Die Ökonomie und das Außerökonomische

pdf der Druckfassung aus Sezession 27/Dezember 2008

sez_nr_27von Karlheinz Weißmann

Mitte der neunziger Jahre hatte der Verfasser Gelegenheit, vor zwei Beiräten der Dresdner Bank zu sprechen. Solche Beiräte haben eine eher repräsentative Funktion, setzen sich aus Honoratioren zusammen, aber auch Mitglieder des Vorstands der Bank sind bei den Jahrestagungen zugegen. Die erste der beiden Zusammenkünfte fand in Bremen statt, der Vortrag wurde im Festsaal des Alten Rathauses gehalten, das anschließende Abendessen hatte einen entsprechend gediegenen Rahmen. Die zweite wurde in einem großen Hotel Leipzigs durchgeführt, alles war etwas bescheidener, den Bedingungen in den neuen Ländern entsprechend. Irritierend war allerdings die Verschiedenheit der Reaktionen auf den Vortrag, der hier wie dort derselbe war. In Bremen konnte man auf allgemeine Zustimmung für eine konservative Kultur- und Politikkritik rechnen, in Leipzig nicht. In Bremen kam der schärfste Einwand von einem ehemaligen CDU-Minister, der seine Partei allzu heftig attackiert fand, was aber ohne Resonanz blieb, in Leipzig dagegen empörte sich ein Teil der Beiratsmitglieder heftig und konnte kaum begreifen, wie der Referent zu seinen Anschauungen kam.


Eine Ursa­che die­ser Dif­fe­renz war die ver­schie­de­ne Zusam­men­set­zung der Bei­rä­te: Im ers­ten Fall hat­te man es mit Bür­gern zu tun, die schon auf Grund ihres Alters von den Wert­hal­tun­gen der Nach­kriegs­zeit geprägt waren, im zwei­ten mit einem bun­ten Gemisch aus evan­ge­li­schen Geist­li­chen, neu ein­ge­setz­ten Schul­lei­tern und poli­ti­schen Funk­ti­ons­trä­gern, die nach der Wen­de instal­liert wur­den, deren Sozia­li­sie­rung aber in der DDR statt­ge­fun­den hat­te oder schon den Vor­ga­ben poli­ti­scher Kor­rekt­heit unter­lag. Ihnen stan­den jun­ge Mana­ger aus dem Wes­ten zur Sei­te, die man zwecks Bewäh­rung in den Osten geschickt hatte.
Von der Bre­mer Ver­an­stal­tung ist mir ein kur­zes Gespräch mit einem Unter­neh­mer in Erin­ne­rung geblie­ben, der einen tra­di­ti­ons­rei­chen Fami­li­en­be­trieb lei­te­te. Er erzähl­te von sei­nem Urgroß­va­ter, der nach der Reichs­grün­dung einen Auf­trag der öffent­li­chen Hand für Stra­ßen­bau­ar­bei­ten erhielt und dem ein lei­ten­der Mit­ar­bei­ter vor­schlug, fik­ti­ve Pos­ten in Rech­nung zu stel­len; das habe der Vor­fahr mit der Ent­las­sung des Man­nes und den Wor­ten quit­tiert: „Das Reich betrügt man nicht.” Einen deut­li­chen Kon­trast dazu bil­de­te die Unter­hal­tung in Leip­zig, bei der ein Ban­ker von Anfang drei­ßig mit­lei­dig frag­te, wie ich zu mei­nen ana­chro­nis­ti­schen Vor­stel­lun­gen käme. Auf mei­ne kur­ze Ant­wort ent­geg­ne­te er, daß die Ent­wick­lung doch längst über alles hin­weg­ge­gan­gen sei, was ich zu ver­tei­di­gen such­te. Die Nati­on, Euro­pa, das alles spie­le längst kei­ne Rol­le mehr. Ihm hät­ten sei­ne Jah­re in den USA gezeigt, was die Zukunft brin­ge, und sein Ide­al sei Miami, wo sich in sei­nen Krei­sen nie­mand um so etwas wie Her­kunft, Haut­far­be, Reli­gi­on oder poli­ti­sche Loya­li­tät sche­re, da gehe es um das, was wirk­lich wich­tig sei: making money; im übri­gen brau­che man nur ein gutes Wohn­vier­tel, eine Poli­zei, die die kuba­ni­sche Mafia im Griff behal­te, und eine ordent­li­che Erzie­hung, damit sich der white trash nicht traue, sei­ne ras­sis­ti­schen Auf­fas­sun­gen offen zum Aus­druck zu bringen.
Was an bei­den Sze­nen deut­lich wird, ist die Bedingt­heit öko­no­mi­schen Den­kens. Abge­se­hen vom Kern wirt­schaft­li­cher Ver­nunft hängt alles ab von der Erzie­hung der Ver­ant­wort­li­chen und dem zivi­li­sa­to­ri­schen Rah­men, in dem sie sich bewe­gen, es hat zu tun mit his­to­ri­scher Lage und den dar­aus resul­tie­ren­den Hand­lungs­mög­lich­kei­ten, und selbst­ver­ständ­lich wir­ken sich auch Ober­flä­chen­phä­no­me­ne aus, wie Moden oder Zeit­geist­strö­mun­gen. Man ver­kennt das leicht, weil die Wirt­schaft nicht nur „unser Schick­sal” sein will – eine schon Walt­her Rathen­au zuge­schrie­be­ne Äuße­rung -, son­dern außer­dem dar­auf beharrt, Eigen­ge­setz­lich­kei­ten zu fol­gen, die sich weder ethi­schen noch kul­tu­rel­len noch poli­ti­schen Vor­ga­ben fügen. Der Zusam­men­bruch der kom­mu­nis­ti­schen Zwangs­wirt­schaft in der Sowjet­uni­on und die eben­so rasche wie effekt­vol­le Bekeh­rung der chi­ne­si­schen Füh­rung zum Markt, die Auf­ga­be der „drit­ten Wege” in den Ent­wick­lungs­län­dern und die Unter­wer­fung pro­mi­nen­ter Acht­und­sech­zi­ger unter das libe­ra­le Cre­do erschie­nen zuletzt als Bewei­se für die Rich­tig­keit die­ser Annah­me. Die Dere­gu­lie­rungs­maß­nah­men, die gro­ße Pri­va­ti­sie­rungs­wel­le in den west­li­chen Län­dern, die Beschnei­dung der sozia­len Leis­tun­gen, die Dis­kre­di­tie­rung des staat­li­chen Ein­griffs und aller Pla­nung nach poli­ti­schen Vor­ga­ben über­haupt, waren die Kon­se­quenz. Dar­an hat der Kol­laps des „Neu­en Mark­tes” wenig geän­dert, erst die gegen­wär­ti­ge Kri­se läßt die Fra­ge auf­kom­men, ob die Wirt­schaft so funk­ti­ons­tüch­tig ist und so selb­stän­dig über ihre Bedin­gun­gen ver­fügt, wie von ihren Mäch­ti­gen behauptet.

Sol­che Zwei­fel tre­ten peri­odisch auf. Schon als die alt­eu­ro­päi­sche Öko­no­mie durch die „Natio­nal­öko­no­mie” abge­löst wur­de, hat­te es Pro­tes­te gegen die neue Unüber­sicht­lich­keit gege­ben, gegen die Ver­la­ge­rung und Anony­mi­sie­rung der Abläu­fe. Dem konn­ten die Befür­wor­ter der Moder­ne ent­ge­gen­hal­ten, daß der Markt von selbst zu einer Klä­rung aller Schief­la­gen und Eng­päs­se, des Lohn- wie des Preis­ge­fäl­les füh­ren wer­de, wenn man nur sei­ne Auto­no­mie respek­tie­re. Adam Smith sprach von der „unsicht­ba­ren Hand”, die letzt­lich dafür sor­ge, daß das Stre­ben der Indi­vi­du­en nach Gewinn­ma­xi­mie­rung in einem har­mo­ni­schen Gan­zen aus­ge­gli­chen wer­de und zur För­de­rung des „Wohl­stands der Natio­nen” bei­tra­ge. Das war ein Kon­zept, das man nicht von sei­nen Vor­aus­set­zun­gen in Schot­ti­scher Auf­klä­rung und deis­ti­scher Theo­lo­gie des 18. Jahr­hun­derts ablö­sen kann, das die­se Vor­aus­set­zun­gen aber erfolg­reich ver­ges­sen mach­te und in Groß­bri­tan­ni­en zu bemer­kens­wer­ten Erfol­gen führ­te. Aller­dings haben sich die libe­ra­len Anhän­ger von Smith nie­mals voll­stän­dig durch­ge­setzt, und der Auf­stieg des Lan­des wie auch die Bewah­rung sei­nes inne­ren Frie­dens war eher dem Sieg über Napo­le­on, dem Nie­der­gang des fran­zö­si­schen Erb­fein­des, dem tech­ni­schen Vor­sprung und einem erfolg­rei­chen Impe­ria­lis­mus zu ver­dan­ken als der kon­se­quen­ten Anwen­dung von Markt­ge­set­zen. Ähn­li­ches gilt für die USA, auch wenn man hier – in einem jun­gen Land – nicht nur unge­hemm­ter auf Kapi­ta­lis­mus ohne Schran­ken setz­te, son­dern außer­dem die Mög­lich­kei­ten erkann­te, die in der Erschlie­ßung und Aus­beu­tung immer neu­er Gebie­te – zuerst auf dem eige­nen Kon­ti­nent, dann im glo­ba­len Maß­stab – lagen.
Die bei­den Vari­an­ten des angel­säch­si­schen Modells haben in Euro­pa und dem Rest der Welt zwar immer Bewun­de­rer, aber kaum je bedin­gungs­lo­se Nach­ah­mung gefun­den. Das hing nicht nur mit Ent­wick­lungs­un­ter­schie­den zusam­men, son­dern auch mit grund­sätz­li­chen Vor­be­hal­ten. Schon Fried­rich List wies dar­auf hin, daß das eng­li­sche Bei­spiel kei­ne all­ge­mei­ne Gel­tung bean­spru­chen kön­ne; die Insel­la­ge habe ihm früh das „Pri­vi­le­gi­um der Frei­heit und des Asyls” ver­schafft und dadurch nicht nur sei­nen wirt­schaft­li­chen Auf­stieg beför­dert, son­dern auch den Ein­druck erweckt, als gehe es um eine Art von Ide­al­kon­zep­ti­on. In Wirk­lich­keit hät­ten aber Geo­po­li­tik und Geschich­te erst jene Stel­lung geschaf­fen, in der sich Groß­bri­tan­ni­en befin­de. Von sol­chen Vor­aus­set­zun­gen kön­ne man nicht abse­hen und müs­se prin­zi­pi­ell zwi­schen „kos­mo­po­li­ti­scher” und „poli­ti­scher Öko­no­mie” unter­schei­den, wobei die ers­te eine rei­ne Öko­no­mie zu ver­tre­ten behaup­te und anbie­te, mit­tels all­ge­mei­nem, frei­em Waren­aus­tausch dem Zustand des Welt­frie­dens oder sogar der Welt­re­pu­blik näher zu kom­men, wäh­rend die ande­re jede Öko­no­mie an außer­öko­no­mi­sche Macht­ver­hält­nis­se gebun­den sehe und anneh­me, daß die dau­ern­de wirt­schaft­li­che Kon­kur­renz Teil ande­rer – vor allem natio­na­ler und impe­ria­ler – Kon­kur­ren­zen sei.

Bekann­ter­ma­ßen hat sich List mit sei­nen Vor­stel­lun­gen nicht durch­set­zen kön­nen, aber sei­ne Ideen blie­ben in Deutsch­land ein­fluß­reich, von Bis­marcks Schutz­zöl­len bis zu den Leh­ren des „Kathe­der­so­zia­lis­mus”, von der För­de­rung bestimm­ter Mono­pol­bil­dun­gen bis zum Aus­bau des „Öffent­li­chen Diens­tes”, vom „kom­mu­na­len Sozia­lis­mus” bis zu dem der „sozia­len Markt­wirt­schaft”. Dabei spiel­te neben Gerech­tig­keits­er­wä­gun­gen und Vor­stel­lun­gen von natio­na­ler Soli­da­ri­tät immer auch die Sor­ge mit, daß jede Ent­las­sung der Öko­no­mie aus poli­ti­scher Bän­di­gung Fol­gen her­auf­be­schwö­re, die sich gar nicht mehr kon­trol­lie­ren las­sen wür­den. Erst dem Neo­li­be­ra­lis­mus gelang es am Ende des 20. Jahr­hun­derts, die­se Art von Wach­sam­keit ein­zu­schlä­fern und die Vor­stel­lung zu wecken, daß es nicht nur dar­um gehe, in der Wirt­schaft wirt­schaft­lich zu agie­ren, son­dern über­haupt alle Lebens­be­rei­che von hier aus zu kolo­ni­sie­ren und öko­no­mi­schen Vor­stel­lun­gen zu unterwerfen.
Das Ver­trau­en in die­sen Plan war ähn­lich unbe­grün­det wie das in die über­le­ge­ne Ein­sicht der Finanz­ge­wal­ti­gen. Deren Selbst­be­wußt­sein speis­te sich offen­bar weni­ger aus Kennt­nis und Ver­ständ­nis der Regeln des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus als aus einem fal­schen Selbst­bild und einer Fehl­wahr­neh­mung des grö­ße­ren Zusam­men­hangs, der eben nicht nur von öko­no­mi­schen Fak­to­ren bestimmt wird, son­dern auch ande­ren „Göt­tern” (Wer­ner Som­bart) dient und die­nen muß. Simon Cun­dey, Geschäfts­füh­rer des ältes­ten Her­ren­aus­stat­ters in der Lon­do­ner Savi­le Row, ant­wor­te­te auf die Fra­ge, ob es einen Zusam­men­hang zwi­schen dem Ver­sa­gen der Ver­ant­wort­li­chen und ihrem nach­läs­si­gen Klei­dungs­stil gebe: „Ich wür­de nicht sagen, daß die Klei­dung die Kri­se aus­ge­löst hat. Aber ich den­ke schon, daß die Ver­brei­tung des relax­ten Stils eine Rol­le gespielt hat. In vie­len Büros ste­hen heu­te Bil­lard­ti­sche und rie­si­ge Fern­seh­ge­rä­te her­um. Da wun­dert man sich, wel­che Arbeits­mo­ral dort herr­schen soll.”

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