Kontinentalblock Eurasien

pdf der Druckfassung aus Sezession 2 / Juli 2003 wird nachgetragen

sez_nr_2von Eberhard Straub

Wer heute eine Emanzipation Europas von den USA wünscht, unterstützt nicht sogenannte anti-amerikanische Stimmungen. Er befindet sich in völliger Übereinstimmung mit Überlegungen führender US-Amerikaner aus der Zeit, als die NATO gegründet wurde. George F. Kennan, Robert Taft oder George Marshall erwarteten, daß der wirtschaftliche Aufschwung es den Europäern bald erlauben werde, ihre Verteidigung selbst zu organisieren. Sie dachten nicht daran, die USA dauernd in Europa zu verpflichten. Ihnen genügte ein möglichst informelles Bündnis, im Grunde ein ausdrückliches Versprechen, im Falle eines Angriffes durch die Sowjetunion den Europäern zu Hilfe zu kommen. Das sollte die Europäer nicht zuletzt dazu nötigen, von nun an in europäischen Kategorien und nicht weiter in denen nationaler Konkurrenz zu denken. Eine lockere Allianz war in solcher Absicht durchaus mit einem Erziehungsprogramm verbunden. Jede Erziehung führt zu Selbständigkeit und Emanzipation vom Erzieher, zumindest ist das ihr Ziel.

In der Scheu vor all­zu fes­ten Struk­tu­ren äußer­te sich eine wei­te­re päd­ago­gi­sche Über­le­gung: Gewöh­nen sich die hof­fent­lich bald wie­der pro­spe­rie­ren­den west­eu­ro­päi­schen Staa­ten dar­an, daß die USA ihren mili­tä­ri­schen Schutz über­neh­men, dann wer­den sie ihre eige­nen Anstren­gun­gen ver­nach­läs­si­gen, die ihre Sicher­heit erfor­dert. Außer­dem fürch­te­te gera­de Kennan, ver­traut mit der Sowjet­uni­on, daß eine enge trans­at­lan­ti­sche Gemein­schaft, statt die Gefah­ren abzu­schwä­chen, die­se ver­meh­ren wür­de. Die Rus­sen müß­ten erst recht miß­trau­isch, gereizt und unge­dul­dig reagie­ren, was die Span­nun­gen in Euro­pa nur erhö­hen und einen schwer zu beru­hi­gen­den Rüs­tungs­wett­be­werb ver­ur­sa­chen wür­de. Bei­des zöge unver­meid­lich die US-Ame­ri­ka­ner immer tie­fer in euro­pä­isch-rus­si­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen hin­ein, aus dene­nen sie sich mög­lichst her­aus­hal­ten soll­ten. Gera­de um als sorg­fäl­ti­ger Hege­mon, als „ehr­li­cher Mak­ler“ bei Gegen­sät­zen zu ver­mit­teln und die Abwe­sen­heit des Krie­ges gedul­dig einer tat­säch­lich freund­schaft­li­chen Ver­stän­di­gung unter den Mäch­ten anzu­nä­hern, also einem fried­li­chen Zustand.
Kennan, der His­to­ri­ker und prak­ti­sche Diplo­mat, hat­te stets einen gro­ßen Respekt vor Bis­marck. Die Poli­tik des Reichs­kanz­lers galt ihm als Bei­spiel ver­nünf­ti­ger Selbst­be­schrän­kung einer Groß­macht, die ihre Hege­mo­nie in einem kunst­vol­len Sys­tem direk­ter und indi­rek­ter Bünd­nis­be­zie­hun­gen ver­barg, um Euro­pa und die Welt an das neue Reich zu gewöh­nen. Aber auch um die Hege­mo­nie, die stets als läs­ti­ger Druck emp­fun­den wird, abzu­mil­dern, sie als eine der Sicher­heit aller die­nen­den Kraft auch dem Wider­stre­ben­den ver­ständ­lich zu machen. Bis­marck hüte­te sich, das Reich in Affai­ren zu ver­wi­ckeln, die jen­seits deut­scher Inter­es­sen lagen. „Jede Groß­macht, die außer­halb ihrer Inter­es­sensphä­re auf die Poli­tik der ande­ren Län­der zu drü­cken und ein­zu­wir­ken sucht und die Din­ge zu lei­ten sucht, die peri­kli­tiert außer­halb des Gebie­tes, wel­ches Gott ihr ange­wie­sen hat, die treibt Macht­po­li­tik und nicht Inter­es­sen­po­li­tik, die wirt­schaf­tet auf Pres­ti­ge hin.“
Als prak­ti­scher Staats­mann ließ er sich nicht von den gro­ßen Wor­ten ein­schüch­tern: die Mensch­heit, Euro­pa, der Welt­frie­den, die Zivi­li­sa­ti­on. Er küm­mer­te sich um das nächst­lie­gen­de: die gro­ßen Mäch­te davor zu bewah­ren, den leid­lich gesi­cher­ten Frie­den auf­zu­ge­ben, um im Krieg die letz­te Aus­kunft zu suchen und recht­zu­be­hal­ten, irgend­ei­nen Eigen­sinn durch­zu­set­zen. Der Eigen­sinn muß sei­ne Gren­zen im Pri­vat­le­ben ken­nen, nicht min­der im Zusam­men­le­ben der Staa­ten. Das wuß­te Bis­marck in der Tra­di­ti­on Met­ter­nichs oder Tal­ley­rands. Sie alle jon­glier­ten mit vie­len Bäl­len, um ein Sys­tem kol­lek­ti­ver Sicher­heit, je nach den Umstän­den, zu schaf­fen oder zu erhal­ten. In sol­chen Bünd­nis­sys­te­men, die mög­lichst ganz Euro­pa umfas­sen und von die­ser Mit­te der Welt alle Kon­ti­nen­te einer „euro­päi­schen Ord­nung“ ein­fü­gen soll­ten, gab es immer Hege­mo­ne. Aber kei­ner woll­te sich im 19. Jahr­hun­dert als sol­cher zu erken­nen geben. Das impo­nier­te Kennan, der eine Hege­mo­nie der USA nach 1945 für alle übri­gen „prak­ti­ka­bel“ machen wollte.

Ihm erschien es ange­mes­sen, in die­sem Sin­ne mit Bis­marck den USA zu raten, von kei­nem Staat Gefäl­lig­kei­ten oder Hand­lun­gen auf­grund eines all­ge­mei­nen Rechts­ge­fühls zu erwar­ten, aber die eige­ne Poli­tik so zu füh­ren, daß die ande­ren ein sol­ches Ver­hal­ten bei den USA vor­aus­set­zen dür­fen. Bis­marck kann­te die mili­tä­ri­sche Stär­ke des Rei­ches. Das Bewußt­sein der Stär­ke, nicht die Furcht stimm­te das Reich fried­lich, wie er beteu­er­te. „Das Bewußt­sein, auch dann, wenn wir in einem min­der güns­ti­gen Augen­blick ange­grif­fen wer­den, stark genug zu sein zur Abwehr und doch die Mög­lich­keit zu haben, der gött­li­chen Vor­se­hung es zu über­las­sen, ob sie nicht in der Zwi­schen­zeit doch noch die Not­wen­dig­keit eines Krie­ges aus dem Wege räu­men wird“.
Des­halb konn­te er selbst­si­cher ver­kün­den: „Wir Deut­sche fürch­ten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Got­tes­furcht ist es schon, die uns den Frie­den lie­ben und pfle­gen läßt“. Prä­ven­tiv­krie­ge lie­ßen sich mit sol­chen Über­zeu­gun­gen nicht ver­bin­den, da man der Vor­se­hung nicht so leicht in die Kar­ten sehen kann, um der geschicht­li­chen Ent­wick­lung nach eige­ner Berech­nung vor­zu­grei­fen. In Anleh­nung an der­ar­ti­ge Ideen ver­nünf­tig­ter Selbst­be­schrän­kung woll­te Kennan, daß die USA, um den Ehr­geiz der Sowjet­uni­on ein­zu­däm­men, nicht unun­ter­bro­chen und über­all inter­ve­nie­ren und sich als Gen­dar­mes der Welt unbe­liebt oder lächer­lich machen. Nur von Fall zu Fall, sofern der Anlaß dazu zwang, soll­te sich die mäch­tigs­te Groß­macht als sol­che zu erken­nen geben. Aber auch dann mög­lichst in Über­ein­stim­mung mit ande­ren Mäch­ten, die ihre Inter­es­sen am bes­ten im Ein­ver­ständ­nis mit der füh­ren­den Macht gesi­chert sahen.
Das Wort „Füh­rung“ schreck­te Kennan nicht. Denn ein Hege­mon, wie er von den grie­chi­schen Phi­lo­so­phen wuß­te, soll­te Staa­ten um sich scha­ren, sie anfüh­ren, als Füh­rer auf­tre­ten, der im Dienst an der Gemein­schaft Ver­trau­en stif­tet und erhält. Füh­rer­schaft ist das Gegen­teil von Will­kür­herr­schaft. In frei­em Ent­schluß und kla­rer Ein­sicht, aber nicht unter Zwang ver­trau­en sich Schutz­be­dürf­ti­ge der Füh­rung durch die stärks­te Macht an. Ihr blo­ßes Dasein wirkt schon ein­schüch­ternd, wie Iso­kra­tes ver­mu­te­te: „Alle wer­den sich ruhig ver­hal­ten, wenn sie wis­sen, daß eine sol­che Macht exis­tiert, die den Schwa­chen und Über­fal­le­nen zu Hil­fe kommt“. Eine Macht, die in ethi­scher Vor­bild­lich­keit der Gerech­tig­keit dient, Unrecht abwehrt und selbst nicht nach frem­den Besitz strebt, zumin­dest nicht unter zivi­li­sier­ten Men­schen, höchs­tens unter den Barbaren.
Kennan lehn­te für die USA hege­mo­nia­le Auf­ga­ben nicht ab. Er hoff­te nur, daß die USA sie nicht ein­sei­tig übten, son­dern in Zusam­men­ar­beit mit ande­ren, selb­stän­di­gen Kräf­ten, die ent­spre­chend ihren Mög­lich­kei­ten von ihrer Bewe­gungs­frei­heit Gebrauch mach­ten, durch­aus auch zum Vor­teil der USA, die sich auf das jeweils wich­tigs­te kon­zen­trier­ten. Doch Plu­ra­lis­ten in alt­eu­ro­päi­scher Tra­di­ti­on wie Kennan unter­schätz­ten die Angst der Euro­pä­er vor dem Kom­mu­nis­mus und der Sowjet­uni­on. Es waren die Euro­pä­er, die die US-Ame­ri­ka­ner zu immer gründ­li­che­ren Sicher­heits­vor­keh­run­gen in Euro­pa nötig­ten, die förm­lich danach ver­lang­ten, sich unter das Pro­tek­to­rat der USA zu bege­ben. Mit den Fol­gen, die Kennan vor­her­ge­se­hen hat­te. Der Kal­te Krieg wur­de inten­si­ver und die indes­sen wohl­ha­ben­den Euro­pä­er gewöhn­ten sich dar­an, den USA die Kos­ten ihrer Ver­tei­di­gung auf­zu­bür­den, wäh­rend sie Han­del trie­ben, selbst mit den Kom­mu­nis­ten und end­lich unter ame­ri­ka­ni­schen Schutz und Schirm Geschäf­te mit den Kom­mu­nis­ten mach­ten, eine all­ge­mei­ne Ent­span­nung zu ihnen suchten.

Alli­an­zen set­zen ein Motiv, einen bestimm­ten Zweck vor­aus, der eine gewis­se Kon­for­mi­tät der Inter­es­sen erhält. Der Sinn der Nato lag im Anti­kom­mu­nis­mus. Ihre Auf­lö­sung war pro­gram­miert. Das Bünd­nis ver­lor sei­ne Daseins­be­rech­ti­gung, sobald die Furcht vor dem Kom­mu­nis­mus und der Sowjet­uni­on nach­ließ. Schon vor dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on hiel­ten US-Ame­ri­ka­ner wie David P. Cal­leo 1987 die Nato für eine über­hol­te Kon­struk­ti­on, was bedeu­te­te, den trans­at­lan­ti­schen Bezie­hun­gen eine neue Inter­pre­ta­ti­on zu geben. Cal­leo, auch ein euro­pä­isch-his­to­ri­scher Kopf, beklag­te, daß die USA nicht zuletzt von den Euro­pä­ern in eine hege­mo­nia­le Rol­le gedrängt wor­den waren, die eben nicht mehr in frei­er Part­ner­schaft sich äußer­te, son­dern zuneh­mend in ein­sei­ti­ger Domi­nanz. Die USA hät­ten die Welt nach dem Krie­ge plu­ra­lis­tisch erneu­ert und dann nach und nach ein Ver­ständ­nis für dies Plu­ri­ver­sum ver­lo­ren, das sie immer ent­schie­de­ner mit ihrem Wil­len har­mo­ni­sie­ren, gleich­schal­ten woll­ten. Das über­for­de­re end­lich ihre Möglichkeiten.
Jen­seits von einer unver­hoh­le­nen Hege­mo­nie im Bezie­hungs­ge­flecht meh­rer Groß­mäch­te oder Staa­ten­ver­ei­ni­gun­gen, die, wie Euro­pa, zum Rang einer Welt­macht auf­stei­gen, müß­ten die USA zu neu­en Über­ein­künf­ten gelan­gen, nicht unähn­lich dem frü­he­ren Kon­zert der Mäch­te, jetzt einem Ensem­ble der Welt­mäch­te, die über den Welt­frie­den wachen. Der Kal­te Krieg und der Rüs­tungs­wett­lauf hat­ten, wie als­bald auch Paul Ken­ne­dy zu beden­ken gab, die USA über­an­strengt. Cal­leo sprach nicht vom Rück­gang ame­ri­ka­ni­scher Macht. Er ver­wies dar­auf, daß ande­re auf­stie­gen, sich den ame­ri­ka­ni­schen Mög­lich­kei­ten näher­ten, daß die Welt sich nicht in ein Uni­ver­sum unter ame­ri­ka­ni­scher Füh­rung wan­de­le, son­dern als Plu­ri­ver­sum zu einer neu­en „Ver­fas­sung“ fän­de. Die­se Ent­wick­lung wer­de es den US-Ame­ri­ka­nern gera­de leich­ter machen, ihren Ein­fluß wohl­tä­tig zur Gel­tung zu brin­gen. Die USA müß­ten es nur ler­nen, sich in der mul­ti­po­la­ren Welt, die sie sel­ber geschaf­fen hat­ten, wie­der einzuleben.
Das waren sehr ver­nünf­ti­ge Über­le­gun­gen, nicht zuletzt zum Vor­teil der USA, deren öko­no­mi­sche Basis nicht mehr sta­bil genug war, um die Hege­mo­nie, die Anfüh­rung eines Bun­des­ge­nos­sen­ver­ban­des, gar zu effek­ti­ver Welt­herr­schaft, zu impe­ria­ler Welt­durch­drin­gung zu erwei­tern. Der Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on wur­de aber nicht als War­nung ver­stan­den, die eige­nen Über­an­stren­gun­gen zu beden­ken. Die USA ver­stan­den sich als Sie­ger im Kal­ten Krieg und glaub­ten kurz­fris­tig sogar dar­an, das Ende der Geschich­te sei erreicht in einer Welt, die nur noch ein Ziel kennt, in alle Ewig­keit mit den USA zu ver­schmel­zen. Ein Tri­um­pha­lis­mus über­wäl­tig­te selbst klug-zurück­hal­ten­de US-Ame­ri­ka­ner. Die USA, die ein­zi­ge Super – oder Hyper­macht, lie­ßen sich nach und nach von den Ver­fech­tern ihres impe­ria­len Auf­tra­ges sug­ge­rie­ren, die unent­behr­li­chen Nati­on zu sein, die über­all für Ord­nung zu sor­gen hat. Die ein­zi­ge Nati­on, die zu den Waf­fen grei­fen darf, weil sie genau weiß, wann die Stun­de gekom­men ist, wann alles schwei­gen muß, um den Waf­fen als Argu­ment Gehör und Über­zeu­gungs­kraft zu verleihen.
Das Ende der Geschich­te ist nicht erreicht. Ganz im Gegen­teil, der unbe­fan­ge­ne Impe­ria­lis­mus der USA weckt dif­fu­ses­te Ten­den­zen, sich US-ame­ri­ka­ni­scher Begehr­lich­kei­ten oder Ver­wor­ren­hei­ten zu erweh­ren, was die Geschich­te als unbe­stimm­te Sum­me man­nig­fa­cher Bestre­bun­gen und Tät­lich­kei­ten unge­mein belebt. Zu den gro­ßen Lebens­lü­gen der Gegen­wart gehört die Legen­de vom Nie­der­gang der Natio­nen. Die USA, die unent­behr­li­che Nati­on, um mit Made­lei­ne Alb­right zu reden, ver­an­schau­li­chen über­schweng­lich die Selbst­ge­nüg­sam­keit der Nati­on und des Natio­na­len Gedan­kens, die pral­le Gegen­wart des Natio­na­lis­mus. Die USA beschäf­ti­gen sich mit der Welt nur inso­weit, als es not­wen­dig ist, die eige­ne Sicher­heit und Unver­letz­lich­keit vor jeder Bedro­hung zu schüt­zen. Die USA ver­hal­ten sich nicht, wie Kennan es hoff­te, im Bewußt­sein ihrer Stär­ke über­legt und über­le­gen. So stark und unver­letz­lich wie sie sind, zei­gen die­se „gött­lichs­ten Göt­ter“, um mit Wag­ners Loge zu reden, Angst und Furcht. Sie wol­len abso­lut sicher auf ihrer „glück­li­chen Insel“ sein. Allein ihre Sicher­heit inter­es­siert die­se Welt­macht, die es mitt­ler­wei­le als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­setzt, daß sich die Welt ins­ge­samt unsi­cher füh­len muß, sobald ein Schweiß­aus­bruch die USA überfällt.

Alle Welt­mäch­te, von den Römern bis zu den Spa­ni­ern und selbst zu den Sowjets, ver­kün­de­ten eine Bot­schaft, die unab­hän­gig von ihren urei­gens­ten Inter­es­sen als impe­ria­ler Bewe­gung Frie­den, Gerech­tig­keit und Ord­nung gera­de denen in Aus­sicht stell­te, die besiegt wur­den. Die USA sind die ers­te impe­ria­le Macht, die dar­auf ver­zich­tet, außer ihrem eige­nen Sicher­heits­be­dürf­nis eine ande­re Recht­fer­ti­gung ihrer aus­grei­fe­nen Poli­tik vor­zu­tra­gen. Wer sich gegen die unent­behr­li­che Nati­on rich­tet, ist ein Schur­ke und gehört dem Reich der Fins­ter­nis an. Die USA sind das ers­te Impe­ri­um, das unver­hoh­len zugibt, Angst zu haben und aus Furcht die Welt domi­nie­ren will. Das kann nicht gut gehen. Ein Hege­mon, dem die Knie schlot­tern, eine impe­ria­le Macht, die sofort anti­ame­ri­ka­ni­sche Umtrie­be wit­tert, wenn sich auch nur zag­haf­te Oppo­si­ti­on gegen ihre unbe­re­chen­ba­ren „Akti­vi­tä­ten“ regt, ver­dient eher Mit­leid als beson­de­re Auf­merk­sam­keit. Gera­de weil die US-Ame­ri­ka­ner extrem furcht­sam sind, ver­las­sen sie sich auf ihre Waf­fen, auf deren „chir­ur­gi­schen Ein­grif­fe“ mög­lichst gegen­über ent­waff­ne­ten, aus­ge­hun­ger­ten, durch Boy­kotts ent­nerv­te Fein­de. Gegen ohne­hin geschwäch­te „Fein­de des Men­schen­ge­schlechts“ las­sen sich dann medi­en­wirk­sa­me rea­li­ty-shows insze­nie­ren, die zumin­dest jeden in einem bil­der­süch­ti­gen Sae­cu­lum davor war­nen sol­len, mit den USA in Gegen­satz zu geraten.
Wer nicht dem Sicher­heits­be­stre­ben der USA dient, der nähert sich dem Sta­tus eines Schur­ken und muß mit den ent­spre­chen­den Erzie­hungs­maß­nah­men rech­nen. Die rei­chen von Lie­bes­ent­zug bis zum Flä­chen­bom­bar­de­ment. Es emp­fielt sich nicht, Gast­freund US-ame­ri­ka­ni­scher Staats­se­kre­tä­re oder Prä­si­den­ten zu sein. Irgend­wann, ob Bin Laden oder Sad­dam Hus­sein, sind sie Inkar­na­tio­nen des Bösen. Lis­ti­ger­wei­se wer­den die erklär­ten Umhol­de nicht gefunden,obwohl die USA die gan­ze Welt in Bewe­gung set­zen, um nicht nur die Böse­wich­te, son­dern das Böse über­haupt aus­zu­rot­ten. Böse ist, was US-Ame­ri­ka bedroht. Das ist aller­dings eine Bot­schaft, die nicht ein­mal US-Ame­ri­ka­ner, ob Nor­man Mailer oder Sus­an Son­tag, ernst neh­men. War­um sol­len aus­ge­rech­net Euro­pä­er ihre wich­tigs­te Ver­pflich­tung dar­in erken­nen, den USA dazu zu ver­hel­fen, sich behag­lich und unge­stört zu fühlen?
Das Bedürf­nis der USA nach abso­lu­ter Sicher­heit stürzt ROW, the rest of the world, in tau­send Ver­le­gen­hei­ten und voll­stän­di­ge Unsi­cher­heit. ROW hat ganz ande­re Inter­es­sen als die ver­un­si­cher­ten USA, denen die Welt nur als Mit­tel für urei­gens­te natio­na­le Begehr­lich­kei­ten taugt. Es war eine unüber­leg­te, sen­ti­men­ta­le Auf­wal­lung, nach dem 11. Sep­tem­ber zu beken­nen: Wir sind alle Ame­ri­ka­ner. Euro­pä­er ahnen mitt­ler­wei­le, daß sie kei­ne „Ame­ri­ka­ner“ sind, daß sie ihr Ver­hält­nis zu den USA neu bestim­men müs­sen. Sie müs­sen, was Kennan hoff­te, was Cal­leo erwar­te­te, tun: selb­stän­dig werden.
Das fällt schwer, wie bei Kin­dern, die all­zu lan­ge unter der Obhut ihrer Eltern leb­ten. Im Zusam­men­hang mit dem Irak-Krieg fan­den sich Frank­reich, Deutsch­land und Ruß­land zusam­men in dem Wider­stand gegen rein natio­na­le Zie­le der USA. Sie fan­den zufäl­li­ger­wei­se zusam­men, es gab kein euro­päi­sches Pro­gramm der drei Staa­ten oder Mäch­te. Den­noch deu­tet sich in die­ser impro­vi­sier­ten Zusam­men­ar­beit eine künf­ti­ge Kon­stel­la­ti­on an, die auch schon in der Ver­gan­gen­heit Rus­sen, Deut­sche und Fran­zo­sen beschäf­tig­te: eine kon­ti­nen­ta­le Eini­gung, die Euro­pa bis zum Ural vebin­det und über Ruß­land hin­aus auf die eura­si­schen Zusam­men­hän­ge ver­weist, in die Euro­pa seit eh und je ein­ge­bun­den ist. Es sind die Vor­stel­lun­gen des Gene­rals de Gaul­le, die wie­der­be­lebt wer­den. De Gaul­le hielt die Alli­anz mit den USA für eine vor­über­ge­hen­de, den Zeit­um­stän­den geschul­de­te Lösung. Ver­schwin­det der Kom­mu­nis­mus, dann erüb­rigt sich eine wei­te­re mil­tä­ri­sche Ver­bin­dung mit den USA. Ruß­land ist unter ver­än­der­ten Bedin­gun­gen das, was es immer war: eine euro­päi­sche Groß­macht, die nicht iso­liert oder vom übri­gen Euro­pa abge­drängt wer­den darf. Die viel­mehr, gera­de um sie vor dum­men Gedan­ken zu bewah­ren, in das Spiel der euro­päi­schen Staa­ten hin­ein­ge­zo­gen wer­den muß.

Euro­pa kann nur zusam­men mit Ruß­land zu einem neu­en Selbst­be­wußt­sein fin­den, zu einer Groß­macht wer­den, die den Mut hat, eine sol­che zu sein. Hier aber erge­ben sich sofort Schwie­rig­kei­ten. Die USA wün­schen kei­nen hand­lungs­fä­hi­gen, selb­stän­di­gen euro­päi­schen Riva­len, einen Kon­ti­nen­tal­block unter Ein­schluß Ruß­lands. Befan­gen in ihrem Natio­na­lis­mus fürch­ten sie ein Wie­der­erwa­chen des rus­si­schen Natio­na­lis­mus, den sie wie jeden Natio­na­lis­mus als Gefahr ein­schät­zen. Die USA wol­len, wie im Kal­ten Krieg, Ruß­land mög­lichst „ein­däm­men“, ein­ge­kreist, in sei­ner Bewe­gungs­frei­heit ein­ge­engt wis­sen. Für die Euro­pä­er hin­ge­gen eröff­net Ruß­land wie­der Räu­me, von denen sie zeit­wei­se abge­schnit­ten waren, und die mit Euro­pa zusam­men einem Groß­raum bil­den, wie ihn die Geschich­te als Geo­gra­phie in Bewe­gung, um mit Her­der zu spre­chen, vor­be­rei­tet hat.
Geo­po­li­tik und das Den­ken in Groß­räu­men gewin­nen unter dem Ein­druck der Mon­dia­li­sie­rung, der Welt­zu­sam­men­fas­sung als Bezie­hung von Räu­men, eine neue Bedeu­tung. Die Euro­pä­er sind dar­auf inso­fern unzu­läng­lich vor­be­rei­tet, als sie über eine Frei­han­dels­zo­ne hin­aus kaum eine Idee von Euro­pa als geis­ti­gem Raum besit­zen, der sich his­to­risch ver­tieft als eine poli­ti­sche Ein­heit zu erken­nen gibt. Die mili­tä­ri­sche und außen­po­li­ti­sche Unei­nig­keit und Kon­zep­ti­ons­lo­sig­keit der Euro­pä­er ist ihnen wäh­rend der angel­säch­si­schen Vor­be­rei­tun­gen zum Irak­krieg beson­ders deut­lich gewor­den. Ein unei­ni­ges Euro­pa behin­dert aller­dings den Weg zu Eman­zi­pa­ti­on und Selb­stän­dig­keit, das Ziel sämt­li­cher Bemü­hun­gen um Euro­päi­sche Einig­keit und Eintracht.
Die Ver­stän­di­gung zwi­schen Paris, Ber­lin und Mos­kau war zuerst ein­mal unge­wohnt für vie­le Euro­pä­er. Außer­dem bewirkt sie unwei­ger­lich die Sor­ge, unter die Hege­mo­nie der drei gro­ßen Mäch­te inner­halb Euro­pas zu gera­ten. Die­ser Ver­dacht ist, unge­ach­tet eini­ge Takt­lo­sig­kei­ten Chi­racs, nicht unbe­grün­det. Denn es ist, bei dem Man­gel an euro­päi­scher Koor­di­na­ti­on, unver­meid­lich, daß die wich­tigs­ten Staa­ten Euro­pas sich ver­ab­re­den und zusam­men­wir­ken. Ent­spre­chend ihrer Bedeu­tung inner­halb Euro­pas wird ihr Bei­spiel die ande­ren nach und nach beein­flus­sen. Im Deut­schen Bund des 19. Jahr­hun­derts, einer Kon­struk­ti­on nicht unähn­lich der EU, blieb den ande­ren deut­schen Staa­ten wenig ande­res übrig, als sich in die Rat­schlä­ge Preu­ßens und Öster­reichs zu fügen, sobald bei­de einig waren.
Deutsch­land und Frank­reich sind der Kern Euro­pas. Wider­willg wird das von den übri­gen Euro­pä­ern aner­kannt. Ein Kern­eu­ro­pa ist seit Otto Hint­ze in der ver­fas­sungs – und sozi­al­ge­schicht­li­chen Dis­kus­si­on ein geläu­fi­ger Begriff. In dem Raum, den das frän­ki­sche Reich der Karo­lin­ger umfaß­te, mach­ten sich über mehr als ein Jahr­tau­send bis heu­te immer wie­der die ver­än­dern­den, die dyna­mi­schen Kräf­te bemerk­bar. Eine enge Über­ein­stim­mung zwi­schen Paris und Ber­lin ent­wi­ckelt wie eh und je eine Sog­kraft, der sich all­mäh­lich auch die Wider­stre­ben­den nicht wer­den ent­zie­hen kön­nen. Es gilt alle Absich­ten, die ein­mal mit dem Ely­sée-Ver­trag ver­knüpft waren, zu revi­ta­li­sie­ren, tat­säch­lich eine deutsch-fran­zö­si­sche Einig­keit her­zu­stel­len, die gar kei­ner umständ­lich orga­ni­sier­ten Ein­heit bedarf. Ein­mü­tig­keit genügt, um zumin­dest den Kern Euro­pas zu einer selb­stän­di­gen Kraft aus­zu­bil­den. Ruß­land von Ran­d­eu­ro­pa her, kann die­se Ent­wick­lung am nach­hal­tigs­ten unter­stüt­zen. Ruß­land sucht den Wie­der­an­schluß an Euro­pa, die „Ein­ge­mein­dung“ in unter­bro­che­ne Zusam­men­hän­ge. Es bedarf bei den unge­wi­ßen Ehr­geiz der Völ­ker und Mäch­te im asia­ti­schen Raum unbe­dingt freund­li­cher Bezie­hun­gen zu Euro­pa. Zusam­men mit Euro­pa kann die wich­tigs­te Atomm­macht nach den USA wie­der ihrer Funk­ti­on als Welt­macht gerecht wer­den, gera­de zum Vor­teil Euro­pas bei Kon­flik­ten im eura­si­schen Raum oder bei der Bemü­hung, sie erst gar nicht auf­kom­men zu lassen.

Ruß­land ist der natür­li­che Ver­bün­de­te. Übri­gens ver­mag der rus­si­sche Ein­fluß unter Umstän­den etwa­ige Unaus­ge­wo­gen­hei­ten zwi­schen Frank­reich und Deutsch­land aus­zu­ba­lan­cie­ren. Denn Frank­reich sieht selbst­ver­ständ­lich in sol­chen Wech­sel­be­zie­hun­gen die Chan­ce, fran­zö­si­sche Eigen­wil­lig­kei­ten zur Gel­tung zu brin­gen, nicht zuletzt um deut­sche Gemüts­er­götz­lich­kei­ten wir­kungs­los zu machen. Den unprak­ti­schen Deut­schen könn­ten wie­der­um Fran­zo­sen und Rus­sen den Zugang zur Rea­li­tät ebnen. Alle drei zusam­men kön­nen Euro­pa aus sei­ner Bequem­lich­keit befrei­en, zu räson­nie­ren, die Moral­trom­pe­ten zu bla­sen und ansons­ten Geschäf­te zu machen.
Ber­lin, Paris, Mos­kau weist hin­über in die Zukunft und gibt Euro­pa in ihr ein beson­de­res Gewicht. Die künf­ti­gen Ent­schei­dun­gen fal­len in Eura­si­en. Klu­ge ame­ri­ka­ni­sche Impe­ria­lis­ten wie Zbi­gniew Brze­zinski sehen die Schwie­rig­kei­ten für die USA, eine raum­frem­de Macht in Eura­si­en. Nur wenn es ihnen gelingt, in Eura­si­en Brü­cken­köp­fe oder Pro­tek­to­ra­te zu behal­ten oder neue zu bil­den, kön­nen die USA die ein­zi­ge Welt­macht blei­ben. Sei­ne äußers­te Sor­ge ist, daß die USA auf ihre „glück­li­che Insel“ zurück­ge­wor­fen und aus der Fer­ne zum Beob­ach­ter des Gesche­hens am Ran­de von ROW wer­den. Der „Kampf gegen den Ter­ror“ ist der dra­ma­ti­sche Vor­wand, um die USA in Eura­si­en in Stel­lung zu brin­gen. Brze­zinski ver­mag sich alle mög­li­chen Kon­stel­la­tio­nen in der Zukunft vor­zu­stel­len, eine Annä­he­rung, ja dau­er­haf­te Ver­bin­dung von Fran­zo­sen, Deut­schen und Rus­sen gehört nicht dazu. Ein Kon­ti­nen­tal­block in Eura­si­en ver­setzt als blo­ße Idee US-Ame­ri­ka­ner in Schre­cken wie frü­her die Bri­ten. Ver­ständ­li­cher­wei­se. Ver­bün­det sich Euro­pa mit Ruß­land, geht nicht nur das Pro­tek­to­rat Euro­pa ver­lo­ren. Dann wer­den auch die Japa­ner sich end­lich aus der Vor­mund­schaft der USA lösen. Dann wird die Welt, was Kennan ehe­dem hoff­te, ein Plu­ri­ver­sum stets neu aus­zu­glei­chen­der Rivalitäten.
In die­sem Plu­ri­ver­sum wer­den die USA nur eine Stim­me neben ande­ren füh­ren. In die­ser neu­en, in der Ent­ste­hung begrif­fe­nen Welt wird sich her­au­stel­len, daß auch die USA den Kal­ten Krieg nicht gewon­nen haben. Nicht nur die inne­ren Span­nun­gen und Über­span­nun­gen, die hyper­tro­phe Rüs­tung und die wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten wei­sen auf ein Ame­ri­ka jen­seits von Hege­mo­nie oder Vor­herr­schaft. Die eine Welt, zu der sich die gesam­te Welt als ver­grö­ßer­te USA zusam­men­schlie­ßen soll­ten, bleibt eine Fik­ti­on wie die Hoff­nung auf die sowje­ti­sche Welt­ge­mein­schaft. Die Euro­pä­er zögern noch. Aber eines ist gewiß: in der Abhän­gig­keit von den USA wol­len die Euro­pä­er nicht mehr blei­ben. Ihr Ver­hält­nis zu den USA bedarf ande­rer Deu­tun­gen und Anknü­fungs­punk­te als der gewohn­ten. Das wird eini­ge Zeit in Anspruch neh­men, vor allem um Kern­eu­ro­pa als Hand­lungs­grup­pe zu schaf­fen. Aber zwi­schen den USA und Euro­pa hat der Irak­krieg eine Wen­de ein­ge­lei­tet. Die Bezie­hun­gen wer­den sich auf jeden Fall ver­än­dern. Es ist Auf­ga­be der Euro­pä­er, den Wan­del zum Vor­teil ihrer Hand­lungs­frei­heit und Sou­ve­rä­ni­tät zu nutzen.

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