie, mit dem Ziel, in Form einer übergreifenden Darstellung Wesensmerkmale der militärischen Organisation im Vergleich zu zivilen Organisationen herauszuarbeiten und die Einflußgrößen zu ermitteln, die sich entscheidend auf das Verhalten der Truppe im Einsatz, auf die Kampfkraft und die Fähigkeit zur militärischen Auftragserfüllung auswirken.
- Der bedeutendste Anteil van Crevelds wissenschaftlicher Tätigkeit bezieht sich auf die Bewertung der Daseinsberechtigung moderner Staaten, auf die Kriegsführung als wesentliches Merkmal staatlicher Machtausübung, auf das Wesen der Kriegsführung und ihre Entwicklung über die Zeit unter dem Einfluß gesellschaftlicher und politischer Faktoren. Seine Thesen dazu hat van Creveld vor allem in den beiden thematisch zusammengehörenden Büchern Aufstieg und Untergang des Staates und Die Zukunft des Krieges zur Diskussion gestellt. Er nimmt dabei nicht nur eine Bestandsaufnahme vor, sondern entwickelt auch Prognosen für die Zukunft.
- Zunächst eingebettet in den eben erwähnten Themenblock hat sich Creveld neuerdings einer gesellschaftspolitischen Problemstellung zugewandt: der Rolle der Frau in modernen Gesellschaften.
Während er sich in dem Buch Frauen und Krieg mit dem „Eindringen“ der Frauen in eine bis in die neueste Zeit männliche Domäne, die Kriegsführung, beschäftigt, wirft er in seinem neuesten Buch Das bevorzugte Geschlecht grundsätzliche Fragen auf. In der Vorankündigung heißt es: „Die Unterdrückung der Frau ist eine in die Irre führende Legende des Feminismus.“
Diese Behauptung wird ihm, vor allem in der durch den Einfluß von Frauen geprägten Gesellschaft der USA, nicht nur Zustimmung einbringen. Sie beweist aber einmal mehr, daß Creveld kein „heißes Eisen“ scheut. Er arbeitet unkonventionell, kritisch und kommt häufig zu provokativen Urteilen, die sich mit den gewohnten, bequemen, aber letzten Endes vordergründigen Auffassungen nicht vereinbaren lassen. Gegen unsachliche Kritik ist er weitgehend immun, da seine wohlbegründeten Urteile auf gekonnter Quellenauswahl und unbestechlicher Quellenbewertung beruhen.
Creveld beherrscht mehrere Sprachen, so daß sich ihm Texte im Original erschließen, die anderen unzugänglich bleiben. Sein Wissensstand auf allen Gebieten des Militärs, der Staatslehre oder Soziologie ist in der Tat phänomenal. Gerade Crevelds provokante Aussagen zum Wandel in der Kriegführung, zur Zukunft moderner Armeen, der Auflockerung des staatlichen Gewaltmonopols und zur Einschränkung staatlicher Macht wurden in den letzten Jahren durch die politische Entwicklung bestätigt.
Sein Mut zu unbequemen Wahrheiten hat auch in Deutschland verschiedentlich für Irritationen gesorgt, so im Zusammenhang mit seinem Buch Kampfkraft, in dem das Leistungsvermögen der deutschen und amerikanischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg miteinander verglichen wird. Die Arbeit beruht auf einer Fachstudie, die in den Jahren 1979/1980 auf Anforderung des amerikanischen Verteidigungsministeriums entstanden, um eine Reform der Streitkräfte vorzubereiten, nachdem sich die Armee in den letzten Jahren der Präsidentschaft Carters in einem außerordentlich schlechten Zustand befunden hatte.
Die Ergebnisse dieser Studie belegen die zuvor erwähnte Neigung Crevelds, bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten konventionelle Wege zu verlassen und gegen den Strom zu schwimmen. In der Darstellung wollen wir uns auf seine Beurteilung der Wehrmacht beschränken. „Das deutsche Heer“, so der Verfasser, „war eine vorzügliche Kampforganisation. Im Hinblick auf Moral, Elan, Truppenzusammenhalt und Elastizität war ihr wahrscheinlich unter den Armeen des zwanzigsten Jahrhunderts keine ebenbürtig.“ Creveld arbeitet dafür verschiedene Gründe heraus:
- Die Organisation des deutschen Heeres wurde auf die Erfüllung ihrer Kampfaufgabe hin optimiert. Von Anfang an war es auf Grund des schnellen Aufbaus und der Knappheit der materiellen wie personellen Ressourcen zu einer Mangelverwaltung gezwungen. Deswegen, aber auch aus einer typisch deutschen Einstellung heraus, wurden andere wichtige Aspekte wie sinnvolle Managementverfahren, Maßnahmen für die Logistik oder der psychologischen Kriegsführung in ihrer Bedeutung vernachlässigt.
- Im Gegensatz zu den landläufigen disqualifizierenden Urteilen über die Menschenführung in der Wehrmacht schreibt van Creveld: „…das deutsche Heer war um die sozialen und psychologischen Bedürfnisse des einzelnen kämpfenden Soldaten herum konstruiert worden. Seine wesentliche, ja entscheidende Bedeutung war vollständig anerkannt, und die Doktrin, Führungstechnik, Organisation und Verwaltung des Heeres waren entsprechend (darauf) ausgerichtet.“
- Die Erziehung zur Verantwortungsfreude, das Schaffen von Vertrauen zwischen Führern und Geführten, das Einräumen von Handlungs- und Entscheidungsspielraum (Auftragstaktik!) waren die Voraussetzungen für ein Führungssystem, das dem der Gegner in allen Belangen überlegen war und das es ermöglichte, materielle und zahlenmäßige Nachteile auszugleichen.
- Nationalsozialistische Grundüberzeugungen waren in der Armee nicht verbreitet, die Indoktrination blieb wirkungslos.
Die Ergebnisse Crevelds stellen heraus, daß der soziale Zusammenhalt, die Gruppenintegration und das innere Gefüge der Truppe bis zum Kriegsende intakt blieben, das deutsche Heer bewies seine Kampfkraft gerade bei an und für sich vernichtenden Niederlagen und den andauernden Rückzügen ab 1943. Allerdings ist auch Creveld von mittlerweile fest eingeschliffenen Verdikten nicht frei. Die Wehrmacht war, in welchem Umfang auch immer, in die Verbrechen des Systems verwickelt.
Crevelds Urteil aber – „Obwohl die Wehrmacht selbst den Angriffskrieg nicht begann, obwohl sie nicht primär für die Konzentrationslager und die Ausrottung der Juden verantwortlich war, wären diese und andere Verbrechen ohne ihre aktive oder passive (Mit-)Wirkung unmöglich gewesen“ – ist meiner Meinung nach unhaltbar. Es unterstellt nicht nur, daß die Wehrmacht im weitesten Sinne, also bis herunter zur Ebene der Truppenteile, über diese Aspekte der nationalsozialistischen Gewaltpolitik in vollem Umfange informiert gewesen sei, es suggeriert auch, daß die Massenverbrechen akzeptierte Folge oder gar Bestandteil der Zielsetzungen bei der militärischen Auftragserfüllung waren.
Diese Einschränkungen sollen allerdings nicht den Wert von Crevelds Studie in Frage stellen. Entscheidend ist auch aus heutiger Sicht, daß hier Kriterien herausgearbeitet wurden, die ausschlaggebend für die Entwicklung von militärischer Kampfkraft überhaupt sind. Mit sehr drastischen Anmerkungen wendet sich Creveld vor allem gegen die Gleichsetzung von Armeen und Wirtschaftsunternehmen: „Beide werden im wesentlichen als angewandtes Management betrachtet, als Strukturen, deren Funktion darin besteht, menschliches und materielles Potential so zu koordinieren, daß sie zu einem möglichst niedrigen Preis einen möglichst hohen Ertrag produzieren – Tod durch Napalm beispielsweise oder Pulverkaffee.“
Er sieht – trotz des in den letzten Jahrzehnten größer gewordenen Anteils von Managern, Technikern und Spezialisten aller Art in den Verbänden – eine Armee insgesamt mit der Erwartung des Kampfes belastet, die sich auch auf die Funktionen erstreckt, die nicht unmittelbar zu den Kampfhandlungen gehören. Nicht das Erzielen eines Profits steht im Mittelpunkt der soldatischen Tätigkeit, und Kosten-Nutzen-Kalküle sind auf das innere Selbstverständnis einer Armee nicht übertragbar, denn „… keine Art von Nützlichkeitsdenken in der Welt (kann) im einzelnen Menschen die Bereitschaft wecken …, sein Leben hinzugeben.“
Folgt man den neueren Arbeiten Crevelds, dann könnten seine vorstehenden Ausführungen allerdings bereits gegenstandslos sein, denn heute geht er davon aus, daß der Untergang des Staates beinahe unvermeidbar ist, jenes Staates, der in der Vergangenheit von seinen Bürgern „Todesbereitschaft“ und „Tötungsbereitschaft“ verlangen konnte. Er zeigt auf, daß die Gebilde, die wir als Staaten bezeichnen, ohnehin erst seit ungefähr 1648, seit der Ausformung des Absolutismus, existieren und sich in der räumlichen Ausbreitung über Jahrhunderte auf Europa und Teile Nordamerikas beschränkten.
Bestimmende Elemente dieser Staaten waren der souveräne Monarch, Verwaltung und Armee, sowie – mit unterschiedlicher Bedeutung über die zeitliche Entwicklung hinweg – das Volk. Innerhalb der Staaten bestand ein geregeltes Verhältnis der soeben genannten Komponenten zueinander. Ein geregeltes Verhältnis gab es auch zwischen den Staaten, das auf der Souveränität gegenüber anderen Staaten beruhte.
Eine Weiterverbreitung des politischen Organisationsmusters „Staat“ erfolgte in Konsequenz verschiedener historischer Entwicklungen, beispielsweise der Entkolonialisierung nach 1945 oder nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes. In sehr vielen der neuen Staaten konnten sich jedoch keine stabilen Strukturen herausbilden. Allerdings erlitt auch der klassische Staat einen Machtverlust und begann ihn in Frage zu stellen. Von den Zeiten eines Thomas Hobbes („… der Mann, der eigentlich den Staat ‚erfand‘ …“) war bis heute „eine der wichtigsten Funktionen des Staates, wie auch aller früheren politischen Organisationen, Krieg gegen seinesgleichen zu führen.“
Die Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols ist deshalb nach Creveld die wichtigste Ursache für den Bedeutungsverlust des Staates.Moderne Staaten können ihre eigenen Versprechungen nicht halten. Nachdem das Recht auf Gewaltanwendung vom Staat monopolisiert wurde, muß der Bürger heute feststellen, daß der Staat die innere Ordnung und Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann. „Der Wohlfahrtsstaat scheitert an seinem eigenen Erfolg,“ so van Creveld. Ständige Versprechungen des Staates führen zu steigenden Ansprüchen, die nur durch die Anhebung der Steuer- und Abgabenlast erfüllt werden können. Der daraus entstehende Kreislauf führt zum Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme.
Nicht nur soziale Sicherungssysteme, auch die innere Sicherheit wird zunehmend privatisiert. Technische Fortentwicklungen, vor allem auf dem Gebiet der Informationsübertragung, des Verkehrs und der Energieversorgung haben eine „Entstaatlichung“ durch das Auftreten internationaler, staatenübergreifender „Netze“ zur Folge. In der Sicherstellung entsprechender Funktionen sind staatliche Behörden von Organisationen oder Einzelpersonen abhängig, auf die sie keine Einwirkungsmöglichkeiten mehr haben. Vergleichbares gilt für die Globalisierung, bei der sich internationale Konzerne mehr und mehr der Kontrolle demokratisch legitimierter Regierungen entziehen können. Als gemeinsame Folge aller dieser Prozesse betrachtet Creveld einen dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust des Staates und eine dramatisch gesunkene Loyalität der Staatsbürger ihm gegenüber.
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von The Transformation of War (Die Zukunft des Krieges) stellt Creveld eine der Grundthesen seines Buches vor, „… nämlich, daß der konventionelle zwischenstaatliche Krieg abgedankt hat und von einem Krieg, der von verschiedenen politischen Organisationen geführt wird, abgelöst wird …“. Durch die Hervorhebung habe ich deutlich gemacht, daß der Autor glaubt, einen Krieg unter Abstützung auf Nuklearwaffen vernachlässigen zu können. Die Begründung, die van Creveld gibt, ist überzeugend: Eine Strategie, die den Einsatz von Nuklearwaffen vorsieht, ist – beim Vorhandensein eines entsprechenden Potentials auf beiden Seiten – überhaupt keine Strategie, da „… immer noch niemand herausgefunden hat, wie ein Atomkrieg geführt werden kann, ohne einen globalen Selbstmord zu riskieren.“
Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich die Großmächte durch ihre nukleare Rüstung wechselseitig neutralisiert. Sie verfügten über ein Kriegsmittel, das im Krieg nicht verwendet werden konnte und sich deshalb auch nicht zur Abschreckung eignete. So war der politische Nutzen einer nuklearen Bewaffnung, vor allem in der Relation zu den immensen Kosten, außerordentlich gering. Wie die Konflikte, an denen Nuklearmächte beteiligt waren, zeigen (zum Beispiel Chinesisch-Vietnamesischer Krieg von 1980, Falklandkrieg, Afghanistan, Vietnam), wurde der Gebrauch von Nuklearwaffen durch den Gebrauch von kriegerischen Mittel niedrigeren Niveaus unterlaufen.
Hinsichtlich der Führung konventioneller Kriege führt Creveld aus, daß es zwischen 1945 und 1990 weltweit rund 160 bewaffnete Konflikte gegeben habe, von denen etwa drei Viertel nicht dem herkömmlichen Bild eines Krieges mit konventionellen Mitteln entsprechen, vielmehr der Kategorie des low intensity war oder conflict zuzurechnen seien. Die Sowjetunion habe nach 1945 keinen einzigen konventionellen Krieg geführt, die Vereinigten Staaten nur gegen Korea (1950) und gegen den Irak im „ersten“ Golfkrieg (1991). Hinsichtlich der USA weist Creveld ausdrücklich darauf hin, daß sie ihre konventionellen Streitkräfte überhaupt nur in Konflikten einsetzt, die keine lebenswichtigen Interessen berührten.
Das Verschwinden konventioneller Kriege und das Aufkommen neuer Konfliktformen (die nicht weniger blutig sind als konventionelle Kriege, seit 1945 kosteten sie Millionen von Menschen das Leben) hat verschiedene Ursachen. Um das zu erklären, müssen wir auf das Kriegsbild von Clausewitz zurückgreifen, das „trinitarische Kriegsbild“, wie es bei Creveld heißt, das auf einer Unterscheidung von Staat/ Regierung, Armee und Volk beruhte. Demgemäß hatten souveräne Staaten das Recht, Krieg mit den dazu vorgesehenen Armeen zu führen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde versucht, die jeweilige Bevölkerung aus dem Kriege heraus zu halten.
Die Kriegsparteien akzeptierten eine Trennung von Armee und Volk oder von Kombattanten und Nichtkombattanten. Ausgelöst durch die Französische Revolution beteiligte sich aber das Volk oder die Nation am Krieg und setzte alle Ressourcen für die Verfolgung der Kriegsziele ein. Das Wirtschaftspotential eines Staates wurde zum Kriegsobjekt. Der Gebrauch moderner Waffensysteme hob auf Grund der technischen Entwicklung nicht nur die Trennung von Kombattanten und Nichtkombattanten auf, die Zivilbevölkerung eines Gegners wurde auch in die Kriegshandlungen einbezogen, um ihren Widerstandswillen herabzusetzen oder sie durch gezielte Angriffe zu schwächen. Der Krieg wurde zum „Totalen Krieg“.
Andererseits versuchte die internationale Staatengemeinschaft, diese Entwicklungen zu mildern. Das vorhandene Instrumentarium für die Beachtung bestimmter Rechtsvorstellungen im Kriege wurde erweitert. Damit nicht genug: Als Folge der beiden Weltkriege ging die Staatengemeinschaft dazu über, das Recht der souveränen Staaten, Krieg zu führen, zu begrenzen, es zunächst an gewisse Voraussetzungen zu binden und im Laufe der Zeit der Kontrolle überstaatlicher Organisationen, etwa der Vereinten Nationen, zu unterwerfen. Creveld nennt diesen Prozeß die „Delegitimierung des zwischenstaatlichen Krieges“, die den Staat eines seiner wesentlichen Merkmale, des Monopols auf Gewaltanwendung, beraubte.
Die Delegitimierung des Staates wird durch verschiedene andere Faktoren noch verstärkt: Seit etwa einem Jahrzehnt betrachtet es die „internationale Gemeinschaft“ als gerechtfertigt, beim Eintreten bestimmter Entwicklungen mit militärischen Mitteln in die inneren Angelegenheiten von Staaten einzugreifen, geht dabei aber sehr selektiv und willkürlich vor. Meistens sind Staaten der Dritten Welt Ziel solcher Operationen. Viele dieser „Staaten“ waren nie in der Lage, eine angemessene zentrale Gewalt aufzubauen. Sie sind durch einen Zerfall von unten bedroht, da miteinander rivalisierende Gruppenversuchen, ihre Machtansprüche gewaltsam durchzusetzen. In anderen Staaten fehlt ein Staatsbewußtsein oder eine innere Verpflichtung zum Staat vor allem bei den führenden Schichten. Ausbeutung des Staates, Korruption und Willkür bewirken einen Zerfall von oben.
Zutreffend stellt Martin van Creveld fest, daß bereits die Kriege zur Entkolonialisierung in der Form von low intensity conflicts geführt wurden. Die Kriege zur Beseitigung des Kolonialismus waren von Seiten der aufständischen Bevölkerung her „Kriege des armen Mannes“, in denen die Kampfkraft von der Waffenwirkung her überlegener, hoch technisierter Kolonialarmeen durch entsprechende Kampfweisen und die Verwendung primitiver, aber effektiver, noch dazu finanziell erschwinglicher Waffen unterlaufen wurde. Bereits diese Kriege waren durch eine „Asymmetrie der Kräfte“ gekennzeichnet. Häufig wurde der Krieg übrigens nicht auf dem Schlachtfeld, sondern durch die „Weltmeinung“ oder die Stimmung in den Mutterländern entschieden.
Creveld lokalisiert auch die neuen bewaffneten Auseinandersetzungen vorwiegend in den Staaten der Dritten Welt. Sie werden durch Banden, paramilitärische Organisationen, Söldner unter der Führung von warlords, durch ethnisch oder religiös ausgerichtete Gruppen geführt. Beweggründe für diese Gewaltaktionen sind häufig Profitgier, Kontrolle des Drogenhandels, Beherrschung und Ausbeutung von Rohstoffvorkommen, ethnische oder religiöse Abrechnungen, aber auch Abenteuerlust und Gewaltfaszination. Die Übergänge zu gewöhnlichem Verbrechen, organisierter Kriminalität und Terrorismus sind fließend.
Nach Creveld fallen Konflikte wie der Russisch-Tschetschenische Krieg, aber auch Untergrundaktionen wie die der ETA oder der IRA und ihre Bekämpfung unter die Kategorie der low intensity conflicts. Zu den wichtigsten Kennzeichen dieser neuen Form bewaffneter innerstaatlicher oder staatenübergreifender Auseinandersetzungen gehören: Eine Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten, Kämpfern und Nichtkämpfern gibt es nicht.
Sehr oft sind gerade bestimmte Bevölkerungsgruppen das Ziel der Aktionen. Der Konflikt verläuft ohne feste Fronten, es geht nicht um den Besitz oder die Beherrschung eines Territoriums. Weil sie oft „grenzüberschreitend“ ausgetragen werden, haben sie einen weiteren Bedeutungsverlust des Staates zur Folge, seine Abwehrmöglichkeiten sind begrenzt. Herkömmliche Rechtsvorstellungen werden mißachtet. Beim Einsatz von Militär stehen sich sehr selten auf beiden Seiten reguläre Streitkräfte gegenüber. Die Waffen, die in low intensity conflicts verwendet werden, sind billig und leicht zu beschaffen.
Wir haben einleitend darauf hingewiesen, daß die Theorien Crevelds durch die neueren politischen Entwicklungen bestätigt werden. Aber welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Was an die Stelle des Staates treten könnte, dessen ist Creveld sich nicht ganz sicher. Er spricht von „Organisationen“, die je nach ihrer Zweckorientierung von internationalen Wirtschaftskonzernen und Syndikaten zum Betrieb technischer Systeme über internationale Bündnisorganisationen bis zu „Dienstleistungsbetrieben“ reichen können, die einschließlich militärischer Gewalt und Kräften für die innere Sicherheit wirklich alle „Leistungen“ zur Verfügung stellen. Er hofft allerdings, daß sich die gefestigten, auf eine Jahrhunderte lange Tradition abgestützten Staaten West- und Mitteleuropas am längsten werden halten können. Über die Zukunft des Krieges schreibt er: „Während sich der zwischenstaatliche Krieg auf der einen Seite der historischen Drehtür verabschiedet, kommt auf der anderen Seite der low intensity conflict zwischen unterschiedlichen Typen von Organisationen herein.“
Wird es keine Staaten mehr geben, dann bricht auch die Behauptung von Clausewitz zusammen (wenn sie denn je in dieser absoluten Form gestimmt hat), daß der Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Durch die Auflösung der Staaten wird der Krieg allerdings nicht verschwinden. Viel spricht dafür, daß er zahlreiche jener Merkmale aufweisen wird, die ihn vor dem Aufkommen der absoluten Staaten gekennzeichnet haben, vermischt mit modernen Elementen. Welcher Handlungsbedarf dann gegeben ist, soll abschließend mit einer anderen Kernaussage Crevelds deutlich gemacht werden: „Ich stelle die Grundthese auf, daß die mächtigsten modernen Streitkräfte schon jetzt für einen modernen Krieg weitgehend bedeutungslos sind – in Wirklichkeit ist ihre Bedeutung sogar umgekehrt proportional zu ihrer Modernität.“