pdf der Druckfassung aus Sezession 31 / August 2009
Der Krieg ist Vater aller Dinge, und als Deutsche sind wir heute ausnahmslos seine Kinder, oder vielmehr: die Kinder gleich zweier großer Niederlagen. Von der letzten dieser beiden sagte Ernst Jünger, daß man sich von einer solchen nicht mehr erhole. Alles, was wir heute in Deutschland an politischen Müdigkeiten und Passionen, an irrwitzigen Nationalmasochismen und Neurosen, an Exzentrizitäten und Extremismen, an Bilderstürmereien und Dennoch-die-Schwerter-Halten wahrnehmen können, hat unterm Strich seinen psychologischen Ursprung in dem Trauma von 1945. Obwohl wir uns tagtäglich einreden, daß gerade diese Niederlage uns erlöst hätte, sind wir immer noch geistig-seelisch Heimatlose. Was nach Hitler, dem Drachenei des Traumas von 1918ff, noch von der deutschen Seele übriggeblieben war, raubten die russischen Vergewaltiger und kauften die amerikanischen Zuhälter. Die Bewältigung des Traumas würde nichts anderes bedeuten, als aus den Scherben eine neue Identität zu errichten, die der eigenen Geschichte und dem eigenen Wesen, das man irgendwo noch dumpf ahnt, bejahend gerecht würde. In diesem Labyrinth, in dem kein Schlüssel mehr zu passen scheint, irren wir nun seit Jahrzehnten herum. In dieser Lage nimmt man mit brennender Neugier ein Bändchen zur Hand, das die Stirn hat, sich Der Vorsprung der Besiegten zu betiteln. Baal Müller folgt darin dem Historiker Wolfgang Schivelbusch, der in seinem Werk Die Kultur der Niederlage versucht aufzuzeigen, wie »gerade aus der Verliererposition erstaunliche kulturelle, politisch-administrative, technische und ökonomische Innovationen erwachsen können, da der Besiegte – anders als der lorbeerumkränzte Sieger – zu einer schmerzhaften, dafür um so grundlegenderen, Reflexion seiner Positionen und Identität(en) genötigt ist« (Müller). Der Rezensent verschlang Müllers glänzend geschriebenen, mit luziden, verblüffenden Passagen gespickten Essay mit heraushängender Zunge, der Antwort auf die bange Frage entgegenhechelnd, worin denn nun faktisch der »Vorsprung« und vitale Erkenntnisgewinn der »Besiegten von 1945« bestehe. Das Büchlein endet mit der vagen Skizze eines »ästhetischen Sonderwegs« im Sinne des »Geheimen Deutschlands«, was so enttäuschend ist, als hätte Agatha Christie uns im letzten Kapitel den Mörder vorenthalten. Am Ende bleibt wohl doch nur ein »Vorsprung« in der Dekadenz zu verzeichnen, den inzwischen die gar nicht mehr so siegreich wirkenden Sieger von 1945 mit rasender Geschwindigkeit aufholen.
(Baal Müller: Der Vorsprung der Besiegten. Schnellroda: Edition Antaios 2009, 96 S., 8.50 €)