Die Ansicht, daß das »Reich des Geistes« erst komme, die Rathenau in seiner Schrift Zur Kritik der Zeit entwickelte, hat den Völkischen Schwaner in Bann geschlagen und nicht nur dazu bewogen, in Kontakt mit dem Juden Rathenau zu treten, sondern ihm auch seine Freundschaft anzutragen. Schwaner gehörte tatsächlich zu der Handvoll Duzfreunden, die Rathenau hatte, und zwischen 1913 und dem Tod Rathenaus, 1922, entwickelte sich eine Korrespondenz, die jetzt zum ersten Mal vollständig der Öffentlichkeit vorgelegt wird (Wilhelm Schwaner – Walther Rathenau. Eine Freundschaft im Widerspruch. Der Briefwechsel 1913–1922, hrsg. von Gregor Hufenreuther und Christoph Knüppel, Neue Beiträge zur Geistesgeschichte, Bd 10, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2008. 305 S., geb, SW-Abb., 29.95 €). Die beiden Herausgeber, Gregor Hufenreuther und Christoph Knüppel, haben den Band mit einer umfangreichen Einleitung versehen, der Schwaners Lebenslauf darstellt. Im Grunde handelt es sich um den ersten biographischen Überblick zu seiner Person, der wissenschaftlichen Kriterien genügt, und die Rekonstruktion enthüllt eine Reihe überraschender Details. Die zeigen vor allem, daß die Kategorie der Rasse für Schwaner eine unerwartet geringe Rolle spielte. Genauer müßte man sagen, daß seine Vorstellung von Rasse immer zwischen Biologisierung und Spiritualisierung schwankte und letztlich die Spiritualisierung den Ausschlag gab. Dabei spielte die Begegnung mit Rathenau eine entscheidende Rolle, der selbst längere Zeit mit den Ideen Gobineaus sympathisiert, sich dann aber von einer »materialistischen « Auffassung des Rassischen losgesagt hatte und gegenüber Schwaner mit Erfolg darauf beharrte, nicht nur eine Ausnahmeerscheinung des jüdischen Typus – der »Edeljude« – zu sein. Schwaner deutete jedenfalls die sonst in der Völkischen Bewegung verbreitete Angst vor der jüdischen Überlegenheit positiv um – »ohne Furcht vor Blond und Dunkel« – und übernahm letztlich Rathenaus Einschätzung, daß in der Moderne Rassengegensätze immer weiter an Bedeutung verlören, während die Schichtengegensätze an Gewicht gewönnen.
Es kam bei Schwaner außerdem zur Geltung, daß die Völkische Bewegung ursprünglich stärker religiös-kulturell interessiert gewesen war, auf Stabilisierung oder Rettung der kollektiven Identität ausgehend, wozu der Rückgriff auf die Kategorie der Rasse so wenig zwingend war wie der Antisemitismus. Näher lag das Bemühen um Klärung der Glaubensfrage, vor allem im Hinblick darauf, ob Deutschtum und Christentum als Ergänzungen oder Gegensätze zu betrachten seien. Auch hier neigte Schwaner zu der älteren Position, daß beide Elemente zusammengehörten, während die Gesamtbewegung je länger je mehr zur Behauptung der Unvereinbarkeit überging. Das erklärt hinreichend, warum Schwaner nicht nur mit seiner Kritik des Judenhasses, die er nach der Begegnung mit Rathenau entwickelte, sondern auch durch seine Auseinandersetzung mit dem Neuheidentum (er sagte sich von der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft, die er mitbegründet hatte, fast im Augenblick ihrer Entstehung wieder los) immer weiter an den Rand der völkischen Position geriet. Es war jedenfalls nicht die politische Affinität zwischen ihm und Rathenau, die den Ausschlag für diesen Entfremdungsprozeß gab. Denn Schwaners Sympathie für den Freisinn oder die Nationalsozialen Friedrich Naumanns im wilhelminischen Deutschland entsprach in vielem den politischen Präferenzen der Völkischen, und Rathenaus »Liberalismus « war so eigenwillig, daß er sowieso in kein Schema paßte.
Die Situation änderte sich naturgemäß in Krieg und Nachkrieg, als Schwaner mehrfach öffentlich erklärte, daß er in Rathenau den berufenen Retter Deutschlands sehe, während sich in völkischen Kreisen eine immer stärkere Hetze gegen ihn breitmachte. Schwaner hat – ähnlich wie andere und ähnlich vergeblich – den Freund zu warnen versucht und tief erschüttert auf dessen Ermordung reagiert. In den zwanziger Jahren machte er Rathenau dann zum Zentrum einer Heldenverehrung mit beinahe messianischen Zügen, was ihn naturgemäß in scharfen Gegensatz zum Nationalsozialismus bringen mußte.
Menschlich unangenehm berührt deshalb der Anpassungskurs, den Schwaner nach 1933 verfolgte. Es gelang ihm zwar nicht, seine Freundschaft mit Rathenau, seine Abkehr vom Rassengedanken und eine kurzfristige Parteinahme für den Pazifismus vergessen zu machen, ein Aufnahmeantrag für die NSDAP wurde abgelehnt und sein Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer nicht rückgängig gemacht, aber er hatte doch einflußreiche Gönner wie den Gauleiter Wilhelm Kube, deren Protektion er nutzte. Der Kirchenminister Hanns Kerrl verfaßte für die letzte Auflage seiner Germanenbibel sogar ein Vorwort, Hitler gratulierte Schwaner zum 75. Geburtstag und Goebbels setzte ihm schließlich eine Rente aus. Auf Rathenau durfte Schwaner bis zu seinem Tod 1944 selbstverständlich nicht mehr zu sprechen kommen.
Es werden diese Vorgänge von Hufenreuther und Knüppel zwar referiert, aber kaum kommentiert, was dem Sachverhalt sowenig angemessen ist, wie eine letzte Unentschiedenheit in der Interpretation des Verhältnisses von Schwaner und Rathenau. Man kann die Vorbehalte gegenüber psychologisierenden Deutungen verständlich finden, wird aber zuletzt doch sagen müssen, daß jene Einschätzung sehr viel für sich hat, die Rathenaus Motivlage wenn nicht in erotischer Attraktion und nicht in jüdischem Selbsthaß, dann doch in jüdischem Selbstzweifel begründet sieht, der sich bis zu einem gewissen Grad kompensieren ließ durch die Beziehung zu »arischen« Wortführern (neben Schwaner wäre noch Hermann Burte zu nennen, allerdings nicht Gustav Frenssen, wie die Herausgeber meinen, der mit seinem Frühwerk kaum den Völkischen zuzurechnen ist), die nicht nur Rathenaus Persönlichkeit in Bann schlug, sondern die er auch aufgrund seiner intellektuellen Überlegenheit zu kontrollieren vermochte.