Reich-Ranicki wird 90

Von dem Schriftsteller Helmuth Krausser stammt das Wortspiel "Reich-Radetzki". Es findet sich irgendwo in einem seiner...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Tage­bü­cher, in denen er über den Lite­ra­tur-Papst Mar­cel Reich-Rani­cki ohne jede Hem­mung her­zieht. Im Gedächt­nis geblie­ben ist mir noch das viel treff­li­che­re “Reichs­ra­nitz­ker” – es ver­höhnt die unge­heu­re Macht, die die­sem Kri­ti­ker zuge­wach­sen ist.

Heu­te nun wird Reich-Rani­cki 90 Jah­re alt. Über die Uralten nichts Böses, jedoch das Notwendige:

Daher dru­cke ich ein paar Sei­ten aus dem neu­en kapla­ken-Band von Thors­ten Hinz ab, Titel Lite­ra­tur aus der Schuld­ko­lo­nie. Schrei­ben in Deutsch­land nach 1945. Eigent­lich hät­te Hinz mehr als nur 96 Sei­ten Platz haben sol­len für sei­nen Über­blick, er ist wirk­lich ein her­vor­ra­gen­der Publi­zist mit einem beson­de­ren Ton.

Hinz hat das unheil­vol­le Wir­ken Reich-Rani­ckis unter ande­rem am Bei­spiel Gerd Gai­sers dar­ge­stellt. Das Bänd­chen erscheint Mit­te Juni.

Ein nicht weni­ger ekla­tan­tes Bei­spiel einer abge­würg­ten Kar­rie­re bie­tet der Schrift­stel­ler Gerd Gai­ser (1908 – 1976), der seit sei­nem Roman Die ster­ben­de Jagd von 1953 für ein knap­pes Jahr­zehnt eine Berühmt­heit war. Das Buch han­delt von einer an der Nord­see sta­tio­nier­ten Flie­ger­staf­fel im Zwei­ten Welt­krieg, die sich aus über­wie­gend jun­gen Män­nern zusam­men­setzt. Zuneh­mend des­il­lu­sio­niert, zynisch und an Hit­ler und am „End­sieg“ zwei­felnd, erfül­len sie den­noch den mili­tä­ri­schen Auf­trag. Ihr Eli­te­be­wußt­sein über­kreuzt sich mit der Ein­sicht, dem über­le­ge­nen Poten­ti­al des Geg­ners nichts Ent­schei­den­des mehr ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen: Eine Zwangs­la­ge, die sie als schick­sal­haft anneh­men und sto­isch aushalten.

Alfred Anderschs froh­ge­mu­te Kon­se­quenz, aus der abseh­ba­ren Nie­der­la­ge einen indi­vi­du­el­len Mehr­wert zu zie­hen, liegt die­sen Män­nern fern. Sie sind weder von Fana­tis­mus noch von der irri­gen Hoff­nung erfüllt, durch Stand­hal­ten das Unver­meid­li­che abwen­den zu kön­nen. Sie füh­len nur, daß die mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge auch das Ende der mate­ri­el­len und geis­tig-kul­tu­rel­len Lebens­welt bedeu­tet, die ihre his­to­ri­sche Iden­ti­tät geprägt hat und die kei­nes­wegs mit Natio­nal­so­zia­lis­mus iden­tisch ist. Noch jetzt, wo Deutsch­land und das NS-Regime durch den Krieg unauf­lös­lich mit­ein­an­der ver­schlun­gen sind und ihr gemein­sa­mes Ende sich ankün­digt, wäre eine Flucht nur die Beja­hung des Selbst­ver­lusts und der Unter­wer­fung und damit das Gegen­teil von Frei­heit. Hans Egon Hol­thusen schrieb vom „bis­her bes­ten deut­schen Kriegs­buch in Roman­form über­haupt“, das „auf ein­sa­mer Höhe“ ste­he. Ande­re Kri­ti­ker wie Gün­ter Blö­cker in der FAZ schätz­ten den Autor ähn­lich hoch ein.

In dem 1958 erschie­ne­nen Roman Schluß­ball hat Gai­ser das Bild einer Nach­kriegs­ge­sell­schaft gezeich­net, die sich mit dem Selbst­ver­lust arran­giert hat und ihn sogar fei­ert. In die­sem Buch sind die Figu­ren, Kon­stel­la­tio­nen und Kon­flik­te häu­fig sche­ma­tisch, doch sogar der 1963 aus der DDR in die Bun­des­re­pu­blik geflüch­te­te mar­xis­ti­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Star­kri­ti­ker Hans May­er äußer­te sich im Rück­blick „trau­rig“ über die rasche Ver­dun­ke­lung von Gai­sers Namen, ohne aller­dings eine schlüs­si­gen Grund dafür zu geben. Er deu­tet ihn nur an mit dem Hin­weis auf eine neue Gene­ra­ti­on von Lite­ra­tur­kri­ti­kern, die Blö­cker, Hol­thusen und Sieburg Kon­kur­renz mach­ten und all­mäh­lich an ihre Stel­le tra­ten. Schon 1956 war Hol­thus­ens Ein­fluß so tief gesun­ken, daß sei­ne eige­nen bel­le­tris­ti­schen und lyri­schen Ver­su­che kaum mehr beach­tet wurden.

Gai­sers Ver­schwin­den aus der lite­ra­ri­schen Öffent­lich­keit hat­te kei­ne qua­li­ta­ti­ven, son­dern lite­ra­tur­po­li­ti­sche Grün­de. Sei­ne Hin­rich­tung voll­zog sich in drei Etap­pen. Den ers­ten Schlag führ­te 1960 der zu Ein­fluß gekom­me­ne Wal­ter Jens mit dem Auf­satz „Gegen die Über­schät­zung Gerd Gai­sers“. Aus­drück­lich erklär­te er sei­nen Ver­zicht, aus „poli­ti­scher Feind­schaft“ Gai­sers „unse­lig-gehäs­si­ge Gedich­te aus dem Drit­ten Reich zu zitie­ren“, und stellt sie damit als Ouver­tü­re erst recht in den Raum. Er zitiert aus dem „Schluß­ball“ eine Pas­sa­ge, in der Gai­ser typi­sche Ver­tre­ter des Wirt­schafts­wun­der-Milieus cha­rak­te­ri­siert. Sie leben in „einem keim­frei­en, gut ent­staub­ten und bekömm­lich ven­ti­lier­ten Haus. (…) Was das Land her­gab, galt dort grund­sätz­lich als nicht genießbar“.

Das ist, leicht erkenn­bar, als Gleich­nis auf eine retor­ten­haf­te, ame­ri­ka­ni­sier­te Bun­des­re­pu­blik gedacht, ver­faßt aus der Per­spek­ti­ve eines Außen­ste­hen­den, der vol­ler Trau­er regis­triert, daß Deutsch­land kei­ne eigen­stän­di­ge geschicht­li­che Exis­tenz mehr ver­gönnt ist. Wal­ter Jens ist einer­seits viel zu sehr in den kri­ti­sier­ten Zusam­men­hang ein­ge­bun­den, als daß er aus ihm her­aus­tre­ten und die Argu­men­te Gai­sers auf­neh­men könn­te. Er hat das, das die Waag­scha­le der Macht sich zu sei­nen Guns­ten geneigt hat, auch gar nicht mehr nötig. Um den Ange­grif­fe­nen zu erle­di­gen, genügt inzwi­schen der Hin­weis, Gai­sers Gesamt­werk ste­he „im Zei­chen einer roman­tisch-völ­ki­schen Betrach­tungs­wei­se“. Jens reiht in sug­ges­ti­ver Wei­se sprach­li­che Miß­grif­fe – tat­säch­li­cher und ver­meint­li­cher – des Kri­ti­sier­ten anein­an­der, um zum Schluß zu kom­men, Gai­ser sei von allen bekann­ten Gegen­warts­au­toren „der schlech­tes­te Sti­list“: ein Will­kür-Urteil, wie sogar die Ver­dik­te ande­rer Gai­ser-Kri­ti­ker belegen.

Mit Sicher­heit führ­ten auch per­sön­li­che Res­sen­ti­ments Wal­ter Jens die Feder. Sein Dik­tum: Wenn Gai­ser „schlicht­weg erzählt, schei­tert er“, benennt des hoch­ge­bil­de­ten Rhe­to­rik­pro­fes­sors eige­nes Dilem­ma, der mit sei­nen bel­le­tris­ti­schen Ver­su­chen durch­weg erfolg­los blieb. Und was moch­te Jens, der aus gesund­heit­li­chen Grün­den vom Wehr­dienst frei­ge­stellt war, emp­fun­den haben, als er im Erfolgs­ro­man des Jagd­flie­gers Gai­ser über einen abge­schos­se­nen Pilo­ten las: „Ein Mann, der mit der­art furcht­ba­ren Wun­den noch einen Absprung bestan­den und das Boot unter sich gebracht habe, der habe mehr Leben beses­sen als andere.“

Drei Jah­re spä­ter hol­te Mar­cel Reich-Rani­cki zum leta­len Schlag aus. Der Auf­satz „Der Fall Gerd Gai­ser“ stellt im Titel einen direk­ten Zusam­men­hang mit dem „Fall Wolf­gang Koep­pen“ her: Der stief­müt­ter­li­chen Behand­lung des auf­rech­ten Koep­pen durch die eta­blier­te Lite­ra­tur­kri­tik, so die Insi­nua­ti­on, ent­spricht der unge­recht­fer­tig­ten Hofie­rung des faschis­to­iden Gai­ser. Im Gegen­satz zu Jens äußert er sich aner­ken­nend über des­sen Sprach­kunst, die ihn aller­dings des­to gefähr­li­cher mache. Reich-Rani­cki wid­met sich aus­gie­big Gai­sers 1941 ver­öf­fent­lich­ten Gedicht­band Rei­ter am Him­mel, um ihn als NS-höri­gen „Fana­ti­ker“ zu kenn­zeich­nen, der die deut­sche Nie­der­la­ge bedau­ert und die „ratio­na­le Aus­le­gung von Gescheh­nis­sen und Zusam­men­hän­gen“ ablehnt: eine For­mu­lie­rung, die Reich-Rani­ckis geis­ti­ge Abkunft aus dem Kanon des Sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus verrät.

Zwar klam­me­re Gai­ser die mora­li­sche Pro­ble­ma­tik und die Fra­ge nach der indi­vi­du­el­len Ver­ant­wor­tung nicht aus, doch beschrän­ke er sie auf „ober­fläch­li­che Akzen­te“. Er nimmt ihm übel, daß er auf expli­zi­te Selbst­an­kla­gen und Schuld­be­kennt­nis­se ver­zich­tet. Kri­tik an der Bun­des­re­pu­blik hält Reich-Rani­cki für legi­tim, doch bei Gai­ser sieht er sie aus der fal­schen Rich­tung kom­men, aus dem „Blut-und-Boden-Mythos“, wie er in schlich­ter, aber wirk­sa­mer und töd­li­cher Wei­se behaup­tet. Er pran­gert ihn direkt und indi­rekt als eli­tär, anti­se­mi­tisch, völ­kisch, ras­sis­tisch und anti­de­mo­kra­tisch an.

Als beson­de­rer Fre­vel Gai­sers erscheint ihm, daß er das 3. Reich und den Zwei­ten Welt­krieg im Mythos auf­he­be und in ihnen eine Wie­der­kehr des Immer­glei­chen ent­de­cke. Das ist der Kern des Kon­flikts: Wäh­rend die von Ador­no inspi­rier­ten Autoren und Lite­ra­tur­funk­tio­nä­re die Ansicht ver­tre­ten, zwi­schen 1933 und 1945 sei das welt­ge­schicht­li­che Kon­ti­nu­um auf­ge­sprengt wor­den, was eine beson­de­re, untilg­ba­re Schuld­qua­li­tät impli­zie­re, fügen sich für Gai­ser die­se Jah­re durch­aus in das mensch­heit­li­che Erfah­rungs­spek­trum ein, das im Mythos sym­bo­lisch aus­ge­formt ist. Im Voll­ge­fühl der Macht konn­te Reich-Rani­cki befin­den: „Sein Werk dient nicht der Wahr­heit.“ Es ist das Ver­dam­mungs­ur­teil eines Dog­ma­ti­kers, des­sen inqui­si­to­ri­sche Macht bald in unge­ahn­te Höhen anwach­sen sollte.

Ein Jahr spä­ter, 1964, ver­setz­te Karl­heinz Desch­ner unter der Über­schrift „Gerd Gai­ser, Schluß­ball“ dem Delin­quen­ten den Fang­schuß. Die mani­pu­la­ti­ve Sprach­kri­tik von Wal­ter Jens wird in Ver­nich­tungs­ab­sicht zuge­spitzt, wobei Desch­ner ein­räumt, daß Gai­ser ein bes­se­rer Erzäh­ler sei als Hein­rich Böll.

Doch Böll stieg trotz­dem zum reprä­sen­ta­ti­ven Dich­ter der Bun­des­re­pu­blik auf, wäh­rend Gai­ser der Ver­ges­sen­heit anheim fiel. Bei der Suche nach den Grün­den sieht man sich wie­der auf den Lite­ra­tur­be­trieb ver­wie­sen. Knapp 30 Jah­re spä­ter hat Reich-Rani­cki offen ein­ge­räumt, daß die Ver­nich­tung Gai­sers und die Schil­der­he­bung Hein­rich Bölls zwei Bestand­tei­le des­sel­ben Pro­jekts waren. „Nun genüg­ten Ana­ly­sen und Kri­ti­ken noch nicht, um Gai­ser als Gali­ons­fi­gur in Fra­ge zu stel­len, man muß­te eine ande­re Gali­ons­fi­gur vor­schla­gen.“ Er, Reich-Rani­cki, habe „das sei­ni­ge getan, um mit­zu­wir­ken bei der Schaf­fung einer ande­ren Gali­ons­fi­gur, die, ich will es offen sagen, ohne dem Ver­stor­be­nen ein Unrecht anzu­tun, nur eine Not­lö­sung war. Ich mei­ne Hein­rich Böll.“

(aus Thors­ten Hinz: Lite­ra­tur aus der Schuld­ko­lo­nie. Schrei­ben in Deutsch­land nach 1945, kapla­ken 20, Schnell­ro­da 2010, 96 Sei­ten, 8.50 Euro.)

Götz Kubitschek

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