Tatsächlich zog dies alles heftige Diskussionen nach sich. Die öffentliche Wahrnehmung und Wertung der Sachlagen hat sich hingegen kaum geändert. Entweder wurden die Darstellungen diskursiv umgebogen (beispielhaft in der Jörg-Friedrich-Debatte), oder die vorab als „Enthüllungen” plakatierten Werke relativierten sich im eigenen Vollzug selbst. Heißt: (Nach-)Kriegsverbrechen gegen Deutsche wurden zwar dargestellt, dies aber nur bei Vervielfachung des Gegengewichts auf der historischen Waage. Dauer-Devise: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Schon klar.
Nun läuft Max Färberböcks Geschichtsdrama Anonyma an, Thema: die sexuellen Verwüstungsorgien der Roten Armee in Berlin, Frühjahr 1945. Die Drehbuchgrundlage hat eine längere Geschichte. Jene anonym bleiben wollende Frau, deren Aufzeichnungen rund um die Kapitulation 1959 in einem Schweizer Verlag erschienen sind, wurde nach der Neuveröffentlichung 2003 in Hans-Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek” innerhalb einer mehrmonatigen Feuilletondebatte als Marta Hiller, Schülerin des Publizisten C. W. Ceram (alias Kurt W. Marek) identifiziert. Die bei Kriegsende 34jährige (und 2001 verstorbene) weitgereiste Journalistin hatte zwischen dem 20.4. und 22.6.1945 ihre Erlebnisse im besetzten Berlin in drei Schulheften aufgezeichnet. Noch im folgenden Sommer hat sie das Kladdenwerk abgetippt. Das Dokument erschien erstmals 1954 übersetzt in New York, anschließend in zahlreichen europäischen Ländern sowie in Japan.
Als Eichborn das Buch vor fünf Jahren in Deutschland veröffentlichte, tat sich zuvörderst Jens Bisky als Kritiker hervor. Er beklagte eine „schlampige Edition” und unterstellte Eingriffe seitens Marek in das Manuskript. Eine heftige Diskussion unter Beteiligung zahlreicher Prominenter wie Götz Aly entspann sich, die nach einem flüchtigen Gutachten durch Walter Kempowski (der dem Typoskript Authentizität bescheinigte) nicht abebbte. Offen blieb die Frage, was überhaupt die Aufregung um den Bericht rechtfertigte? Daß es massenhafte Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee gegeben hat, war schließlich nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Außerordentlich abnorme Greueltaten (die an anderer Stelle durchaus Eingang in Geschichtsbücher gefunden haben) erwähnt die Anonyma nicht, weder sodomistische Exzesse noch Schändungen von Kindern und Greisinnen. Als Eklat wurde das Buch allerdings schon bei seiner Erstausgabe im deutschsprachigen Raum empfunden. Zu kalt, zu lakonisch, ja abgebrüht erschienen den wenigen Lesern die Schilderungen der Anonyma.
Welchen Ton nun schlägt der Film an? Zunächst – er fesselt, entfacht einen schaurigen Sog, spinnt seine Fäden, wickelt den Zuschauer ein. Das abgedroschene Wort der „Leinwandpräsenz”: Durch Nina Hoss als Anonyma mit halbwegs glamourösem Vorleben wird es erfahrbar. In ihrem leuchtend petrolfarbenen Wintermantel eilt sie durch die trümmergrauen Schauplätze des Endkampfes, umtost vom Pfeifen der Stalinorgeln. Ziel ist der Keller eines Berliner Mehrfamilienhauses, dessen Dachgeschoß sie bewohnt. In beklemmender Düsternis hat sich hier ein Dutzend Menschen eingefunden, die in den kommenden Wochen – im Film erscheinen sie wie lange Monate – eine Schicksalsgemeinschaft bilden werden.
Nach ersten Heimsuchungen der Kellerfrauen durch russische Soldaten begibt sich die Anonyma auf die Suche nach einem Verantwortlichen – ohne Kenntnis von Rängen und Hierarchien. Sie wird ausgelacht: „Was wollen Sie? Unsere Männer sind alle gesund!” Das wiederholte Auftreten der couragierten Frau mit Russischkenntnissen spricht sich herum. Mittlerweile sind die Kellerinsassen in die großzügigen, unzerstörten Räume einer verwitweten Mitbewohnerin umgezogen. Zeitweise geben sich die Rotarmisten hier die Klinke in die Hand. Sie bringen auch Lebensmittel mit und Unmengen Alkohol. Allabendlich finden Trinkgelage statt – gemeinsam mit den Frauen, die sich notgedrungen in ihre Lage fügen. Ungläubig, ja abgestoßen, lauscht der Zuschauer den unter Gekicher vorgebrachten Zoten, die sich die versammelten Frauen erzählen – doch nein, das ist nicht bloß zynischer Galgenhumor. Es ist Hysterie, die hier aufkeimt. Als „kranke Lustigkeit” beschreibt Anonyma im Buch dieses Symptom.
Anonymas Entschluß, sich einen „Wolf unter den Wölfen” zu suchen, der sie als „fester Liebhaber” vor Übergriffen anderer Männer schützt, ist unterdessen einigermaßen geglückt. Da wird der hochrangige Offizier Andrej (Evgeny Sidikhin) auf sie aufmerksam. Neben Suff und „Liebemachen” kommt es am einst feinen, nun vielfach geschundenen Mahagonitisch zu tiefsinnigen Gesprächen. Über Musisches, über Heimweh – und über Schuld und Schande. Als Zuschauer ist man hier längst eingewickelt, hat sich führen lassen vom Zug der Handlung – da merkt man, daß unter der Hand die Weichen umgestellt worden sind, daß das Mitgefühl auf Gleisen fährt, die ein anderes Ziel verfolgen als das zunächst vorgegebene. Nicht, daß die Perspektive der Russen hinzutritt – nach und nach dominiert sie den Film. Schon früh hat Anonyma eingestanden, daß das Leiden der Berliner Frauen heute in keinem Verhältnis stehe zu dem, was die Deutschen den Russen angetan haben. Später, nachdem sie von zerschmetterten Schädeln russischer Kinder hört, läßt sie das Hilfegesuch einer Mitleidenden stumpf an sich vorbeiziehen.
Während im Buch das Aufkommen romantischer Gefühle gegenüber ihrem Beschützer angedeutet wird, spielt der Film dies zu einer hanebüchenen, ja grotesken Love-Story aus. Das ist nicht schade, es ist geschmacklos. (Regisseur Färberböck übrigens verdankt seine Bekanntheit allein dem Lesbenstreifen Aimée und Jaguar von 1999.) Und es schmälert im Nachklang jene Szenen, die so einschneidend gelungen erscheinen.
Etwa, wo es um das Verhalten der deutschen Männer geht, die noch oder bereits wieder in Berlin sind. „Unsere Männer”, so schreibt die Anonyma, „müssen sich noch schmutziger fühlen als wir besudelten Frauen. In der Pumpenschlange erzählt eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ‚Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!‘ Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes.”
In Buch wie Film stellt der Untermieter der Witwe, ein ehemaliger Volkssturmmann, die Minusfigur deutschen Mannestums dar. Parteigläubig bis zuletzt – und nun so flexibel! Im Buch liegt der Mann vorwiegend „unpäßlich” im Bett und unterhält von dort die deutsch-russische Hausgemeinschaft mit wohlfeilen Einschätzungen zur Weltlage, im Film geistert er als schleimig-jovialer Untertan durch die Räume – immer ein launiges Bonmot auf den Lippen. Daß der Begriff des „Volkes” endlich tot sei, daß es nunmehr um „Bevölkerungen” gehen werde – diese Weisheit wurde ihm freilich erst vom Drehbuch in den Mund gelegt. Den Gegentypus zum geschwätzigen Kriecher markiert ein weiterer Mitbewohner, der unerwartet zu Frau und Kindern heimgekehrt ist. Der sitzt und schweigt, unfähig, den Bitten seiner Frau, doch endlich zu reden, wenigstens wirklich dazusein, zu entsprechen.
Diese Szenen gehören zu den stärksten des Films – der uns insgesamt ratlos hinterläßt. „Historiendrama”, gut, das Genre ist erfüllt – doch wo bliebe die Botschaft? Wo der Eklat? Das blieb schon während der Debatte um das Buch, also: dessen Neuauflage 2003, unklar. Zumal die Sprengkraft von Fakten auch zeitgebunden ist. Während einer (unverheirateten) Mittdreißigerin mit einem guten Dutzend Sexualkontakten auf dem Kerbholz – und seien die Mehrzahl davon rückblickend verzichtbar oder erniedrigend – heute ein beinahe mäßiges Intimverhalten bescheinigt werden kann, dürfte dieselbe Anzahl anno 1945 oder 1959 eine skandalöse Vorstellung bedeutet haben. Darum stieß der Kladdeninhalt bei Anonymas noch 1945 heimgekehrtem Freund auf Argwohn. Darum wurde 1959 das Buch als „Schande für die Ehre der deutschen Frau” bezeichnet.
Auch mit dieser Thematik hat sich nun die Publizistin und ZDF-Autorin Ingeborg Jacobs befaßt. In ihrem gerade erschienen Buch Freiwild (Freiwild. das Schicksal deutscher Frauen 1945, München: Propyläen 2008. 259 S., zahlreiche Abb., geb, 19.90 €) hat sie Frauen aus Berlin, Mecklenburg und den deutschen Ostgebieten ihre Geschichten vom Kriegsende erzählen lassen. Wir lesen im Bericht der Ostpreußin Ruth Irmgard Perplies, wie die damals 13jährige vergewaltigt wurde und vielfach Zeuge wurde, wie das gleiche ihrer Mutter widerfuhr. Das achte Kind der Marta Perplies war Resultat einer dieser Schandtaten, es verhungerte ihr nach wenigen Wochen an der Brust. Da waren es schon drei Kinder, die die Mutter binnen eines Jahres verloren hatte. Erst Jahre später erfuhr Martas Ehemann von diesem fremden Kind – seine Frau hatte es aus Scham verschwiegen. Die Tochter schildert in einer beklemmenden Szene, wie auch ihr dieses Schweigen gleichsam als elftes Gebot nahegelegt wurde. Dies, obwohl die Rangen, die noch Jahre später auf den Straßen „Frau komm!” spielten, ziemlich genau wußten, was diese Zurufe bedeuteten.
Auch wenn Jacobs von rund zweieinhalb Millionen vergewaltigten Frauen, davon knapp 130.000 allein in Berlin, spricht und damit die Schätzungen von Franz W. Seidler und Alfred de Zayas sogar leicht übersteigt, liegt ihrer atemberaubenden, die Kehle zuschnürenden Dokumentation keinerlei politische Stoßrichtung zugrunde. Sie bettet die oral history-Dokumente zeitgeschichtlich ein – mehr ist nicht nötig. Wie wiederum Guido Knopp Jacobs Dokumentation (Sendetermin 19.10., 23.30 Uhr, ZDF-History) einbetten wird, ist eine andere Frage.
Ist es eigentlich von Bedeutung, ob solche Geschichten von einer Frau oder einem Mann erzählt werden? Ist das unsachgemäße Gefühligkeit? Vage unangenehm berührt es jedenfalls, daß Anonymas Bericht durch Männerhände (die des Regisseurs und des Produzenten) ging und „künstlerisch” hin zur Schmonzette verfremdet wurde. Dabei berichtet auch Jacobs von „Liebesverhältnissen” zwischen Russen und deutschen Frauen. Trotz des sowjetischen Fraternisierungsverbots mit dem Feind hat es solche gegeben – Frauen tendieren eben dazu, mit dem Sieger zu gehen; nicht nur die bekannten Affären zwischen GIs und „Frolleins” im Westen zeugen davon.
Wie wichtig eine ausführliche „Kontextualisierung” der russischen Sexualverbrechen an deutschen Frauen genommen wird, hatte bereits 1991 die Regisseurin Helke Sander erfahren. Ihrem von Linken vielfach kritisierten Film und dem gleichnamigen Buch BeFreier und Befreite (Helke Sander/Barbara John (Hrsg.): BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder. München: Fischer 2005. 228 S. Tb, 9.95 €) mußte sie ein peinliches Distanzierungs-Elaborat hinterherschieben.
Der Vorwurf des Revisionismus gegen Sander wog hier insofern schwer, da es sich nicht um irgendeine Feministin, sondern die linke Frontfrau der 68er-Bewegung (sie hielt die berüchtigte Tomatenwurf-Rede vor dem SDS) handelte. Wie hatte sie es wagen können, mit solch eindringlichen Bildern der „Reaktion” Vorschub zu leisten! In der DDR übrigens waren die Verbrechen der Roten Armee vollkommen tabu – mag sein, daß Anonyma regional unterschiedlich zünden wird.
Wer melodramatische Unterhaltung sucht und packende Bilder, ist in diesem Kinofilm gar nicht schlecht aufgehoben. Wer tiefer und redlicher einsteigen will, muß Ingeborg Jacobs Buch lesen.
Der Film „Anonyma – Eine Frau in Berlin” läuft am 23. Oktober bundesweit in den Kinos an.