Anläßlich des 150. Geburtstages Wilhelm II. (27. Januar 2009) und 90 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ist es Zeit, mit solchen Dingen aufzuräumen. Das hat ein junger britischer Kollege, Christopher Clark, übernommen, dessen Wilhelm-Biographie (Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München: DVA 2008. 414 S., 24.95 €) nun endlich auf deutsch erschienen ist. Die Erwartungen an Clark waren groß, gerade nach dessen fulminantem Preußen-Buch aus dem letzten Jahr. Der Autor kann sie (gerade vor dem Hintergrund des Röhl-Wälzers) erfüllen. Natürlich muß er sich oft auf Röhl beziehen, dessen Sammelwut bezüglich der Quellen unbestritten ist, aber er tut dies jeweils kaum ohne höfliche, aber treffende Kritik. Etwa zur Frage, ob Wilhelm „psychisch gestört” war und wenn ja, warum. Im Gegensatz zur allgemeinen Überzeugung von der herzlosen Mutter und deren Versuchen, den gelähmten Arm zu kompensieren (was ja auch gelang), sah Röhl die Ursache bereits in den Umständen der Geburt. Clark schreibt: „In dem wohl ausführlichsten Exkurs in das Feld der Geburtshilfe, der je in einem historischen Buch abgedruckt wurde, hat Röhl detailliert die Umstände der Entbindung rekonstruiert und plädiert für die Auffassung, daß Wilhelm während der Geburt für kurze Zeit keinen Sauerstoff bekam und infolgedessen mit einem ‚leichtgradigen Hirnschaden’ zur Welt kam.” Dies, so Clark weiter, stütze sich auf „diagnostische Vermutungen, die – wie Professor Röhl wohl selbst einräumen würde – in ihrem Ursprung umstritten sind”. Erledigt.
Daß Röhl eine Vorliebe für die „Schlüssellochperspektive” hat, wird auch im abschließenden Band deutlich. Aber der Kern, das weiß auch Röhl, ist die Kriegsschuldfrage. Röhl behauptet felsenfest: „Heute steht die Hauptverantwortung der deutschen und österreichischen Regierungen für die Herbeiführung des großen Krieges im Juli 1914 nicht mehr in Frage.” Ist das so? Röhl scheint in einem eigenen Kosmos zu leben, denn das Gegenteil ist der Fall. Die im Zuge von ’68 hochgejubelte These Fritz Fischers steht wackliger da denn je. Erinnert sei nur an das Buch Der falsche Krieg von Niall Ferguson (dt. 2001), der England als die kriegstreibende Macht herausstellt, und eben die Wilhelm-Biographie von Clark (engl. 2000). Ersteres ist Röhl keine Erwähnung wert, aus letzterem wird zitiert, wenn es um die Frage geht, ob Kanzler Bülow den Kaiser langfristig beherrschen konnte. Clark hingegen hält die Augen offen: „In der Literatur über diese Periode – und im allgemeinen, heutigen Bewußtsein – ist die verblüffende Tendenz zu beobachten, die Angelegenheit aus englischer Sicht zu betrachten, implizit die Vorstellung zu akzeptieren, daß die britische, koloniale Ausdehnung und die britischen Auffassungen vom Recht der Briten eine ‚natürliche Ordnung‘ bildeten, in deren Licht die deutschen Proteste [hier ist die Krüger-Depesche gemeint] offensichtlich mutwillige Provokationen waren.” Dieser nüchterne Blick auf die Dinge kann dann auch erkennen, daß Wilhelm II. am Ausbruch des Ersten Weltkriegs unschuldig ist, er ihn bis zum Schluß nicht gewollt hat.
Für die eigentlich selbstverständliche Feststellung Clarks, daß „erst der Kontext … einem Sprechakt eine bestimmte Bedeutung” verleihe und die „zugehörige Motivation” begreiflich mache, finden sich in dem Buch von Eberhard Straub (Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geiste der Moderne, Berlin: Landt 2008. 378 S., 34.90 €) schöne Beispiele. Wenn Wilhelm 1892 in das Goldene Buch der Stadt München schreibt: Der Wille des Königs sei das höchste Gesetz, meinte er nicht sich selbst, wie gern geglaubt wird, sondern er spielt auf die Situation in Bayern an, wo nach der Entmündigung Ludwig II. die Monarchie akut gefährdet war. Ingesamt handelt es sich bei Straubs Buch um einen polemischen Essay, der nicht die Spur eines Schattens auf die Persönlichkeit des Kaisers fallen läßt. Offenbar möchte der Autor mit einem möglichst brachialen Angriff in den antiwilhelminischen Konsens einbrechen, in der Hoffnung, am Ende der Auseinandersetzung eine Korrektur herbeigeführt zu haben. Straub sieht in den 25 Jahren vom Regierungsantritt Wilhelms bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs 1913 die großartigste Epoche, die Deutschland in seiner jüngeren Geschichte erlebt hat. In Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, auch in der Kunst gab es einen nie gekannten Aufschwung. Hinzu kommt, daß diese Ära sicher die Zeit der größten persönlichen Freiheit war, die es je gegeben hat. Das haben vor Straub schon andere festgestellt, etwa Golo Mann und Karl Jaspers, aber es ist in Vergessenheit geraten. Straub stellt den großen Anteil heraus, den Wilhelm II. an dieser Blüte hatte.
In Straubs Eloge wird noch etwas deutlich: Es handelte sich beim „Wilhelminismus” um ein eminent modernes Phänomen. Der Kaiser war kein Autokrat, aber eben auch kein „Frühstückspräsident”. Er war so etwas wie eine überparteiliche Instanz, die – als preußischer König von Gott als Kaiser wohl lediglich historisch legitimiert – den gesellschaftlichen Ausgleich herbeiführen wollte und oft auch konnte. Das System hatte die Vorzüge, die man heute an Präsidialdemokratien oder konstitutionellen Monarchien beobachten kann: Es hatte ein Zentrum, an dem der Parteienstreit ruhte (selbst die Sozialdemokraten machten da selten eine Ausnahme). Deutsch- land war ein junger Nationalstaat mit einem „Demokraten auf dem Thron” (Straub): Ohne den Reichstag konnte er nichts, gegen das Volk wollte er nichts unternehmen. Was seine Minister und Berater betrifft, war das Verhältnis von Fall zu Fall sehr verschieden. Der Kaiser hatte sicher so etwas wie eine „Richtlinienkompetenz”, doch die Richtlinie stand nicht fest und war von den Leuten abhängig, die „Zugang zum Machthaber” (Carl Schmitt) hatten – aber das war in England nicht anders. Deshalb ist eine These von Straub problematisch: Seiner Meinung nach haben die Bismarck- und später die Hindenburgdeutschen den Kaiser systematisch demontiert. Mit Blick auf die Alliierten, die den Krieg ja gewonnen haben, wird man dagegen zu der Einsicht gelangen müssen, daß der Kaiser zu „gut”, zu „deutsch”, zu „ehrlich” war, um diese Auseinandersetzungen gewinnen zu können. Das spricht vielleicht für den Menschen Wilhelm, sicher aber gegen den Kaiser.