Die Auseinandersetzung zieht sich also durch mehrere Jahrzehnte und ist nichts, womit Habermas irgendwann »fertig« geworden wäre. Wie auch? Verwandte er als Student doch die »Daseinsanalyse« aus Sein und Zeit in seiner Dissertation über Schellings »Weltalter«-Fragmente. Ist doch seine These von der »Lebenswelt «, die sich im Gespräch eröffnet, im weiteren Sinne orientiert an Husserl und an Heideggers Analyse vom »In-der-Welt-sein«. Nein, Habermas kann (und will) Heidegger nicht in Gänze verwerfen. Er will »Mit Heidegger gegen Heidegger denken« (so der Titel des FAZ-Artikels von 1953). Es ist der Glaube an die Vernunft, die den Sozialphilosophen zu seiner Bruchstück-Übernahme der Fundamentalontologen treibt: Lediglich der argumentative Teil des Heideggerschen Werks wäre der Rettung wert, im Gegensatz zum nicht-rationalen, der zudem noch weltanschaulich infiziert sei.
Wer so mit dem Finger auf das Erbe des Philosophen zeigt, zeigt zugleich und vor allem auf sich selbst: Habermas bringt, indem er das Erbe Heideggers so selektiv pflegt, die Grenzen und Leerstellen seiner eigenen Diskursphilosophie zum Vorschein. Schon in der Kritik von 1953 beschränkt sich die Lektüre der Neuauflage von Heideggers Einführung in die Philosophie (1935) nicht auf Enttäuschung über das einstige Idol. Heidegger hatte in seiner Schrift die technische Neuzeit als Gipfel der Seinsvergessenheit gebrandmarkt. In diesem apokalyptischen Szenario betraute er Deutschland mit einer »weltgeschichtlichen Mission«: der Überwindung des technischen Zeitalters. Habermas fürchtete nun eine Neuinfektion »begeisterungsfähiger Studenten « durch diesen Text, acht Jahre nach Beendigung des NS-Regimes. Diese Sorge durchzieht die Heidegger-Kritiken von Habermas wie ein roter Faden. Gestützt auf Hölderlin und Nietzsche habe Heidegger ausgerechnet in der NS-Bewegung das Potential für diese Aufgabe entdeckt, mochte sie auch später »korrumpiert« werden. Darauf spiele der Seinsdenker an, wenn er immer noch die »innere Wahrheit und Größe dieser Bewegung« beschwöre. Außerdem entziehe sich Heideggers Seinsverständnis der Logik, der Anruf des Seins (so Heidegger) werde durch Logik bloß trivialisiert. Vielmehr bleibe das Seinsdenken dem »Geistigen«, dem »Starken« vorbehalten: »Deshalb kennt der Gewalt-Tätige nicht Güte und Begütigung (im gewöhnlichen Sinne), keine Beschwichtigung und Beruhigung durch Erfolg und Geltung«, zitiert Habermas den Kritisierten. Dabei weiß er natürlich, daß man »Gewalt-Tätig« nicht einfach mit »gewalttätig« übersetzen darf. Aber es ist die martialische Aufladung der Terminologie, die der Sozialphilosoph kritisiert, das Assoziationsspektrum, das darin mitschwingt: »Denn Stil ist gelebte Haltung, von ihm springt der Funke spontaner Verhaltensbildung über«. Es ist die suggestive Macht des Nichtdiskursiven, die Habermas fürchtet. Ironischerweise hatte Heidegger selbst eine wesentlich höhere Meinung von der studentischen Mündigkeit: Ist der Attackierte doch in seiner Erwiderung »überzeugt, daß die Vorlesung die erwähnten Sätze durchaus verträgt für einen Leser, der das Handwerk des Denkens gelernt hat.«
36 Jahre später hat Habermas wieder Angst um die »begeisterungsfähigen Studenten«, die jetzt nicht mehr Heidegger, sondern seinen französischen Adepten erlägen. Er zitiert Manfred Frank: »Die neufranzösischen Theorien werden von vielen unter unseren Studenten wie eine Heilsbotschaft aufgenommen«. In ihnen »saugen die jüngeren Deutschen begierig … ihre eigene nach dem Dritten Reich unterbrochene irrationalistische Tradition wieder ein«. Habermas Unternehmen besteht jetzt darin, die Studierenden über die »verborgenen« Theorie-Grundlagen ihrer »Heilsbotschafter« aufzuklären.
In Heideggers Sein und Zeit ist das Dasein im »Man« ein uneigentliches. Zum »eigentlichen « Dasein wird das Individuum in der Angst, wenn es sich als »Sein zum Tode« erkennt. Hier erfährt der Mensch den Aufruf zum »eigensten« Handeln, die Verbindlichkeiten des »Man« verblassen. Habermas erklärt, daß die Entschlossenheit des »eigentlichen« Handelns gegen das »Man« und sein »Gerede« Heideggers späterer Angleichung seines Denkens an die völkische Revolution keineswegs entgegenstehe. Er habe 1929 seinen Begriff des »Daseins« lediglich vom Individuellen zum Kollektiv-Völkischen ausweiten müssen, schon wäre Sein und Zeit mit der NS-Ideologie kompatibel gewesen. Dabei stützt sich Habermas auf eine Behauptung von Winfried Franzen, wonach vieles von dem, »was Heidegger 1933/34 sagte und schrieb, sich aus dem, was in Sein und Zeit stand, zwar nicht zwangsläufig ergeben mußte, aber doch mindestens zwanglos ergeben konnte«.
Das ist schlicht und ergreifend falsch! Denn um das »Dasein« erfolgreich zu kollektivieren, mußte die »Grundstimmung« ausgewechselt werden. Ab 1929 ist dann auch die Todesangst durch nihilistische Leere als Zugang zur Eigentlichkeit abgelöst. Zwangsläufig. Denn eine Gesellschaft kann durch ein Eingeständnis des Nihilismus zu sich selbst gelangen (oder sich – wie 1933 – so richtig verfehlen), aber durch die (Todes-) Angst kann nur ein Individuum sein Eigentliches finden. Die Angst zum Tode versperrt sich jeder Kollektivierung. In ihr ist der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen. Deshalb mußte die Todesangst Verdrängung erfahren, ersetzt werden. Paradoxerweise beklagt Habermas im gleichen Text, daß Heidegger in Sein und Zeit übertriebenem Individualismus fröne, daß er »mit dem bloß abgeleiteten Status des ›Mit-Seins‹ die Dimension von Vergesellschaftung und Intersubjektivität « verfehle – womit zugegeben wäre, daß der Ansatz aus Sein und Zeit keine Kollektivierung erlaubt.
Sein und Zeit führt also nicht »zwanglos« zur faschistischen Ideologie, das hätte Habermas aus seinen eigenen Interpretationen ableiten können. Mit seinem Grundvorwurf hat er freilich recht: Heidegger hat für eine Phase sein Denken mit der NS-Ideologie kompatibel gemacht, und die Distanzierung durch Umwertung schritt nur langsam voran. Vom Faschismus als Gegengift zum Nihilismus bis zu dessen extremstem Symptom war ein weiter Denkweg zurückzulegen. Habermas sieht vor allem in der damit verbundenen »Kehre« ein Problem, die Heidegger gleichzeitig vollzog. Die Seinsfrage gehe nicht mehr vom »Dasein« aus, sondern – umgekehrt – vom Sein selbst. Letzteres würde nun zum Subjekt erhoben, dessen Wirken ohne jede rationale Fundierung als »Wahrheit« behauptet würde. Mit dieser Kehre nähme Heidegger auch die Erkenntnis aus Sein und Zeit zurück, wonach das Dasein sich als geschichtliches keine außergeschichtliche Letztbegründung geben kann.
Habermas übertrug den Vorwurf des Irrationalen und Mythischen auch auf Heideggers Technik- und Ratiokritik nach 1945. Er stellte ihr sein eigenes Konzept entgegen: Vernunft-Kritik könne ihrerseits nur auf Vernunft-Ebene, nicht durch Mythos oder einer willkürlich postulierten »Wahrheit« erfolgen. Problematisch ist dabei nur, daß die universelle Gültigkeit der Vernunft ihrerseits ein nicht-rationales Postulat ist. Jeder Weltzugang, auch der rationale, fußt auf intuitiver Schau oder Erkenntnis. Und, ob sich mit der Vernunft die – von ihr selbst provozierten – Katastrophen beheben lassen, die Aufklärung also ohne Gegen-Aufklärung auskommt, hat Habermas nicht bewiesen. Er hat vielmehr selbst die frühen Zweifel an der Tragfähigkeit seiner Vernunft-Modelle nie argumentativ, sondern stets nur medien- und personalpolitisch aus der Welt räumen können.