Mythen – Das emotionale Fundament der Nation

pdf der Druckfassung aus Sezession 31 / August 2009

Politische Mythen sind als »ideologisierende Erzählungen« heute diskreditiert. Die BRD versteht sich als aufgeklärtes, mythenloses Gemeinwesen. Und doch ist mythisches Denken heute noch lebendig, ja unverzichtbar.

Mythen sind Ursprungs­ge­schich­ten, in denen es nicht dar­um geht, irgend­ein lan­ge zurück­lie­gen­des Ereig­nis zu schil­dern, son­dern dar­um, die Gegen­wart zu erklä­ren. Unter natio­na­len Mythen ver­ste­hen wir his­to­ri­sche und sagen­haf­te Ereig­nis­se, in denen in para­dig­ma­ti­scher Wei­se Wesen und geis­ti­ger Bestand einer Nati­on deut­lich wer­den. Mythen sind ide­al­ty­pi­sche Erzäh­lun­gen mit appel­la­ti­vem Cha­rak­ter, die in emo­ti­ons­ge­la­de­nen Geschich­ten erzählt wer­den. Appel­la­tiv heißt, daß sie eine Bedeu­tung haben für unser heu­ti­ges Sein und Tun und Wol­len. Sie erklä­ren nicht nur das geschicht­li­che Gewor­den­sein der Nati­on, son­dern wei­sen ihr auch den Weg in die Zukunft. Ihre Bot­schaft lau­tet: Wie es war, so wird es sein. In der mythi­schen Welt­sicht wird die Nati­on als numi­no­ses Wesen gese­hen, das eine Geschich­te und eine Zukunft hat und sei­ne Iden­ti­tät durch die Zei­ten­läuf­te bewahrt. Als sol­ches ist sie in jedem ein­zel­nen in sub­stan­ti­el­ler Wei­se anwe­send und nicht bloß etwas sub­jek­tiv Gefühl­tes. Wird die Nati­on als blo­ße Wil­lens­ge­mein­schaft ver­stan­den, dann könn­te jede Gene­ra­ti­on von neu­em bestim­men, wel­che Inhal­te sich die­se Wil­lens­na­ti­on gibt. Der Blick auf die Geschich­te lehrt aber, daß im Gegen­teil ein gewis­ses Maß an Kon­ti­nui­tät des Stre­bens der ein­zel­nen Natio­nen fest­stell­bar ist. Dabei han­delt es sich nicht nur um geo­po­li­ti­sche Not­wen­dig­kei­ten, denen sich jede Gene­ra­ti­on von neu­em fügt, son­dern es ist ein­deu­tig auch die Geschich­te, deren Auf­trä­ge jede Gene­ra­ti­on zu erfül­len trach­tet. Wie ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens man­che Ansich­ten revi­diert, lernt und sich ver­än­dert, so kann sich auch das Selbst­ver­ständ­nis einer Nati­on im Lau­fe der Zei­ten ändern. Nur ist dies ein kon­ti­nu­ier­li­cher Pro­zeß, der stets ver­sucht, Ver­än­de­run­gen aus der Ver­gan­gen­heit her­aus zu legi­ti­mie­ren. Und zwar immer – auch dann, wenn, wie dies bei den heu­ti­gen Deut­schen der Fall ist, eine Nati­on ihre Gegen­wart als Bruch mit der Ver­gan­gen­heit definiert.
Die hier beschrie­be­ne mythi­sche Welt­sicht steht nicht in Kon­kur­renz zur wis­sen­schaft­li­chen, son­dern bil­det ein eige­nes Sys­tem, das sei­ne eige­ne Berech­ti­gung hat. Sie zeigt uns Aspek­te der Wirk­lich­keit, die genau­so real sind, wie jene Aspek­te, die uns die Wis­sen­schaf­ten zei­gen – ähn­lich wie ein Forst­wirt bei einem Wald­spa­zier­gang etwas ande­res wahr­neh­men wird, als ein Künst­ler, dem es auf das Spiel des Lichts und die see­li­sche Erfah­rung der Natur ankommt. Bei­de sehen Unter­schied­li­ches, und doch ist der Rea­li­täts­grad der einen Erfah­rung nicht gerin­ger als der der anderen.
Die natio­na­len Mythen bil­den »das emo­tio­na­le Fun­da­ment der Nati­on «. In den Mythen tritt mir mein Volk, wie es an sich ist, ent­ge­gen. Das gilt in indi­rek­ter Wei­se für den gan­zen Bereich der Kul­tur, wo es um das Volk­haf­te geht – vom Volks­lied bis zur Bal­la­de. Schon Goe­the sprach davon, daß der Erzie­her die Kind­heit hören muß und »nicht das Kind; der Gesetz­ge­ber und Regent die Volk­heit und nicht das Volk. Jene spricht immer das­sel­be aus, ist ver­nünf­tig, bestän­dig, rein und wahr. Die­ses weiß nie­mals für lau­ter Wol­len, was es will«. Das Fun­da­ment der inne­ren Bezie­hung zum eige­nen Volk muß also in der »Volk­heit« lie­gen, in den Mythen und der Kul­tur des eige­nen Vol­kes, und ist unab­hän­gig von den posi­ti­ven oder nega­ti­ven Erfah­run­gen, die man mit ein­zel­nen Reprä­sen­tan­ten des­sel­ben macht.

Wich­tig ist fest­zu­hal­ten, daß his­to­ri­sche Mythen nicht iso­liert im Rau­me ste­hen, son­dern mit­ein­an­der ver­bun­den sind. So spie­gelt sich der zen­tra­le deut­sche Mythos vom Frei­heits­kampf des Armi­ni­us gegen die Römer im Mythos der Befrei­ungs­krie­ge gegen Napo­le­on, und bei­de wer­den zur Legi­ti­mie­rung her­an­ge­zo­gen, wenn die deut­sche Natio­nal­be­we­gung im 19. und 20. Jahr­hun­dert das Ide­al ech­ter, ger­ma­ni­scher Frei­heit im Gegen­satz zu den west­li­chen Ideen von Libe­ra­lis­mus und Demo­kra­tis­mus zu bestim­men sucht. Augen­schein­lich wird sol­che his­to­ri­sche Kor­re­spon­denz an einer von dem Künst­ler Emi­le Chatrous­se errich­te­ten Sta­tue, die Ver­cin­g­e­to­rix und Johan­na von Orlé­ans Hand in Hand zeigt – zwei his­to­ri­sche Gestal­ten, deren Lebens­zeit fast andert­halb Jahr­tau­sen­de aus­ein­an­der­liegt, die für das Selbst­ver­ständ­nis Frank­reichs aber die­sel­be Bot­schaft ver­kün­den. Mythen beinhal­ten einen Hoff­nungs­aspekt, ein Ver­spre­chen für die Zukunft.
Ihre Wir­kung ent­fal­ten sie durch nar­ra­ti­ve Varia­ti­on, iko­ni­sche Ver­dich­tung und ritu­el­le Insze­nie­rung. Nar­ra­ti­ve Varia­ti­on meint, daß ein Mythos in den ver­schie­dens­ten lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen, von der Erzäh­lung über das Gedicht und die Anek­do­te bis hin zur wis­sen­schaft­li­chen Abhand­lung, immer wie­der neu erzählt wird. Iko­ni­sche Ver­dich­tung bedeu­tet, daß alle das­sel­be Bild vor Augen haben: Fried­rich der Gro­ße ist als der »Alte Fritz« heu­te noch Mythos, wäh­rend Jugend­bild­nis­se des Königs kaum noch bekannt sind. Ritu­el­le Insze­nie­rung letzt­lich heißt, daß sol­che Mythen im Zuge von öffent­li­chen Fei­ern und Fest­ta­gen immer neu ins öffent­li­che Bewußt­sein geholt werden.
Als emo­tio­na­les Fun­da­ment der Natio­nen sind die Mythen des­halb unver­zicht­bar, weil, wor­auf Karl­heinz Weiß­mann hin­ge­wie­sen hat, Natio­nal­be­wußt­sein ein geis­ti­ger und kein natür­li­cher Sach­ver­halt ist. »Anders als die Lie­be zur Fami­lie ist die Vater­lands­lie­be nicht auf eine über­schau­ba­re Grup­pe bezo­gen, anders als für die Hei­mat­lie­be gibt es für den Natio­na­lis­mus kein Ter­ri­to­ri­um, das der Ein­zel­ne in jedem Win­kel kennt.« In die­ser Hin­sicht kann man Ernest Ren­ans Defi­ni­ti­on zustim­men, daß Natio­nen »geis­ti­ge Wesen [sind], die exis­tie­ren, solan­ge sie in den Köp­fen und Her­zen der Men­schen sind und die erlö­schen, wenn sie nicht mehr gedacht wer­den«. Die Nati­on ist die geis­ti­ge Dimen­si­on des Vol­kes, an der bei­lei­be nicht jeder, der die­sem bio­lo­gisch ange­hört, Anteil neh­men muß.
Die wich­tigs­ten Mythen­quel­len bil­den die gro­ßen geschicht­li­chen Her­aus­for­de­run­gen wie Frei­heits­krie­ge und das Rin­gen um natio­na­le Einig­keit. Dabei sind auch heroi­sche Nie­der­la­gen mythen­fä­hig. »Gene­rell für die euro­päi­schen Natio­nen läßt sich sagen, daß es ihnen nicht ein­mal in ers­ter Linie auf den Sieg ankommt, son­dern auf Stand­haf­tig­keit im Unglück, auf Hel­den­mut gegen­über einem zah­len­mä­ßig über­le­ge­nen Feind und auf das Opfer des eige­nen Lebens in höchs­ter Gefahr. Das sind die Quel­len der Legi­ti­mi­tät der Nati­on und Unter­pfän­der ihres Rech­tes, in Frei­heit und Einig­keit zu leben.« (Eti­en­ne Fran­çois / Hagen Schulze)

Es ist für die Wirk­macht eines Mythos auch nicht wich­tig, ob sich das his­to­ri­sche Ereig­nis genau so, ganz anders oder über­haupt nicht zuge­tra­gen hat. Heu­te weist die kri­ti­sche Wis­sen­schaft ger­ne dar­auf hin, daß natio­na­le Mythen Kon­struk­te sind und allen­falls einen geschön­ten Teil der his­to­ri­schen Rea­li­tät wie­der­ge­ben. Doch dar­auf kommt es nicht an, denn die Funk­ti­on von Mythen ist, daß sie Kon­tin­genz weger­zäh­len und damit Geschich­te als sinn­voll und ziel­ge­rich­tet ver­steh­bar machen. Auch der angeb­lich auf­ge­klär­te lin­ke Zeit­geist ist von Mythen bestimmt, also von emo­ti­ons­ge­la­de­nen »Erin­ne­run­gen«, die nicht unbe­dingt viel mit der his­to­ri­schen Wirk­lich­keit zu tun haben müs­sen. Aber das sagt eben nichts über die bewußt­seins­bil­den­de Kraft aus, die ein Mythos zu ent­fal­ten ver­mag. Wel­che Mythen gepflegt und wel­che ent­my­tho­lo­gi­siert wer­den, ist nur eine Fra­ge der Macht und des Zeitgeistes.
Auch die Unter­schei­dung zwi­schen »ech­ten« und »fal­schen« Mythen ist irrig. Dar­in wird zwi­schen sol­chen Mythen unter­schie­den, die »spon­tan ent­stan­den« sind und sol­chen, die zur Errei­chung poli­ti­scher Zwe­cke bewußt »gemacht« wur­den. Aber natio­na­le Mythen wur­den immer von den Bil­dungs­schich­ten eines Vol­kes ent­deckt, aus­for­mu­liert und dem Volk über ver­schie­de­ne lite­ra­ri­sche Gat­tun­gen nahe­ge­bracht. Daß die Frei­heit in den ger­ma­ni­schen Wäl­dern zu Hau­se war, daß der Wil­le, frei und nie­man­dem unter­tä­nig zu sein, ein spe­zi­fisch ger­ma­ni­scher Wesens­zug sei, ent­deck­ten die huma­nis­ti­schen Gelehr­ten des 16. Jahr­hun­derts bei Taci­tus. Die­ser Gedan­ke wird dann von den Barock­poe­ten wei­ter­ge­tra­gen und prägt schließ­lich die deut­sche Natio­nal­be­we­gung im 19. Jahr­hun­dert ganz ent­schei­dend. Auch dies ein ech­ter Mythos, der einer­seits his­to­ri­sche Wur­zeln hat, ande­rer­seits in der Gleich­set­zung – Frei­heits­sinn = ger­ma­nisch – natür­lich ahis­to­risch ist. Auch abs­trak­te Begrif­fe – wie zum Bei­spiel »Preu­ßen« oder »Reich« – kön­nen also zu Mythen werden.
Heu­te scheint die mythi­sche Sicht der Nati­on obso­let gewor­den zu sein. In ihr ste­hen nicht nur Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft in einer leben­di­gen Bezie­hung, son­dern auch Gan­zes und Teil: die Nati­on ist in allen, in jeder ein­zel­nen Per­son sub­stan­ti­ell anwe­send. Der ein­zel­ne kann sich die­sem Ver­hält­nis nicht ent­zie­hen, er kann es nur in der einen oder ande­ren Wei­se inter­pre­tie­ren. Heu­te spricht man aber lie­ber von »Gesell­schaft «, deren Wesen es ja ist, daß man in sie nach Belie­ben ein- und wie­der aus­tre­ten kann. Doch die­se Sicht­wei­se trägt nicht: zum Bei­spiel beim The­ma Wehr­dienst. Aus der Tat­sa­che, Wäh­ler, Steu­er­zah­ler oder Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger zu sein, kann ich nicht die Ver­pflich­tung ablei­ten, für einen bestimm­ten Staat unter bestimm­ten Umstän­den auch ster­ben zu müs­sen. Die­se immer noch an jeden gesun­den jun­gen Mann erge­hen­de For­de­rung läßt sich nur aus einem mythi­schen Ver­ständ­nis der Nati­on her­aus ablei­ten, inso­fern als der ein­zel­ne ohne inne­re Teil­ha­be an sei­ner Nati­on nicht wahr­haft zum Men­schen wer­den kann.
Und auch einer der prä­gends­ten Mythen unse­rer Zeit setzt wie­der­um die­ses mythi­sche Ver­ständ­nis der Nati­on vor­aus: Ausch­witz. Ein Jür­gen Haber­mas, der ursprüng­lich jede tra­di­tio­nel­le natio­na­le Iden­ti­tät ablehn­te und ver­kün­de­te, alle »Gesell­schafts­mit­glie­der« soll­ten sich ihre eige­ne Iden­ti­tät selbst ent­wer­fen, brach mit die­ser sei­ner Hal­tung, als er erkann­te, daß dann die heu­ti­gen Deut­schen für Ausch­witz auch nicht mehr in die Pflicht zu neh­men wären. So ver­kün­de­te er 1987, unse­re Iden­ti­tät sei bestimmt »durch ein geschicht­li­ches Milieu, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heu­te sind. Nie­mand von uns kann sich aus die­sem Milieu her­aus­steh­len, weil mit ihm unse­re Iden­ti­tät sowohl als Indi­vi­du­um wie als Deut­sche unauf­lös­lich ver­wo­ben ist«. Zita­te die­ser Art las­sen sich ohne Ende fin­den. So bezeich­ne­te Josch­ka Fischer »Ausch­witz« als »Fun­da­ment« der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Und Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Peter Struck erklär­te am 29. Mai 2008 im Bun­des­tag: »Mit der sys­te­ma­ti­schen Ver­fol­gung und Ermor­dung der euro­päi­schen Juden wäh­rend der Nazi­zeit haben die Deut­schen unend­li­che Schuld auf sich gela­den – eine Schuld, die nie­mals ver­geht.« Nie­mals. Damit sind wir bei der »zeit­lo­sen Immer-Gegen­wart« des Mythos, von der Tho­mas Mann gespro­chen hat.

Ausch­witz – damit ist nicht das kon­kre­te his­to­ri­sche Gesche­hen an die­sem Ort gemeint, son­dern jener Kom­plex an Vor­stel­lun­gen, der damit ver­bun­den ist – ist ein klas­si­scher Mythos. Wirk­lich ergrif­fen hat er die Deut­schen erst, als sich die heu­ti­gen Mythen­pro­du­zen­ten – Film und Fern­se­hen – sei­ner annah­men und er bild­fä­hig wur­de. »Ausch­witz«, das meint die ein­sei­ti­ge Ver­tei­lung von Gut und Böse im Zwei­ten Welt­krieg, die Kol­lek­tiv­schuld der Deut­schen, ja ihre geschicht­li­che Wider­le­gung als Nati­on. Die­ses »Ausch­witz« ist zum tra­gen­den Mythos der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land gewor­den, und daher muß­ten all jene Kräf­te bekämpft wer­den, die eine Rela­ti­vie­rung die­ses Mythos bewir­ken hät­ten kön­nen. Daher die zuneh­men­de Ver­drän­gung des Schick­sals der Ver­trie­be­nen, der Geschich­te Ost­deutsch­lands, des Bom­ben­krie­ges und so wei­ter aus dem öffent­li­chen Bewußt­sein. Daher die Medi­en­kam­pa­gne gegen den Film So weit die Füße tra­gen im Jahr 2001, der als Tabu­bruch auf­ge­faßt wur­de, schil­der­te er doch die Geschich­te eines »deut­schen Opfers«.
Die­ser Film stand damals ziem­lich allein auf wei­ter Flur. Doch seit­her wur­den der Unter­gang Dres­dens, die Flucht aus Ost­preu­ßen und die aus Schle­si­en, der Unter­gang der »Wil­helm Gustl­off«, die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen durch die Rote Armee und mit der Gestalt des Roten Barons sogar ein deut­scher Kriegs­held zum The­ma von Fil­men. Mögen die­se auch »pc« und teil­wei­se sogar his­to­risch unrich­tig sein, han­delt es sich den­noch um eine Trend­wen­de. Die Vor­sit­zen­de des Zen­tral­ra­tes der Juden, Char­lot­te Knob­loch, hat dies klar erkannt. Sie sprach von einem »erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Gezei­ten­wech­sel« und bestand dar­auf, »daß die Shoa und eben nicht die deut­sche Leid-Erfah­rung zen­tra­les Motiv unse­rer Erin­ne­rungs­kul­tur blei­ben muß«. Doch die­se For­de­rung dürf­te unge­hört ver­hal­len. Ein neu­es Eigen­be­wußt­sein der Deut­schen als Nati­on ist im Ent­ste­hen. Es zeigt sich unter ande­rem dar­in, daß der Stolz auf die Auf­bau­leis­tung nach dem Zwei­ten Welt­krieg allen Umfra­gen zufol­ge in den letz­ten drei­ßig Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich gewach­sen ist – obwohl oder gera­de weil der Anteil jener grö­ßer gewor­den ist, die sie selbst nicht mehr mit­er­leb­ten. Es zeigt sich auch im unbe­fan­ge­nen Umgang mit den eige­nen Natio­nal­sym­bo­len bei Fuß­ball­spie­len, der so noch vor weni­gen Jah­ren undenk­bar gewe­sen wäre. Natür­lich ist all dies noch völ­lig unpo­li­tisch, aber es weist auf einen sich voll­zie­hen­den Men­ta­li­täts­wan­del hin.
Viel­leicht lie­fer­te die Wie­der­ver­ei­ni­gung die Initi­al­zün­dung. Sie hät­te alle Ele­men­te in sich ver­ei­nigt, einen posi­ti­ven Grün­dungs­my­thos des neu­en Deutsch­lands zu bil­den. Das ist von der Poli­ti­schen Klas­se und den Intel­lek­tu­el­len bewußt ver­mie­den wor­den, aus Angst vor den Wir­kun­gen, den ein sol­cher Mythos ent­fal­ten könn­te. Bis heu­te gibt es kei­ne posi­ti­ven natio­na­len Mythen, auf die die BRD Bezug nimmt. Ein fata­ler Feh­ler, wie Her­fried Mün­k­ler meint: »Ohne Groß­erzäh­lun­gen von schwie­ri­gen Situa­tio­nen, in denen die Alt­vor­de­ren in vor­bild­li­cher Wei­se gehan­delt und ihre Her­aus­for­de­run­gen bewäl­tigt hat­ten, fehlt es an Bei­spie­len, auf die man ver­wei­sen und aus denen man Ver­trau­en und Zuver­sicht schöp­fen kann. Ver­mut­lich ist das einer der wich­tigs­ten Bei­trä­ge, die die poli­ti­schen Mythen zur Sta­bi­li­tät von Staa­ten und Natio­nen leis­ten: daß sie Selbst­ver­trau­en und Selbst­si­cher­heit schaf­fen.« Sie mobi­li­sie­ren Enga­ge­ment für her­aus­for­dern­de Auf­ga­ben, wie das Kos­ten-Nut­zen-Rech­nun­gen nie­mals kön­nen. Deutsch­land kann sich, so Mün­k­ler, sein Des­in­ter­es­se in die­ser Fra­ge nicht mehr leis­ten. Das Ergeb­nis frei­lich bleibt offen: »Die poli­ti­sche Zukunft eines Gemein­we­sens hängt in hohem Maße davon ab, wer über die­se Groß­erzäh­lun­gen ver­fügt.« Das müs­sen nicht unbe­dingt die Macht­ha­ber sein. Die Geschich­te nennt Gegenbeispiele.

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