Bereits vor diesem Roman hat Juli Zeh ungewöhnliche Dinge über die Grundlagen des Lebens und den Sozialstaat von sich gegeben. So kritisierte die fünfunddreißigjährige Autorin und Juristin in den letzten Jahren Pläne der Bundesregierung, mehr Sicherheit zu Lasten von bürgerlichen Freiheiten zu schaffen. Bedenklich erscheint ihr auch, daß der Staat klammheimlich weitere Kontrollmechanismen eingeführt hat, die ganz anderen Zwecken dienen. In einem Artikel für die Zeit schrieb sie im Oktober 2007: »Die Regierung hat nicht weniger vor, als das Privateste, Intimste, das uns zu eigen ist, zur Staatssache zu erheben: den menschlichen Körper.« Sollte der Staat bei diesem Vorhaben erfolgreich sein, würde dies zu einer Bevormundung »beim Sex, beim Sport, beim Essen, beim Glühbirnenwechsel im Badezimmer – letztlich bei jeder denkbaren Alltagsbewegung« führen.
Daß der deutsche Sozialstaat in seiner jetzigen Form nicht ewig bestehen wird, kann sich jeder ausrechnen, der die Bevölkerungspyramide unseres Volkes betrachtet. Keinesfalls steht jedoch fest, was danach kommt. Zehs Szenario von einer Gesundheitsdiktatur ist also eine von vielen denkbaren Möglichkeiten. Im Gegensatz zu anderen Orwellschen Dystopien betont Corpus Delicti besonders die biopolitische Dimension totalitärer Staaten und macht damit deutlich, was auf dem Spiel steht. Es ist das Selbstverständnis des Gattungswesens Mensch.
Diese Einsicht muß schockieren, denn sie stellt uns vor Probleme, »die für Menschen zu schwer sind, ohne daß sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefaßt zu lassen«, wie Peter Sloterdijk in Regeln für den Menschenpark festgestellt hat. Wagen wir uns dennoch heran und stellen die entscheidende Frage: Wollen wir den Staat über uns als Gattungswesen entscheiden lassen oder nehmen wir das selbst in die Hand – auch wenn wir das Ausmaß unserer eigenen Entscheidungen nicht überblicken können? Durch biotechnische Innovationen wird der menschliche Körper immer mehr zu einer molekularen Software. Es kommt also darauf an, wer sie bedient, programmiert und welche Grenzen durch die Hardware gesetzt sind.
Meisterhaft verdrängt die Öffentlichkeit bisher diese brisanten Fragen. Stattdessen finden in ihrer Arena Duelle in Teildisziplinen der Biopolitik statt. Man streitet über Gender-Mainstreaming, den biometrischen Paß, Stammzellenforschung, Sterbehilfe, das Rauchverbot in Gaststätten, Abtreibung und Drogenlegalisierung, vergißt dabei aber den Zusammenhang zwischen all diesen Konfliktherden. Und selbst für Einzelthemen kann man schwer eine breite Öffentlichkeit interessieren. Aus Protest gegen den bei der Einreise in die USA verlangten DNA-Fingerabdruck lehnte der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der die Biopolitik-Debatte mit seinem homo sacer maßgeblich geprägt hat, im Frühjahr 2004 eine Gastprofessur an der New Yorker Universität ab. Dafür interessierte sich niemand. Erst als Agamben die biopolitischen Maßnahmen der USA mit der Tätowierung von KZ-Häftlingen in Verbindung brachte, entwickelte sich eine öffentliche Diskussion. Nur mit Hilfe des verbalen »Auschwitz-Hammers« gelang es hier, das Desinteresse für Biopolitik zu durchbrechen.
Der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault suchte zeit seines Lebens nach verborgenen Mechanismen der Macht unter der Oberfläche des allgemein Bekannten. Bei seiner Forschungsarbeit in den 1970er Jahren fiel ihm auf, daß sich seit dem 17./18. Jahrhundert die Territorialstaaten zunehmend in Bevölkerungsstaaten verwandelten. Modelliert man den Staat als eine irgendwie geartete Verwaltungsform für Territorium und Bevölkerung, sind unterschiedliche Ausprägungen davon in der Wirklichkeit zu finden. Das fängt beim Minimalstaat an, der sich nur um die innere und äußere Sicherheit kümmert. Weiter geht es mit liberalen Staaten, die die Rahmenbedingungen für Wirtschaft, Wissenschaft und das soziale Zusammenleben vorgeben, sowie Wohlfahrtsstaaten, vor denen kein sozialer Bereich mehr sicher ist. Am anderen Ende des Kontinuums stehen schließlich totalitäre Staaten, die sogar auf die Formierung des Privaten aus sind und jeden überwachen und kontrollieren.
Unter der Herrschaft dessen, was Foucault als biopolitisches Paradigma bezeichnet, steht das nackte Leben im Zentrum der Verwaltungsund Kontrollbegierde des Staates. Dieser richtet seine Tätigkeiten in einem hohen Maße auf die Bevölkerung aus. Dabei bedient er sich insbesondere zweier Machttechnologien: Zum einen diszipliniere er die Körper der Individuen und zum anderen reguliere er die Bevölkerung (etwa über das Auswerten von Geburtenraten).
Unter führenden Wissenschaftlern gilt das Anbrechen eines biotechnischen Zeitalters als Nachfolger der Informationsgesellschaft als derzeit wahrscheinlichste Prognose. Die Konjunktur der Biopolitik dürfte sich deshalb positiv entwickeln, und tatsächlich arbeiten die EU-Bürokraten aus Brüssel bereits mit Hochdruck an eugenischen Leitlinien. Zur Bekämpfung von seltenen Erkrankungen hat der Gesundheitsausschuß des Europäischen Parlaments Anfang April 2009 der Europäischen Kommission vorgeschlagen, »Bemühungen zu unterstützen, um seltene Erbkrankheiten zu verhindern, die schließlich zur Ausmerzung dieser seltenen Krankheiten führen werden«. Das klingt relativ harmlos, aber es steckt ein ganzes Programm dahinter. Am 9. April 2009 schrieb Oliver Tolmein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu: »Welcher Art diese Bemühungen sein sollen, die zur ›Ausmerzung‹ führen, wird hinreichend deutlich gemacht: Genetische Beratung und Auswahl ›gesunder Embryos vor der Implantation‹.« Entscheidend an dem Vorschlag des EU-Gesundheitsausschusses ist, daß hier nicht mehr »zwischen medizinischer Behandlung und der Verhinderung der Geburt von Menschen, die eine Krankheit haben könnten«, unterschieden wird. Aktuell leiden 27 bis 36 Millionen Menschen in der EU an seltenen Erkrankungen, die die Bürokraten ausmerzen wollen. »Daß in offiziellen EU-Dokumenten unbefangen der Begriff ›Ausmerze‹ wieder gebraucht und dem Konzept der Auslese gehuldigt wird, ist ein ernüchterndes Signal für die Folgen der gegenwärtigen biopolitischen Entwicklung«, so Tolmein.
Gemäß der biopolitischen Logik ist der Staat also im Begriff, den »Volkskörper« im Darwinschen Sinne »fit« zu machen. Die von Charles Darwin populär gemachte Formel »Survival of the fittest« (erstmals verwendet von dem englischen Soziologen Herbert Spencer) hat eine Vielzahl von Bedeutungen. Da »fittest« unterschiedlich übersetzt werden kann, verbirgt sich hier nicht nur das »Überleben des Stärkeren«, sondern auch das »Überleben des Tüchtigsten«, des »Tauglichsten«, »am besten Angepaßten « oder des »Geeignetsten«. Ihre Biopolitik begründen die westlichen Staaten jedoch nicht mit dem »Survival of the fittest«. Sie berufen sich vielmehr auf den Humanitarismus.
Der konservative Soziologe Arnold Gehlen hat die Moral hinter dieser Mischung aus Menschen- und Weltbild schonungslos seziert: Der Humanitarismus werde übermächtig, wenn Institutionen zerbrechen, schreibt Gehlen in Moral und Hypermoral. Dann weite sich eine in der Familie funktionierende Moral auf die ganze Menschheit aus. Moralische Prinzipien, die im familiären Kreis oder einer kleinen Sippe als wichtige sozialregulative Instanzen das Zusammenleben in der Gemeinschaft organisierten, erwiesen sich auf Staatsebene als unbrauchbar und schädlich. Ein Staat habe sich um die Sicherheit zu kümmern und verfehle seine Kernaufgabe, wenn er anfange, aus vermeintlicher Nächstenliebe umzuverteilen oder sich »fürsorglich« um die »Volksgesundheit« zu kümmern. »So nimmt der Leviathan mehr und mehr die Züge einer Milchkuh an, die Funktionen als Produktionshelfer, Sozialgesetzgeber und Auszahlungskasse treten in den Vordergrund, und man hat dem humanitär-eudaimonistischen Ethos die Tore so weit geöffnet, daß das eigentlich der Institutionen angemessene Dienst- und Pflichtethos aus der öffentlichen Sphäre und aus den Kategorien der Massenmedien vollständig verschwunden ist und dort nur noch Gelächter auslöst.«
Dem Sozialstaat und seiner Biopolitik liegt diese Moral des Humanitarismus zugrunde. Die Planer rechtfertigen die Übersteigerung von ethischen Normen, das was Gehlen »Hypermoral« nennt, mit dem Hinweis darauf, nur das Beste für die Menschheit zu wollen. Pazifisten, Globalisierungsgegner, Klima- und Umwelthysteriker sowie Sozialisten argumentieren genauso. Sie fangen nicht im Kleinen an, sondern fühlen sich immer gleich für die ganze Welt und die ganze Menschheit verantwortlich, die sie unentwegt verbessern wollen. All diese Gruppierungen begreifen nicht, daß es unmöglich ist, »den Solidaritätskomplex, die Keimzelle des Humanitarismus, an anderer Stelle zu lokalisieren, als innerhalb der Familienorganisation «, denn es gibt – wie Gehlen treffend schreibt – eine »unschlichtbare Gegensätzlichkeit zwischen Familie und Staat und daher zwischen dem humanitären und dem politischen Ethos«.
In der Gegenwart durchdringt das humanitäre Ethos die politische Sphäre. Das »nackte« Leben wird dabei zum wichtigsten politischen Wert stilisiert. Die Väter des Grundgesetzes haben nicht zufällig die Unantastbarkeit der Würde des (aller) Menschen zum ersten und obersten Artikel der deutschen Verfassung erhoben. Damit folgten sie der Logik des Humanitären und definierten nicht etwa die Kernaufgabe des Staates an erster Stelle. Bei dem französischen Medizinethnologen Didier Fassin dient diese bedingungslose Wertschätzung des »nackten« Lebens als Ausgangspunkt seines Konzepts der »Biolegitimität«. Fassin sieht im Humanitarismus ebenfalls das derzeit erfolgreichste moralische Prinzip, mit dem immer mehr politische Entscheidungen gerechtfertigt werden. Die Moral des Humanitären überbetont den Wert des »nackten Lebens« und setzt ihn über den der Freiheit. Im Namen des biologischen Lebens erscheinen auf einmal präventive, freiheitseinschränkende Maßnahmen als legitim. Der Bürger dürfe keine Waffen tragen, weil er jemanden umbringen könnte. Er sollte nicht rauchen, weil das sein biologisches Leben und die sozialen Sicherungssysteme belastet. Er soll seine Nation, Werte und Normen nicht verteidigen, da dabei andere Menschen umkommen könnten, und so weiter, und so fort.
Die griechische Philosophie kannte zwei Begriffe für Leben: zoë bedeutete das »nackte« Leben, bíos das Leben als spezifische Form der Existenz. Die westlichen Regierungen verwalten die zoë mit einem ziemlich absoluten Anspruch und begründen die dazu erforderlichen Maßnahmen mit der angeblichen Gleichheit der Menschen. Parallel dazu findet eine gesellschaftliche Nivellierung der Eigenarten des Menschen statt. Politische (territoriale), wirtschaftliche, soziale und sexuelle Eigenarten pflegen diese Gesellschaften als nichts Besonderes mehr, man hält sie vielmehr für austauschbar. Die Gender-Ideologen wollen uns weismachen, daß unser Geschlecht änderbar wäre und Multikulti-Apostel predigen die problemlose Durchmischung von verschiedenen Ethnien.
Wer solche Machbarkeitsphantasien hegt, hat den Wert des Lebens als politische Existenz (bíos) nicht begriffen und nicht verstanden, wann Freiheit möglich ist. Arnold Gehlen zufolge bedarf es einer »Fraglosigkeit in den Elementardaten, eine lebenswichtige Entlastung, weil von diesem Unterbau innerer und äußerer Gewohnheiten her die geistigen Energien nach oben abgegeben werden können, und das ist, was ›Freiheit‹ auch bedeuten kann.« Gefestigte Institutionen – dazu zählen Familie, Dorf, Recht, Unternehmen genauso wie ein Basisbestand an Normen und Verhaltensweisen – sind also die notwendige Voraussetzung für ein freies Leben – das also grundsätzlich nur »in Bindung« frei sein kann. Mangelt es an diesen »organisch konstruierten« Institutionen, füllen ihren Platz maßlose Organisationen (Fürsorgestaaten, transnationale Akteure, moralisierende NGOs) aus, die glauben, Lebensglück herstellen zu können.
Wendet man sich von einer humanitären Moral ab und orientiert sich an Gehlens ethischem Pluralismus, so hat der Staat nur eine biopolitische Aufgabe: die Sicherheit der in der Gemeinschaft organisierten Menschen aufrechtzuerhalten. Alles andere – also beispielsweise die Frage nach der Legitimität pränataler Selektion – fällt hingegen in den Zuständigkeitsbereich der Familie und nicht-staatlicher Institutionen. Einerseits heißt dies, den Staat in seinen Kernkompetenzen (vor allem innere und äußere Sicherheit) zu stärken, andererseits aber auch die öffentlichen Aufgaben strikt von der Privatsphäre abzugrenzen und damit zu beschränken. Wenn der Schutz der Privatsphäre als eine unumstößliche Norm gelten soll (wie es etwa die ersten beiden Artikel des Grundgesetzes nahelegen), muß die Politik die Finger von den Körpern der Bürger lassen. Das ist der neuralgische Punkt: Warum darf der Staat entscheiden, was lebenswert oder ‑unwert, was gesund und was krank ist? Und noch dazu: Warum sollen sich die Bürger den Maßnahmen, die der Staat bei prognostizierter Krankheit treffen will, unterwerfen? Sie müßten es konsequent dann nicht, wenn der Einzelne für die Folgen seiner privaten Entscheidung umfassend einzustehen bereit wäre und etwa den Mehraufwand für die Betreuung eines behinderten Kindes nicht dem Staat in Rechnung zu stellen wünschte. Soviel vorausschauende Mündigkeit sollte sein.
Juli Zeh hat diesen Gedanken in ihrem Roman verarbeitet, indem sie die in der METHODE als terroristische Organisation angesehene Bewegung »Recht auf Krankheit« (R.A.K.) kreierte. Die R.A.K. will sich nicht zum Objekt der Ausleseprozesse machen lassen. Sie kämpft für die subjektive, freie Entscheidung in Gesundheitsfragen.