In der Tat ist die Abgrenzung vom großen bundesdeutschen Cousin eine Form der „Xenophobie“, die gesellschaftsfähig geblieben ist, wenn sie auch in Wahrheit nicht besonders tief reichen mag und eine Stichelei ist, die gleichsam „in der Familie“ bleibt.
Daß sich die Österreicher vor 1945 mit einiger Selbstverständlichkeit als Deutsche betrachtet haben, ist in der Alpenrepublik weitgehend in Vergessenheit geraten, wenn es nicht aktiv verdrängt wurde. Die österreichische Separatidentität hat sich jedenfalls derart tief ins Selbstverständnis der Österreicher eingefleischt, daß sich „großdeutsche“ politische Sehnsüchte wohl für immer erledigt haben.
Schuld daran ist ironischerweise jener Österreicher, der bereits auf der ersten Seite seines Buches Mein Kampf programmatisch verkündet hatte, daß „Deutschösterreich“ wieder zum „großen deutschen Mutterlande“ zurückkehren müsse.
Daß dieser Gedanke keineswegs genuin nationalsozialistisch war, ist heute ebenso vergessen, wie die Tatsache, daß sich die Habsburger bis hin zu Kaiser Franz Josef und Kaiser Karl als „deutsche Fürsten“ sahen. Bis zu seiner Niederlage im Krieg gegen Preußen 1866 war Österreich Mitglied im Deutschen Bund; sein Ausscheiden als potentielle Führungsmacht der Reichseinigung ließ die seit 1848 gestellte „großdeutsche“ Frage offen.
Sie wurde 1918 erneut aufgeworfen, als vom Vielvölkerstaat der Habsburger ein kleiner Rest übrigblieb, dessen Grenzen im wesentlichen entlang des deutschen Volkstums gezogen wurden. Artikel 2 des „Gesetzes über die Staats- und Regierungsform“ der am 12. November 1918 ausgerufenen „Republik Deutschösterreich“ unter dem sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner lautete: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik“.
Dieser Artikel wurde am 21. Oktober 1919 unter dem Druck der Sieger des Weltkrieges gestrichen, die das von Woodrow Wilson propagierte „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ schließlich zur Schwächung und nicht zur Stärkung ihrer besiegten Feinde einzusetzen gedachten. Im Programm der Sozialdemokratischen Partei blieb der Artikel allerdings weiterhin bestehen, und als der Mährer Karl Renner zwanzig Jahre später, am 3. April 1938, öffentlich seine Zustimmung zum „Anschluß“ an das nunmehr nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich bekannt gab und seine „Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St-Germain und Versailles“ äußerte, war er sich selbst durchaus treu geblieben.
Auch der Austromarxist Otto Bauer forderte seine Genossen auf, für den „Anschluß“ zu stimmen, da die nationale Einheit Voraussetzung für die gesamtdeutsche Revolution sei. Und obwohl es zwischen Katholiken und Nationalsozialisten erhebliche Spannungen gab, die sich in den nächsten Monaten heftig entluden, sprach sich auch der Wiener Erzbischof Kardinal Innitzer öffentlich für den „Anschluß“ aus.
Doch auch die Verlierer der Märztage des Jahres 1938, die Repräsentanten des „austrofaschistischen“ christlich-sozialen Ständestaats, der seit 1933 einen inneren Zweifrontenkrieg gegen Sozialisten und Nationalsozialisten führte und um die Unabhängigkeit Österreichs rang, verstanden sich durchaus als Deutsche. In seiner „Trabrennplatzrede“ vom 11. September 1933 hatte sich der später von nationalsozialistischen Putschisten ermordete Bundeskanzler Engelbert Dollfuß unmißverständlich zum Deutschtum bekannt:
Wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich. Wir sind so deutsch, so selbstverständlich deutsch, daß es uns überflüssig vorkommt, dies eigens zu betonen.
Noch am 24. Februar 1938 verkündete sein Nachfolger Kurt Schuschnigg: „Wir sind ein christlicher Staat, wir sind ein deutscher Staat, wir sind ein freier Staat“, in einer Rede, die er mit den Worten schloß: „Bis in den Tod! Rot-weiß-rot!
Zu diesem Zeitpunkt war das 1933 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommene autoritäre Regime kaum mehr zu retten: Es war nicht imstande gewesen, die soziale wie die nationale Frage zu lösen und den latenten Bürgerkrieg zu befrieden, der 1934 im Februaraufstand der Sozialdemokraten und im Juliputsch der Nationalsozialisten eskalierte.
Mit den Verboten der NSDAP und der SDAP allein war die innere Lage nicht in den Griff zu bekommen. Um sie zu entspannen und den politischen Druck des Reiches auf Österreich zu mildern, hatte bereits das „Juliabkommen“ des Jahres 1936 zwischen Wien und Berlin die nationale Opposition erheblich gestärkt; im Februar 1938, als Hitler Schuschnigg nach Berchtesgarden bestellte, hatte Österreich auch außenpolitisch kaum mehr Rückendeckung, insbesondere seit sich Mussolini zunehmend Richtung Deutschland wandte.
Hitler forderte nun von Schuschnigg ungehinderte politische Betätigung für die österreichische NSDAP, die Ernennung eines Nationalsozialisten zum Innen- und Polizeiminister, die Integration der österreichischen in die deutsche Wirtschaft und regelmäßige Besprechungen der Generalstäbe. Dadurch heizte sich die innenpolitische Atmosphäre noch mehr auf.
Am 9. März 1938 gab Schuschnigg bekannt, daß am 13. März eine Volksbefragung stattfinden solle, und forderte seine Landsleute auf, sich zur „Einigkeit“ und „Unabhängigkeit“ Österreichs zu bekennen. Das wurde nicht nur in Berlin als unerträgliche Provokation gewertet – in der Folge kam es in Wien und anderen Landeshauptstädten zu nationalsozialistischen Erhebungen, Straßenkämpfen, antisemitischen Ausschreitungen und lokalen „Machtübernahmen“.
Hitler ergriff die Gelegenheit beim Schopf, zwang die österreichische Regierung per Ultimatum zum Rücktritt und zur Einsetzung einer Regierung unter der Führung des Nationalsozialisten Seyß-Inquart. Schuschnigg trat am Abend des 11. März zurück, und am 12. März überschritt die Wehrmacht die deutsch-österreichische Grenze, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Die Truppen wurden von der enthusiasmierten Bevölkerung mit einem gewaltigen Jubel begrüßt, wie auch Hitler selbst am 13. März in seiner Heimatstadt Linz und am 15. März am Wiener Heldenplatz.
Die überraschende, weitgehend gewaltlose Annexion Österreichs wurde zu seinem bis dato größten außenpolitischen Triumph. Am 10. April fand eine kosmetische Volksabstimmung statt, die zu einem Ergebnis von 99,73 % Ja-Stimmen für den „Anschluß“ führte.
Dies war gewiß über weite Strecken eine totalitäre Farce, jedoch ist kaum zu bezweifeln, daß zu diesem Zeitpunkt tatsächlich die überwiegende Mehrheit der Österreicher den „Anschluß“ mindestens „als historischen Fortschritt“ (Lothar Höbelt) befürwortete. Inzwischen lief der Betrieb in den Schinderhütten an, und zum Ende des Jahres waren zehntausende Menschen aus politischen oder rassischen Gründen verhaftet worden. Viele waren aus dem Land geflüchtet oder hatten wie der Schriftsteller Egon Friedell Selbstmord begangen. Österreichs nationale Identität wurde durch die Umbenennung in „Ostmark“ und später „Donau- und Alpenreichsgaue“ aufgelöst, um die Verschmelzung mit dem Reich zu betonen.
Bereits während des Krieges entstand das später vielkritisierte Bild von Österreich als „erstem Opfer“ der nationalsozialistischen Aggression, etwa in der Moskauer Erklärung (1943) der alliierten Außenminister:
Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, daß Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll,
wobei zugleich daran erinnert wurde, daß Österreich
für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt.
Mit einer solchen Vorlage fiel es Österreich weitaus leichter als Deutschland, die Niederlage von 1945 offiziell als „Befreiung“ auszugeben und die genannte „Verantwortung“ weitgehend von sich zu weisen, mit der Folge, daß die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“ relativ spät einsetzte, was den Österreichern in vieler Hinsicht durchaus zum Segen gedieh und sie weniger anfällig für nationalmasochistische Kompensationen und Erpressungen machte.
In der „Österreichischen Unabhängigkeitserklärung“ der Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ vom 27. April 1945 wurde der „Anschluß“ für null und nichtig erklärt; Mitunterzeichner war der provisorische Regierungsvorsitzende Karl Renner. Der Staatsvertrag von 1955, der das Land in die Neutralität entließ, verbot schließlich die wirtschaftliche und politische Vereinigung zwischen Österreich und Deutschland.
Heute gilt der „Anschluß“ vor allem als immerwährender Schandfleck in der Geschichte des Landes, wobei üblicherweise die jubelnden Massen auf dem Heldenplatz mit den gedemütigten Juden kontrastiert werden, die gezwungen wurden, pro-österreichische Ständestaatparolen von der Straße zu waschen.
Zum fünzigjährigen „Jubiläum“ des „Anschlußes“ schrieb Thomas Bernhard 1988 das Skandalstück „Heldenplatz“, in dem durchaus gegenwartsbezogene Tiraden wie diese standen:
Österreich selbst ist nichts als eine Bühne auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist eine in sich selber verhaßte Statisterie von sechseinhalb Millionen Alleingelassenen sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien…
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Dieser Text von Martin Lichtmesz ist dem Staatspolitischen Handbuch, Bd. 5: Deutsche Daten entnommen.
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Weitgehend aus dem Bewusstsein getilgt wurde durch das verstaatlichte österreichische Geschichtsnarrativ auch der Umstand, dass 1848 sowohl das erste Staatsoberhaupt eines demokratischen gesamtdeutschen Staates als auch dessen erster Innen- und Außenminister Österreicher waren: Erzherzog Johann und Anton von Schmerling.