Unter dem Druck der Öffentlichkeit konnten die Parteien der bürgerlichen Koalition nur eine militärische Minimalbeteiligung durchsetzen. Die Debatte im Westen beherrschte eine Linke, die Chancen sah, nach dem Vollzug der Einheit und der Niederlage bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen Meinungsmacht zurückzugewinnen. In den neuen Bundesländern spielte eine wichtige Rolle, daß jene moralischen Instanzen, die zur „Wende“ beigetragen hatten – von den Kirchen bis zu allen möglichen Gruppen der DDR Opposition -, auch Teil der Friedensbewegung gewesen waren und jetzt gegen den „Kriegskurs“ protestierten.
Wenn die Zeit damals hoffte, Deutschland werde zur „Wiege eines neuen Pazifismus“, so war doch unverkennbar, daß der neue Pazifismus doch kaum etwas anderes tat, als den alten – der Anti-Atomtodkampagnen und der Nachrüstungskrise – zu wiederholen: sehr oft dasselbe Personal, immer dieselben Argumente und dieselben Formen symbolischer Politik. Demonstrierende Schulklassen, blockierte Kasernen, Gewerkschafter, Grüne, Sozialdemokraten, progressive Christen und Kommunisten, die Aufrufe unterzeichneten, Intellektuelle, die den Konflikt zwischen dem Irak und den USA auf die Formel „Krieg für Öl“ reduzierten und ganz irrationale Ausbrüche der german angst: kurz vor Ablauf des an Saddam Hussein gerichteten Ultimatums verabschiedete sich ein Fernsehjournalist von den Zuschauern mit den Worten „Wir sehen uns wieder nächste Woche – hoffentlich“.
Beunruhigend war aber vor allem das Bild, das die Bundeswehr in diesem sehr beschränkten Ernstfall bot. Nicht genug, daß sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen im Januar 1991 gegenüber dem Vorjahr fast verdreifacht hatte, es gab auch Unteroffiziere und Offiziere, die überraschend bekannten, niemals mit der Beteiligung an einem militärischen Konflikt gerechnet zu haben, und in einem bei Bremervörde stationierten Flugabwehrraketengeschwader, das in die Osttürkei verlegt werden sollte, um NATO-Verbände vor irakischen Angriffen zu schützen, beriefen sich von 170 Soldaten 29 nachträglich auf ihr Gewissen.
Die Sorge des Auslands vor Deutschland als „neuer Supermacht“, vor Nationalismus und Grenzrevision schlug um: in Verachtung für den jammernden Riesen, dessen ungebrochenes moralisches Sendungsbewußtsein und den Mangel an Normalität. Der neue Ton irritierte sogar im einflußreichsten Meinungslager und führte zu Stellungnahmen wie der von Hans Magnus Enzensberger, der überraschenderweise zur Rechtfertigung des Krieges neigte: durch die Parallelisierung von Hitler und Saddam Hussein. Die anfangs sehr kleine Gruppe der linken Intelligenz, die Enzensberger folgte, hat im Verlauf der letzten Jahre zunehmend an Einfluß gewonnen, und bereits bei der Debatte über den Kosovokrieg 1999 zeigte sich ihr Gewicht. Aufschlußreich war die Argumentation von Jürgen Habermas, der den USA nicht nur „… die menschenrechtlich instrumentierte Rolle des hegemonialen Ordnungsgaranten“ zu Gute hielt, sondern auch darauf hoffte, daß die Konflikte mit jenen Staaten, die „neurotisch auf ihre Identität pochen“, nur ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zum „weltbürgerlichen Zustand“ sei. Selbst die Kehre der Grünen, die nach ihrem Regierungseintritt militärische Interventionen nicht mehr ablehnten, wird mit dieser Art von Umorientierung besser erklärt, als allein durch die Annahme von Korruption qua Machtbesitz. Joschka Fischer rechtfertigte den NATO-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien so, daß jenes Deutschland, das wegen seiner Vergangenheit eben noch an keiner oder wenigstens an keiner Operation auf dem Balkan teilnehmen sollte, nun unter Hinweis auf dieselbe Vergangenheit zur Teilnahme moralisch gezwungen, um ein neues „Auschwitz“ zu verhindern.
Die klassische Analyse für dieses Umschlagen der Argumentation hat Max Weber in seiner berühmten Rede über Politik als Beruf (1919) geliefert. Als Beispiel stand ihm der amerikanische Präsident Woodrow Wilson vor Augen, der nach seiner ursprünglichen Parteinahme für den Pazifismus den Kriegseintritt der USA nur legitimieren konnte mit der Verheißung, dies sei „der Krieg, der alle Kriege beende“ und der die Welt „sicher für die Demokratie“ machen werde, und als zweites Exempel dienten die deutschen Radikalsozialisten, die gestern noch die Verteidigung des Vaterlandes sabotierten und die Inhumanität des Krieges beschworen und heute Krieg und Bürgerkrieg rechtfertigten, aus denen eine neue Welt geboren werde. Weber glaubte, daß der innere Zusammenhang zwischen den so weit auseinander liegenden Positionen begründet sei in der Unfähigkeit, „ethische Irrationalität“ zu ertragen. Absoluter Pazifismus sei aber als politisches Konzept unbrauchbar und nur als religiöses Postulat vorzustellen. Tatsächlich gab und gibt es die Forderung nach völliger Gewaltlosigkeit in verschiedenen Glaubenslehren, vor allem im Christentum und im Buddhismus. Allerdings war der Preis immer Entsagung, die kein Einwirkung auf die Welt erhofft, denn das Ziel war persönliche Erlösung oder gemeinsame Parusieerwartung, aber keinesfalls der Wunsch, die irdische Ordnung zu bessern.
Das unterscheidet den absoluten Pazifismus von allen anderen denkbaren Positionen, die das Verhältnis von Krieg und Frieden politisch zu bestimmen suchen, auch von dem der relativen Pazifisten. In deren Augen ist der Krieg grundsätzlich als Defekt zu betrachten, ganz gleichgültig, ob sie glauben, daß er in der Sündhaftigkeit des Menschen wurzele, wie das die Bibel tut, oder in der Leiblichkeit, wie Platon annahm, oder in der natürlichen Bösartigkeit des Menschen, wie Hobbes meinte. Fest steht der Krieg als Unglück und als Gefährdung der persönlichen wie der staatlichen Existenz. So kritisierte Aristoteles ausdrücklich die spartanische Erziehung wegen ihrer einseitigen Ausrichtung an militärischen Werten und betonte, daß der Krieg nur dem Schutz der Gemeinschaft dienen sollte und deren Gedeihen eher hinderlich sei. Alle Versuche, den Krieg zu „hegen“ (Carl Schmitt), ihn bloß als ultima ratio regis gelten zu lassen, gehören in diesen Zusammenhang. Allerdings bleibt unentschieden, wie weit eine solche „Hegung“ erfolgreich sein kann.
Unter den relativen Pazifisten haben die meisten immer angenommen, daß keine politische Organisation Kriege sicher verhindern könne. Das markiert ihre Nähe zu jeder gewöhnlich als „bellizistisch“ apostrophierten Position. Was beide unterscheidet, ist die Annahme der Bellizisten, daß der Krieg nicht oder nicht nur ein Defekt ist. Die Spannweite der Begründungen reicht von Heraklits „Vater aller Dinge“ bis zu der oft zitierten Äußerung des älteren Moltke, der ewige Friede sei „ein Traum und nicht einmal ein schöner“. Man muß diese Formulierung zusammen nehmen mit einer Erläuterung, die Moltke hinzufügte, und in der er feststellte: „Der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden der Menschen, Mut, Entsagung, Pflichttreue, Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne Krieg würde die Welt im Materialismus verfallen.“ Der Krieg ist also ein schreckliches Stimulans, dessen die Menschen bedürfen, um ihre eigentlichen Qualitäten vor Dekadenz zu bewahren. Diese Auffassung dürfte in den militärischen Eliten der europäischen Staaten, aber auch in großen Teilen der Bevölkerung, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als normal gegolten haben. Noch im Golfkrieg ließ ein englischer Kommandeur seine Truppe vor Beginn der Bodenoffensive antreten und hielt eine pathetische Rede, die mit dem berühmten Gedicht If von Rudyard Kipling endete, das die kriegerischen Tugenden beschwört und dessen letzte Verse lauten: „Dann wird Euch die Erde gehören und alles, was darauf lebt, / Und, was mehr bedeutet, ihr werdet Männer sein.“
Man pflegt solche Anschauungen heute als „kriegsverherrlichend“ zu betrachten, muß aber im Auge behalten, daß der verbreitete ein gemäßigter Bellizismus ist und deutlich verschieden von dem absoluten, dessen Anhänger gewöhnlich Praktiker des Krieges und illiterat sind. Das erklärt ihr allmähliches Verschwinden in unserem Kulturkreis, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß der absolute Bellizist, der Kriegführen als selbstverständlichen Ausdruck des Menschseins betrachtet, in der Vergangenheit ein verbreitetes Phänomen war. Wie der absolute Pazifismus ist auch der absolute Bellizismus eigentlich unpolitisch, beruht auf der Lust am Töten, die ohne Gewissensqualen ausgelebt wird. Deshalb erscheint er am Ende des europäischen Zivilisationsprozesses so ungeheuerlich, und schon Clausewitz reagierte, als er in russischem Dienst stand, mit Widerwillen auf die unritterliche und barbarische, aber effektive Kampfweise kosakischer Einheiten, die das fliehende napoleonische Heer im Wortsinne „abschlachteten“. Von Dschingis Khan wird berichtet, daß er zu einem Waffengefährten sagte: „Das größte Glück des Mannes besteht darin, seinen Feind zu hetzen und zu besiegen, dessen gesamten Besitz an sich zu bringen, seine Ehefrauen jammern und klagen zu lassen, seinen Wallach zu reiten und den Körper seiner Weiber als Nachtgewand und Unterlage zu benutzen.“
Wenn man dem absoluten Bellizismus mangelnden Bezug zum Politischen vorwerfen kann, so weist er doch hin auf die anthropologische Dimension des Krieges. Die Frage danach, warum Menschen Krieg führen, wurde in jüngster Zeit regelmäßig übergangen. Wer glaubte, daß der Krieg „nur eine Erfindung“ (Margaret Mead) sei, das Ergebnis von Vorurteilen, ökonomischen oder anderen Interessen, der konnte auch hoffen, daß sich diese Ursachen im besten Fall durch Information und Diskurs beseitigen ließen. Im Hintergrund wirkten dabei Vorstellungen von einer friedlichen Urzeit nach, wie sie seit der Aufklärung verbreitet waren, die oft einen perfekten Naturzustand postulierte, der dann durch die kulturelle Entwicklung verdorben worden war und so auch den Krieg hervorgebracht hatte. Rousseau etwa meinte, daß erst die Gesellung der Einzelnen die Anwendung von Gewalt sinnvoll erscheinen ließ, um sich in den Besitz von Gütern oder anderen Menschen zu bringen, weshalb das Eigentum auf „Diebstahl“ beruhe und der Krieg auf der Übertragung jener Zwangsmethoden, die schon im Einzelfall erfolgreich gewesen waren, auf die Unterwerfung anderer Gemeinschaften.
Es hat gegen diese Art der Argumentation von Anfang an Widerspruch gegeben, die nicht nur auf die Unwahrscheinlichkeit der ursprünglichen Vereinzelung abhob, sondern auch die Friedfertigkeit des frühen Menschen in Frage stellte. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezog die skeptische Anthropologie ihre Argumente allerdings nur noch zum Teil aus der religiösen oder philosophischen Tradition. Die Vorstellung, daß das Dasein vom Kampf bestimmt werde, erhielt durch die Lehre Darwins vom struggle for life, der nicht nur die natürliche Selektion, sondern auch die Geschichte des Menschen bestimme, eine ganz neue Plausibilität. Deshalb neigten aber nicht alle Sozialdarwinisten zur Rechtfertigung des Krieges, der offenkundig gerade die tüchtigsten Individuen vernichtete. Allgemein war nur die Anschauung von seiner Unvermeidbarkeit.
In dieser Hinsicht besteht eine große Übereinstimmung zwischen dem älteren Darwinismus und neueren Vorstellungen, wie sie vor allem die Verhaltensforschung entwickelt hat. Epochemachend war die These von Konrad Lorenz, daß der Mensch ganz wesentlich von einem „Aggressionstrieb“ beherrscht werde, der seinen Aufstieg im Rahmen der Evolution erkläre, aber durch keine biologisch verankerte „Tötungshemmung“ gegenüber anderen Menschen kontrolliert werde. Die Heftigkeit der „innerartlichen Aggression“ erkläre sich aus der Tatsache, daß der Mensch kaum natürliche Waffen – Zähne, Klauen etc. – besitze, deren Vorhandensein bei Raubtieren regelmäßig ein Ensemble von Verhaltensweisen erzeuge – etwa beim Wolf, der gegenüber dem stärkeren Rudelmitglied die Kehle weist –, das die Tötung des Artgenossen verhindert. Nachdem sich der Mensch eine künstliche Bewaffnung aneignete, konnte das Fehlen von Signalen, die eine Angriffsabsicht blockieren, furchtbare Folgen haben.
Diese Theorie wurde von anderen Biologen immer wieder kritisiert, die die ausschlaggebende Rolle des Artbezugs von Verhaltensweisen in Frage stellten. Infolge weiterer Untersuchungen hat man tatsächlich nachweisen können, daß Tiere „innerartliche Aggression“ und damit verbundene Tötungsabsicht kennen. So beobachtete Jane Goodall Mitte der siebziger Jahre, daß auch Schimpansengruppen „Kriege“ gegeneinander führten: Grenzgeplänkel, überfallartige Angriffe auf die Nachbarn, Frauenraub und dann organisierte Aggression, Vernichtung des Gegners und imperiale Ausdehnung des eigenen Territoriums, ohne daß dabei ein unmittelbarer Nutzen etwa im Hinblick auf vermehrte Nahrungsquellen erkennbar sein mußte. Goodalls Schlußfolgerungen waren allerdings denen von Lorenz sehr ähnlich: „Was mich betrifft, so habe ich nicht den mindesten Zweifel daran, daß wir Menschen mit einem angeborenen Hang zur Aggressivität zur Welt kommen, daß wir es – ebenso wie Schimpansen oder andere sozial lebende Säugetiere – als erregend empfinden, aggressives Verhalten bei anderen zu beobachten, und daß wir aggressive Verhaltensmuster leicht annehmen.“
Auch wenn man im Verhalten anderer Primaten etwas von dem erkennen kann, was den Menschen kampfbereit und kampflustig macht, es ist damit die Frage nach der Entstehung des „Urkriegs“ (Karl Weule) noch nicht hinreichend geklärt. Eine plausible Antwort wird man wahrscheinlich in der Ähnlichkeit von Jagd und Krieg finden können. In beiden Fällen wurden dieselben Waffen benutzt, bis in historische Zeit galt die Jagd als Kriegsübung, hier wie dort spielte neben dem praktischen Zweck des Beutemachens das Blutvergießen selbst und der Erwerb von Trophäen eine große Rolle, beide Phänomene hatten außerdem zu tun mit der sozialen Intelligenz des Menschen, die es ihm ermöglichte, größere Gruppen zu bilden, die gemeinsam planen und kooperieren und dabei Gewalt als wirksames Mittel einsetzen konnten. Im Hinblick auf das Aussterben der Neandertaler wird seit einiger Zeit die These vertreten, daß diese im Verlauf eines „Krieges“ gegen den Jetztmenschen dezimiert und vielleicht sogar ausgerottet wurden. Obwohl beide Gruppen am Anfang des Konflikts über ähnliche Technologien verfügten, siegte Homo sapiens sapiens, weil seine Organisation differenzierter und seine kommunikative Fähigkeit weiter entwickelt war. Die sogenannte Paläolithische Revolution, die sich vor allem an der Verbesserung der Waffen ablesen läßt, war Folge dieser Kompetenzen und eines „Rüstungswettlaufs“, den der heutige Mensch gewann. Die Ähnlichkeit von Jagd und Krieg erklärt vielleicht auch, warum sich menschliche Gemeinschaften häufig mit (in Rudeln auftretenden) Raubtieren identifizierten. Entsprechende „Totems“ blieben selbst dann noch erhalten, wenn die ältere Lebensweise als Jäger verschwand, aber der Krieger weiter großes Ansehen genoß.
Selbstverständlich war es ein weiter Weg von dem archaischen Jagdkrieg bis zu den außergewöhnlichen organisatorischen Leistungen, die zuerst die Sumerer erbrachten, um etwas wie eine Armee zu formieren, die aus professionellen Kämpfern bestand und über die Ressourcen eines großen, politisch geeinten Territoriums verfügte. Relativ jung sind auch alle Verknüpfungen des Krieges mit sittlichen Prinzipien. Der Ethnologe Wilhelm Mühlmann kam zu dem Schluß, daß der „primitiven Kriegsführung die Idee des Mutes wohl ursprünglich durchgängig“ fehlte. Ähnliches gilt für die Begrenzung und Ritualisierung des Kampfes, und erst in der Neuzeit entstand ein Verhaltenskodex, der die übelsten Begleiterscheinungen des Krieges mildern, wenn schon nicht beseitigen konnte. Dieser Kodex galt indes nur für innereuropäische Konflikte und nicht für die Bekämpfung von Afrikanern, Asiaten, Australiern oder von Ureinwohnern der beiden Amerika. In unserem Zusammenhang ist jedoch entscheidender, daß bereits im Ersten und erst recht im Zweiten Weltkrieg sogar die beschränkten Versuche, den Krieg zu „hegen“, scheiterten.
Man hat für diesen Sachverhalt verschiedene Ursachen angegeben: von der Ideologisierung des Kampfes und der Aufbietung von Massenheeren aus Wehrpflichtigen im Gefolge der Französischen Revolution über die Methoden, mit denen der Amerikanische Bürgerkrieg geführt wurde, bis hin zu den Konzepten eines „totalen Kriegs“ wie sie zwischen 1914 und 1918 entstanden. Auch die Weiterentwicklung des internationalen Rechts und die moralische Ächtung von Gewalt haben diesen Prozeß der Rebarbarisierung nicht aufhalten können. Die prinzipielle Verwerfung scheint vielmehr eine Art Entfremdung von der Wirklichkeit des Krieges zur Folge zu haben, die auch die Einsicht in die Möglichkeiten der Zähmung zersetzt. Als am 29. März 1971 ein amerikanisches Militärgericht den Leutnant William Calley wegen vorsätzlichen Mordes an mindestens 22 Zivilisten in My Lai während des Vietnamkrieges zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilte, kam es in der Bevölkerung zu einem Sturm der Entrüstung. Eine neuere Untersuchung von etwa tausend Briefen, die damals an das US-Verteidigungsministerium gingen, ergab, daß mehr als achtzig Prozent der Absender – darunter viele Kriegsteilnehmer und Veteranen – ihr Unverständnis für die Entscheidung äußerten und die Meinung vertraten, daß es auf dem Schlachtfeld keine Regeln gebe, der Soldat außerhalb der Rechtsordnung stehe und insofern auch nicht für Verbrechen belangt werden könne.
Wahrscheinlich ist diese Auffassung der Zukunft des Krieges adäquater, als die „klassische“, die an der Regulierbarkeit des Konflikts durch den Friedensschluß, die Unterscheidung von Kombattant und Nichtkombattant, ein gewisses Maß an Ritterlichkeit und „Spielregeln“ festhielt. Die wachsende Verbreitung von Gewalttaten, die nur aus Haß geschehen, bestimmte Züge des modernen Terrorismus und der low intensity wars zeigen schon jetzt ein schreckliches Gesicht des Krieges und müssen vielleicht verstanden werden als Vorzeichen für die Rückkehr jener „ältesten Festfreude“ (Friedrich Nietzsche) des Menschen: der Grausamkeit. Der absolute Bellizismus, den der Westen schon tot geglaubt hatte, könnte sich als überraschend vital erweisen.
Solche Prognosen werden nicht gern gehört. Wer auf die unverändert kriegerische Natur des Menschen Bezug nimmt, muß erleben, daß damit in der öffentlichen Diskussion eine Grenze überschritten ist. Vor allem in Deutschland wird gegen jeden Versuch, die anthropologische Dimension des Krieges zur Sprache zu bringen, notorisch der Vorwurf erhoben, man wolle zwischenstaatliche Konflikte durch „Schimpansenmoral“ (Ruth Groh) rechtfertigen. Es wäre zuerst zu erwidern, daß eine Erklärung nicht oder nicht immer als Rechtfertigung zu verstehen ist. Aber dieser Einwand dürfte kaum verfangen. Also bleibt abzuwarten, bis die veränderte Lage den letzten eines Schlechteren belehrt.