Die Grundlegung Europas

pdf der Druckfassung aus Sezession 26/Oktober 2008

sez_nr_262von Ulrich March

Geographisch gesehen stellt Europa, mit rund 29 Millionen Quadratkilometern der zweitkleinste Erdteil, lediglich ein Anhängsel Asiens dar. Die Grenze zwischen beiden Kontinenten hat man zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich lokalisiert, und auch die heute zumeist angenommene Trennungslinie (Ural, Uralfluß, Kaspisches Meer, Schwarzes Meer, Bosporus) ist willkürlich. Sie durchschneidet zwei geschlossene Siedlungs- und Staatsgebiete, das russische und das türkische, und beläßt den äußersten Nordwesten der Türkei bei Europa, wesentlich stärker „europäisch" geprägte Gebiete, Georgien etwa oder Armenien, jedoch bei Asien.


Als wenig hilf­reich für das Ver­ständ­nis Euro­pas erweist sich auch die jün­ge­re poli­ti­sche Ent­wick­lung des Kon­ti­nents. Poli­tik und Selbst­ver­ständ­nis der Euro­päi­schen Uni­on ori­en­tie­ren sich kei­nes­wegs durch­gän­gig an über­kom­me­nen euro­päi­schen Grund­prin­zi­pi­en. Das gilt ins­be­son­de­re für die ein­sei­tig wirt­schafts­po­li­ti­sche Aus­rich­tung, die unzu­läng­li­che demo­kra­ti­sche Fun­die­rung und das zen­tra­lis­ti­sche Geba­ren der inzwi­schen ent­stan­de­nen euro­päi­schen Mam­mut­bü­ro­kra­tie. Die Iden­ti­tät Euro­pas wird auch nicht kla­rer, wenn man den Blick auf die der­zei­ti­gen und zukünf­ti­gen Mit­glie­der der Staa­ten­ge­mein­schaft rich­tet. Einer­seits gehö­ren ihr Kroa­ti­en, Nor­we­gen und die Schweiz nicht an, ande­rer­seits wer­den auch inner­halb der EU Plä­ne zur Ein­be­zie­hung der Tür­kei und ande­rer nicht­eu­ro­päi­scher Län­der verfolgt.
Euro­pa läßt sich weder geo­gra­phisch noch wirt­schaft­lich noch von der gegen­wär­ti­gen Poli­tik her defi­nie­ren, son­dern nur als his­to­risch-kul­tu­rel­les Phä­no­men erfas­sen. Dabei fällt als ers­tes eine euro­päi­sche Eigen­tüm­lich­keit ins Auge: die eth­ni­sche Viel­falt. Die der­zeit rund 720 Mil­lio­nen Euro­pä­er glie­dern sich unge­ach­tet des ver­hält­nis­mä­ßig klei­nen Sied­lungs­are­als in zahl­rei­che Völ­ker, von denen die kleins­ten nur weni­ge Zehn­tau­sen­de, die größ­ten aber vie­le Mil­lio­nen umfas­sen. Ent­schei­den­der noch dürf­te sein, daß – eben­falls ein euro­päi­sches Spe­zi­fi­kum – der Wil­le zur regio­na­len Auto­no­mie hier stark aus­ge­prägt ist. Vor die­sem Hin­ter­grund ist die Geschich­te Euro­pas stets die Geschich­te sei­ner Völ­ker. Mono­li­thisch struk­tu­rier­te Groß­rei­che wie in Asi­en hat es hier nie gege­ben; alle Ver­su­che, eine Allein­herr­schaft über den gan­zen Kon­ti­nent zu errich­ten, sind gescheitert.
Gleich­wohl haben sich ober­halb der natio­na­len Ebe­ne euro­päi­sche Gemein­sam­kei­ten ent­wi­ckelt, die zusam­men­ge­nom­men die Iden­ti­tät Euro­pas aus­ma­chen, eine Iden­ti­tät, die sich, eben­so wie die eth­ni­sche Grund­struk­tur, von ande­ren Kul­tu­ren deut­lich abhebt. Grund­le­gend ist dabei ein kul­tu­rel­ler und poli­ti­scher Amal­ga­mie­rungs­pro­zeß, der sich in der Spät­an­ti­ke und im frü­hen Mit­tel­al­ter abspielt: die Ver­schmel­zung von Anti­ke, Chris­ten­tum und ger­ma­ni­scher Welt. Aus die­ser Ver­bin­dung ergibt sich – deut­lich faß­bar seit dem 8. Jahr­hun­dert – als völ­lig neu­es his­to­ri­sches Phä­no­men das euro­päi­sche Abend­land, das sei­ne damals ent­wi­ckel­te Iden­ti­tät bis heu­te bewahrt hat.

Das Wer­den des Abend­lan­des ver­läuft wie jeder Geburts­pro­zeß schmerz­haft. Es sind düs­te­re Jahr­hun­der­te, die zwi­schen der Auf­lö­sung des Römi­schen Rei­ches und der Reno­va­tio Impe­rii durch Karl den Gro­ßen lie­gen, ein „Wel­len­tal der Welt­ge­schich­te”. Das Impe­ri­um gerät nach einer lan­gen Glanz­zeit mit unein­ge­schränk­ter Vor­rang­stel­lung wäh­rend des 3. Jahr­hun­derts in eine gefähr­li­che Kri­se, bei der innen‑, außen- und wirt­schafts­po­li­ti­sche Grün­de zusam­men­wir­ken. Nur mit den bru­ta­len Mit­teln des „spät­an­ti­ken Zwangs­staats” gelingt es, den sich bereits abzeich­nen­den Unter­gang des Rei­ches hin­aus­zu­schie­ben. Dadurch ergibt sich für die in das Impe­ri­um drän­gen­den Ger­ma­nen die Mög­lich­keit, die anti­ke Kul­tur ken­nen und schät­zen zu lernen.
Wäh­rend des 3. und 4. Jahr­hun­derts voll­zieht sich die Chris­tia­ni­sie­rung des Mit­tel­meer­raums einer­seits, die Über­nah­me des anti­ken Erbes durch die Chris­ten ande­rer­seits. Zunächst befin­det sich das Chris­ten­tum in der Defen­si­ve. Die Kai­ser gehen in ihrem Bestre­ben, alle poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und geis­ti­gen Kräf­te zur Ret­tung des Rei­ches zusam­men­zu­fas­sen, zur sys­te­ma­ti­schen Ver­fol­gung der Chris­ten über, die, da sie sich dem offi­zi­ell ver­ord­ne­ten Kai­ser­kult wider­set­zen, als Staats­fein­de gel­ten. Das Chris­ten­tum geht jedoch aus die­ser Prü­fungs­zeit gestärkt her­vor, da die Hal­tung, mit der Tau­sen­de gefaßt in den Tod gehen, einen star­ken Ein­druck hin­ter­läßt („Das Blut der Mär­ty­rer ist der Samen der Chris­ten­heit”). Über­dies machen die Chris­ten Ernst mit dem Gebot der „Cari­tas”, und immer mehr Men­schen suchen und fin­den in die­sen wir­ren Zei­ten eine gewis­se Gebor­gen­heit inner­halb ihrer Gemein­den. Seit der Regie­rungs­zeit Kai­ser Kon­stan­tins (306–337) ent­wi­ckelt sich dann das Chris­ten­tum selbst zur geis­ti­gen Klam­mer des Rei­ches; unter Kai­ser Theo­dosi­us (379–395) wird es allei­ni­ge Staatsreligion.
In das nun­mehr christ­li­che Impe­ri­um bre­chen seit dem aus­ge­hen­den 4. Jahr­hun­dert im Zuge der Völ­ker­wan­de­rung die Ger­ma­nen ein, ein Vor­gang, den die roma­ni­schen Völ­ker bis heu­te als „les gran­des inva­si­ons des bar­ba­res” bezeich­nen. Daß jun­ge, unver­brauch­te Völ­ker das Erbe alter Kul­tu­ren antre­ten, kommt in der Geschich­te immer wie­der vor, aber sel­ten sind die Vor­aus­set­zun­gen für eine frucht­ba­re Begeg­nung so güns­tig wie hier. Die Ger­ma­nen ste­hen der anti­ken Kul­tur bewun­dernd und auf­nah­me­be­reit gegen­über; Sie­ger und Besieg­te ver­bin­det außer­dem viel Gemein­sa­mes, bei­spiels­wei­se der bei­der­seits ent­wi­ckel­te Sinn für Poli­ti­sches, für Staat, Recht und Militär.
Beson­ders inten­siv voll­zieht sich die Begeg­nung in den Grenz­ge­bie­ten des Rei­ches, da hier bei­der­seits gro­ße Bevöl­ke­rungs­grup­pen betrof­fen sind. Hin­zu kommt, daß in die­ser Regi­on die jewei­li­gen poli­tisch-gesell­schaft­li­chen Eli­ten zusam­men­tref­fen, näm­lich die beson­ders um die Reichs­haupt­städ­te Trier und Mai­land kon­zen­trier­te spät­rö­mi­sche Füh­rungs­schicht und die auf­stre­ben­den ger­ma­ni­schen Stam­mes­kö­ni­ge mit ihren Gefolgschaften.

In den grenz­fer­ne­ren Reichs­ge­bie­ten, in Spa­ni­en etwa oder in Süd­ita­li­en, kommt es dage­gen nicht zu ver­gleich­ba­ren Bezie­hun­gen zwi­schen bei­den Bevöl­ke­rungs­grup­pen, da die Zahl der ein­wan­dern­den Ger­ma­nen hier so gering ist, daß sie bald in der roma­ni­schen Mehr­heits­be­völ­ke­rung auf­ge­hen. In Süd­ost­eu­ro­pa fin­det über­haupt kei­ne Begeg­nung statt, da es dem Ost­rö­mi­schen Reich, das seit der Reichs­tei­lung des Jah­res 395 eine eigen­stän­di­ge Ent­wick­lung nimmt, gelingt, alle ger­ma­ni­schen Angrif­fe abzu­wei­sen. Das Ost­rö­mi­sche Reich ent­geht – anders als der west­li­che Reichs­teil – auf die­se Wei­se zwar dem Unter­gang, erfährt aber auch kei­ne Neu­be­le­bung. Viel­mehr blei­ben der spät­an­ti­ke Abso­lu­tis­mus und die kai­ser­li­che Kir­chen­ho­heit („Cäsar­o­pa­pis­mus”) bis zur Erobe­rung des Rei­ches durch die Tür­ken erhal­ten; bei­des wird nach der Erobe­rung Kon­stan­ti­no­pels (1453) vom Mos­kau­er Zaren­tum fortgesetzt.
Auf dem euro­päi­schen Kon­ti­nent ent­wi­ckeln sich also zwei Kul­tu­ren, die latei­nisch-abend­län­di­sche, die aus der Ver­schmel­zung von west­rö­mi­scher Anti­ke, Ger­ma­nen­tum und römisch-katho­li­schem Chris­ten­tum her­vor­geht, und die auf dem Boden des Ost­rö­mi­schen Rei­ches ent­ste­hen­de grie­chisch-ortho­do­xe Kul­tur, die in reli­giö­ser Hin­sicht durch die Ost­kir­che, eth­nisch vor allem von Grie­chen und Sla­wen geprägt ist, an der aber das Ger­ma­nen­tum kei­ner­lei Anteil hat. Die Gren­ze zwi­schen bei­den Regio­nen folgt bis zum heu­ti­gen Tag der­je­ni­gen der Reichs­tei­lung des Jah­res 395, außer­halb des Reichs­ge­bie­tes dann einer Linie, die sich in den dar­auf fol­gen­den Jahr­hun­der­ten zwi­schen den von Rom und den von Kon­stan­ti­no­pel aus mis­sio­nier­ten Län­dern bil­det (Save, Kar­pa­ten, heu­ti­ge Ost­gren­ze Polens, bal­ti­sche Län­der und Finnland).
Euro­pa im enge­ren Sin­ne, das Abend­land, reicht also nur bis zu die­ser Linie. Sei­nen Kern­raum bil­det von Anfang an das Gebiet zwi­schen Rhein, Loire und Po, jene Regi­on also, in der sich die Begeg­nung zwi­schen Roma­nen und Ger­ma­nen am inten­sivs­ten voll­zieht. Von Kern­eu­ro­pa sind die wesent­li­chen Impul­se der abend­län­disch-euro­päi­schen Geschich­te ausgegangen.

In Nord­frank­reich sie­deln die Fran­ken, in der Poebe­ne Ost­go­ten und Lan­go­bar­den dicht, und nach der Land­nah­me ste­hen Herr­scher wie Theo­de­rich (473–526) und Chlod­wig (482–511) der römi­schen Kul­tur beson­ders auf­ge­schlos­sen gegen­über. Auf unter­schied­li­che Wei­se bedie­nen sie sich der für sie nutz­ba­ren Macht­mit­tel des unter­ge­gan­ge­nen Römi­schen Rei­ches, der rie­si­gen Staats­do­mä­nen etwa oder der ein­ge­spiel­ten Ver­wal­tungs­bü­ro­kra­tie. Wäh­rend Theo­de­rich wie die meis­ten ande­ren Ger­ma­nen­kö­ni­ge eine Poli­tik der getrenn­ten Ent­wick­lung bei­der Bevöl­ke­rungs­grup­pen betreibt und an der aria­ni­schen Kon­fes­si­on fest­hält, die ihn von der römisch-katho­li­schen Mehr­heit sei­ner Unter­ta­nen trennt, setzt Chlod­wig von Anfang an auf vol­le Inte­gra­ti­on. Indem er sich zusam­men mit den Gro­ßen sei­nes Reichs römisch-katho­lisch tau­fen läßt, schafft er eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für die zukunft­wei­sen­de Ver­bin­dung von Anti­ke, Chris­ten­tum und Ger­ma­nen­tum und für die – auch bio­lo­gi­sche – Ver­schmel­zung von Ger­ma­nen und Roma­nen. Zahl­rei­che Ange­hö­ri­ge der alten römi­schen Füh­rungs­schicht tre­ten in den Dienst des Königs, den sie nun­mehr als Nach­fol­ger der Cäsa­ren sehen, und wach­sen mit des­sen Anhän­gern und Gefolgs­leu­ten zu einem neu­en Dienst­adel zusam­men, der dann im Rah­men des frän­ki­schen Lehns­staa­tes, einer ech­ten Neu­schöp­fung mit anti­ken, kirch­li­chen und ger­ma­ni­schen Wur­zeln, in poli­ti­scher, gesell­schaft­li­cher und mili­tä­ri­scher Hin­sicht größ­te Bedeu­tung erlangt. Vom Fran­ken­reich aus brei­ten sich dann in der Fol­ge­zeit Lehns­we­sen und rit­ter­li­che Kul­tur über das euro­päi­sche Abend­land aus.
Auch die wesent­li­chen Phä­no­me­ne der wei­te­ren euro­päi­schen Geschich­te, etwa Städ­te­we­sen und Bür­ger­tum, Gotik und Renais­sance, Stän­de- und Ver­fas­sungs­staat, die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on und die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie, Kapi­ta­lis­mus und Indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on, Wis­sen­schaft und Sozi­al­staat sind von Kern­eu­ro­pa aus­ge­gan­gen, zu dem außer dem Gebiet des frän­ki­schen Rei­ches seit der nor­man­ni­schen Erobe­rung von 1066 auch Eng­land gehört. Auch die wich­tigs­ten euro­päi­schen Staats­ge­bil­de sind – Ruß­land aus­ge­nom­men – hier ent­stan­den, das Hei­li­ge Römi­sche Reich Deut­scher Nati­on, die König­rei­che Frank­reich und Eng­land, spä­ter dann der fran­zö­si­sche, bri­ti­sche, ita­lie­ni­sche und deut­sche Natio­nal­staat, schließ­lich auch die Mon­tan­uni­on als Vor­gän­ge­rin der heu­ti­gen EU.
Drei kon­sti­tu­ti­ve Prin­zi­pi­en des Abend­lan­des bestim­men des­sen Geschich­te, die sich, wie die abend­län­di­sche Kul­tur selbst, im ein­zel­nen eben­falls aus der Ver­schmel­zung, anti­ker, ger­ma­ni­scher und christ­li­cher Ele­men­te ent­wi­ckelt haben und die beson­ders beim Ver­gleich mit ande­ren Welt­re­gio­nen deut­lich her­vor­tre­ten: die Idee der per­sön­li­chen, poli­ti­schen und geis­ti­gen Frei­heit, der ratio­na­le Erkennt­nis- und Gestal­tungs­wil­le und der Grund­satz der Huma­ni­tät. Die ältes­ten Wur­zeln der Frei­heits­idee Euro­pas rei­chen bis zu den Grie­chen zurück, die erst­mals die demo­kra­ti­sche Staats­form ent­wi­ckeln und in den Per­ser­krie­gen erfolg­reich ver­tei­di­gen, schon damals in dem Bewußt­sein, daß hier ein frei­heit­li­ches Euro­pa und ein des­po­ti­sches Asi­en mit­ein­an­der rin­gen. Ent­ste­hung und Ent­wick­lung der Römi­schen Repu­blik voll­zie­hen sich eben­falls im Zei­chen der poli­ti­schen Frei­heits­idee; über­dies haben die Römer mit ihrem Rechts­den­ken, das seit dem 12. Jahr­hun­dert in wei­ten Tei­len Euro­pas rezi­piert wird, die Ent­wick­lung des Kon­ti­nents stark beein­flußt. Auch der christ­li­che Frei­heits­ge­dan­ke Frei­heit als Mög­lich­keit, zu Gott zu gelan­gen spielt in die­sem Zusam­men­hang eine Rol­le. Ent­schei­dend für die staat­li­che Ent­wick­lung des Abend­lan­des ist jedoch der bereits von Taci­tus so nach­drück­lich her­vor­ge­ho­be­ne Frei­heits­wil­le der Ger­ma­nen geworden.

Der Per­so­nen­ver­bands­staat des Mit­tel­al­ters kennt tyran­ni­sche Herr­schafts­struk­tu­ren eben­so­we­nig wie der spät­mit­tel­al­ter­li­che und früh­neu­zeit­li­che Stän­de­staat, die kon­sti­tu­tio­nel­le Mon­ar­chie und die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie. Poli­ti­sche und geis­ti­ge Des­po­tie tre­ten zwar im Zeit­al­ter des Abso­lu­tis­mus und in den tota­li­tä­ren Staa­ten des 20. Jahr­hun­derts auf, aber auch hier erhebt sich stets Wider­spruch und Wider­stand: Vie­le abso­lu­tis­ti­sche Staa­ten, so etwa Preu­ßen und Öster­reich, wan­deln sich schon sehr bald zu auf­ge­klär­ten Mon­ar­chien, und die tota­li­tä­ren Dik­ta­tu­ren haben bezeich­nen­der­wei­se alle nur zeit­wei­lig bestan­den, die meis­ten nur für weni­ge Jahre.
Auch der euro­päi­sche Ratio­na­lis­mus hat sei­ne ältes­ten Grund­la­gen in der Anti­ke, im nüch­ter­nen Den­ken der Römer und vor allem in der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft. Spä­tes­tens seit der Grün­dung der ers­ten Uni­ver­si­tä­ten gewinnt dann das Prin­zip der Ratio mehr und mehr an Bedeu­tung, das alle Lebens­be­rei­che der kri­ti­schen Betrach­tung durch die Ver­nunft unter­zieht, dabei das eige­ne Vor­ge­hen mit Skep­sis und metho­di­schem Zwei­fel beglei­tet und schließ­lich zur Ent­wick­lung der moder­nen Wis­sen­schaft und Tech­nik führt, die sich von Euro­pa aus über die gan­ze Erde verbreiten.
Der Gedan­ke der Huma­ni­tät schließ­lich beruht auf der Ach­tung vor der per­so­na­len Wür­de des Men­schen und ist zutiefst mit der christ­li­chen Tra­di­ti­on ver­knüpft. Aber auch hier gibt es älte­re Wur­zeln. Die römi­sche Phi­lo­so­phie, vor allem aber Kunst, Dich­tung und Phi­lo­so­phie der grie­chi­schen Klas­sik the­ma­ti­sie­ren die Huma­ni­tas. Schon die Grie­chen des 5. vor­christ­li­chen Jahr­hun­derts sehen – anders als die Zeit­ge­nos­sen – im Geg­ner nicht nur den zu bekämp­fen­den Feind, son­dern auch den Men­schen, wie es beson­ders deut­lich in der Tra­gö­die Anti­go­ne des Sopho­kles zum Aus­druck kommt („Nicht mit­zu­has­sen, mit­zu­lie­ben bin ich da”). Von hier aus ist es dann nur noch ein Schritt bis zum Gebot der christ­li­chen Nächstenliebe.
Die Leit­prin­zi­pi­en der Frei­heit, der Mensch­lich­keit und der Ratio sind vor­zugs­wei­se mit der Ent­wick­lung im abend­län­di­schen Teil Euro­pas ver­knüpft, beson­ders die bei­den ers­te­ren. Men­schen­rech­te, Rechts­staat­lich­keit und frei­heit­li­che Demo­kra­tie haben sich im Osten und Süd­os­ten des Kon­ti­nents ent­we­der sehr zöger­lich oder nur ansatz­wei­se durch­ge­setzt. Das gilt bis zum heu­ti­gen Tag für Bal­kan­staa­ten wie Ser­bi­en, Maze­do­ni­en, Bul­ga­ri­en und Rumä­ni­en, erst recht für Ost­eu­ro­pa, wo sich die Struk­tu­ren des Zaren­reichs und der Sowjet­uni­on nicht grund­le­gend ver­än­dert haben. Umge­kehrt haben die abend­län­disch gepräg­ten Völ­ker des sowje­ti­schen Herr­schafts­be­reichs sofort und ent­schlos­sen die „Rück­kehr nach Euro­pa” ange­tre­ten, sobald sie den poli­ti­schen Spiel­raum dafür hat­ten. Nicht zufäl­lig sind dies die­je­ni­gen Völ­ker, die west­lich der alten, letzt­lich auf das Jahr 395 zurück­ge­hen­den Kul­tur­gren­ze ansäs­sig sind. Die­ser auf­fäl­li­ge Unter­schied, der offen­kun­di­ge Zusam­men­hang zwi­schen der Grund­le­gung Euro­pas und dem Zer­fall der Sowjet­uni­on beweist, daß der Kon­ti­nent immer noch in eine west­li­che und eine öst­li­che Regi­on geteilt ist. Ob sich die­se Spal­tung nach dem EU-Bei­tritt wei­te­rer ost- und süd­ost­eu­ro­päi­scher Staa­ten mil­dern oder viel­leicht sogar eines Tages auf­he­ben läßt, bleibt abzuwarten.

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